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Kamenz erwartet den Messias

 

Unser Autor ist auf Lesereise in der Oberlausitz: Schnitzaltäre, Adenauer-Krempel, Westalgie im Osten und Angst vor Neuankömmlingen. Da helfen nur Pulsnitzer Pfefferkuchenspitzen. Das Fax der Woche

Ich bin der Wandermönch in schwarzer Kutte. Ich steige ein, ich steige aus, ich steige ein. Neue Stadt, neues Glück, fast jeden Tag. Mal verderbe ich den Menschen mit meiner Lesung den Abend; mal lieben sie meine Stimme und aber nicht mein Gesicht.

Ich freue mich bei jedem Auftritt: Auf der Bühne bin ich mich los, ich muss nicht bekennen noch behaupten, ich fahre als Geist in die Hauptfigur meines Romans. Reise in die Lessingstadt Kamenz in der Oberlausitz. Bin im Hotel Goldener Hirsch untergebracht, in dem Lessings Tauffeier stattfand. Trotte durch die Gassen, starre in die Schaufenster aufgegebener Krämerläden. Buttereinstrichpinsel aus DDR-Zeiten. Reliquien der Bolschewisten? Blödsinn. Volkes Handzeug.

Die Zeit ist in Kamenz nicht stehen geblieben. Keiner regt sich auf über ausgestellten Krempel aus der Adenauer-Ära. Westalgie wird gelobt, die Leute kriegen feuchte Augen. Was war das doch schön damals. War nicht schön, ist überwunden, ist Geschichte. Schöner Himmel über Kamenz. Bekomme zwei Papiertüten mit echten Pulsnitzer Pfefferkuchenspitzen geschenkt. Ich denke: Säet einer Gutes, so schneidet er nicht Böses, daran hält man sich hier.

Faksimile des Faxes von Feridun Zaimoglu
Faksimile des Faxes von Feridun Zaimoglu

Ein weiteres Geschenk: Führung durch die Klosterkirche Sankt Annen. Ich staune die fünf spätgotischen Schnitzaltäre an. Wer war die Heilige Anna? Sie war dreimal verheiratet, mit Joachim, Kleophas und Salomas. Aus der Ehe mit Joachim ging Maria hervor, die Mutter von Heiland Jesus. In dieser Kirche halte ich am Abend eine Rede, der Titel lautet: Der Messias wird kommen. Brennende Worte, im Furor vorgetragen. Habe ich die Gefühle der Christenmenschen verletzt? Höflicher Applaus, gnädige Aufnahme, keine bösen Blicke.

Ich sprach von der paulinischen Dichtkunst. Von der Verkehrung der Worte des Tagelöhners Joschua, der nicht lesen und schreiben konnte. Von seiner Überhöhung zum Weltenrichter durch die Priester. Ich erwarte ein theologisches Streitgespräch. Die Männer und Frauen auf den Kirchenbänken schreiben ihre Fragen auf Karteikarten. Ich erwarte die Frage: Herr Muselmann, was erfrechen Sie sich? Man fragt mich nach den Flüchtlingen. Theologie überlässt man den Theologen. Es ängstigt die Menschen nicht das kommende Gericht, nicht der Tag, da der Herr Schwefel regnen lässt auf die Häuser der Sünder. Sie fragen sich: Sind die Grenzen eingerissen? Werden wir überrannt und übermannt? Wer hört uns an und wer hört weg?

Nachts sitze ich auf dem Balkon und rauche. Die Kamenzer, sie sind gut, ich käme wieder gern hierher. Nächster Tag: Streckensperrung wegen Unwetterschäden, Ersatzverkehr. Sehe im Bus einem jungen Mädchen beim unverhohlenen Popeln zu. Es wird getadelt, weil es den Popel durch den Bus schnickte. Kein Tumult.

Einen halben Tag später fahre ich die letzten hundert Kilometer der Strecke. Zwei fromme Frauen auf den Nebensitzen meckern über ihre kleingläubigen Männer: Sie schlafen sonntags aus, statt zum Gottesdienst mitzugehen. Die Frau mit dem roten breitkrempigen Filzhut bedauert sie, ihre Seelen würden vom Erzengel Michael gewogen und für leicht befunden werden. Die Frau ohne Hut bekreuzigt sich. Sie starrt mich an – hält sie mich für einen Dämon, der die große lange Zunge entrollt und ihr Gesicht mit Höllenseim benetzt? Nein. Die Damen haben über mich eine schmale Spalte auf der vorletzten Seite des Regionalblatts gelesen. Sie bitten mich um Auskunft. Ich sage: Darauf liegt ein Schleier… Mist, falsche Wortwahl, sie sind verwirrt. Ich biete ihnen echte Pulsnitzer Pfefferkuchen an. Dame mit Hut will wissen, ob es moslemisches Gebäck sei. Nach kurzem Zögern leert sie die Tüte.

Wir einigen uns darauf, dass der Messias kommen wird. Sie sind enttäuscht darüber, dass sie mir keine genauen Angaben entlocken konnten. Wir hoffen. Wir zünden Kerzen an, beten an Schreinen, rufen Fürsprecher an, wir machen Wallfahrten zu Heiligtümern. Wir hoffen. Glaube ist der helle Schatten der Seele. Er ist der dunkle Trieb. Kommt er oder kommt er nicht, wir ziehen am Rosenkranz. Und warten.

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