Wenn Menschen wegen ihrer Religion ihr Zuhause verlieren, kann etwas nicht stimmen. Findet man Geborgenheit tatsächlich im Glauben oder helfen in Berlin auch Currywurst und Sechs-Tage-Rennen?
Der Sommer ist vorbei, das ist ganz offensichtlich, jedenfalls in Berlin. Alle sind zurück, und es gibt kein Durchkommen mehr am Landwehrkanal oder am Nollendorfplatz. In der Uhlandstraße ist es aussichtlos, in welche Richtung auch immer abzubiegen. Überall Stau, alles eine riesige Baustelle: „Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr…“ Haben sie alle plötzlich Rilke gelesen? Aber ich will nicht klagen: „Der Sommer war heiß und lang.“
Trotzdem überkommt mich immer eine leichte Wehmut, wenn die Zugvögel kreischend über den Innsbrucker Platz nach Süden ziehen. Ich will mit. Das geht natürlich nicht, ich weiß zwar nicht genau warum, aber es geht wohl nicht.
Ein weiteres Indiz dafür, dass es vorbei ist mit der Sommerfrische, war wieder mal der Tag der Deutschen Einheit. Kein Sender, der nicht darüber berichtet hat. Man könnte meinen, die Mauer sei gestern gefallen. Je länger das Ereignis zurückliegt, desto emsiger wird darüber geredet, das Wort der Stunde heißt: „Heimat“.
Auch ich werde in diese Suche mit eingebunden. Keine Lesung, auf der nicht eine Zuhörerin mich fragt „Und was ist Ihre Heimat?“
Sofort werde ich krätzig. „Heimat, ein überbewerteter Begriff!“, antworte ich pampig. Hinterher im Hotelzimmer frage ich mich regelmäßig, ob das daran liegt, dass ich keine Heimat habe. Oder zu viele Heimaten? So es überhaupt einen Plural von „Heimat“ gibt.
Ich habe Standardantworten, als da wären: Heimat ist „da wo meine Freunde sind“, „da wo ich arbeite“, oder an guten Tagen: „Berlin“. Ja, Berlin kann Heimat sein. Man kann in München zehn Jahre leben, man bleibt „oon Ongereista“. Wenn man nicht in dritter Generation in Hamburg ansässig war, ist man kein Hamburger.
Aber es reicht ein Tag, und man fühlt sich als Berliner, ja man ist sogar einer. Das berühmteste Beispiel ist der junge Mann, der vor dem Rathaus Schöneberg stammelte: „Ick bin ein Berliner.“ Er war gerade mal 24 Stunden in der Stadt.
Gebürtige Berliner gibt es auch. Gar nicht mal so selten. Sie kommen aus Bezirken wie Staaken oder Lichtenrade. Sie berlinern, was das Zeug hält, sind aber ansonsten ganz nett. Das Sechs-Tage-Rennen verbuche ich unter Heimat, dicht gefolgt vom Berliner Marathon. Viele Berliner verfolgen mit Kind und Kegel ihre Radsporthelden oder trommeln an den großen Kreuzungen für die 40.000 Läufer, die sich der Strapaze des Laufes aussetzen. Es gibt Currywurst und Berliner Weiße, beides schmeckt ganz ähnlich, und dann gehen alle glücklich und halb taub wieder nach Hause.
Man kann in Berlin an einem einzigen Tag mindestens drei unterschiedliche Sorten Heimat erleben.
Manchmal ist meine Religion meine Heimat. Besonders an den Hohen Feiertage im Herbst: Rosch ha Schana (Neujahr), dicht gefolgt von Jom Kippur (Versöhnungstag), um dann gleich von Sukkot (Laubhüttenfest) abgelöst zu werden. Früher in der Grundschule hatten die Kinder praktisch gleich nach den Sommerferien zwei Wochen frei, und ich habe mich immer gefragt, wie das gehen soll: Wie will man das auserwählte Volk sein, ohne lesen und schreiben zu können?
Ich bin eine absolut assimilierte Jüdin, was heißt, dass ich eigentlich nur die wirklich großen Feiertage begehe, (also so, wie andere Leute Weihnachten und Ostern feiern. Den Rest des Jahres arbeiten sie, fahren in die Ferien und kümmern sich nicht um das Thema).
Aber die Hohen Feiertage sind mir heilig, ich freue mich auf die erwartungsvolle Stimmung in den Synagogen, auf das Blasen des Schofar, des Widderhorns zu Rosch ha Schana und natürlich darauf, alle wiederzusehen. Manchmal mache ich Synagogen-Hopping , die Gottesdienste und Gebete dauern lang genug, um von Synagoge zu Synagoge zu kommen und alle zu treffen.
Dieses Jahr ist alles anders, ich fremdele mit meiner Religion. Mit Religion allgemein, die zunehmende Orthodoxie allerorten macht mir zu schaffen. Wenn Menschen wegen ihrer Religion ihre Heimat verlieren, kann schon etwas nicht stimmen. Außerdem sträube ich mich gegen reaktionäre Strömungen, die Frauen klein halten oder die Kriege und Massaker brauchen, um gehört zu werden – und damit meine ich, weiß Gott, nicht nur die Muslime, unsere orthodoxen Siedler sind auch nicht gerade zimperlich.
Also habe ich dieses Jahr Rosch-ha-Schana-Mails und -SMS versandt mit herzlichen Wünschen und heiteren Bildchen, bin aber der Synagoge ferngeblieben, und das Eintauchen des Apfels in Honig habe ich familienintern an unserem Küchentisch erledigt.
„Jom Kippur“, so der Rabbi, „ist der Tag, an dem wir über unser persönliches Leben und unser Leben in der Gemeinschaft Rechenschaft ablegen. Wir prüfen unsere Taten, wo wir geirrt haben und wo wir etwas korrigieren müssen.“ Was soll man zu so einer Aufgabenstellung sagen? Damit fange ich erst gar nicht an, sonst bin ich in einem Jahr nicht durch. Wer zahlt inzwischen die Miete? Ich lebe ja nicht in Israel, wo der Staat für die Betenden aufkommt, während diese sich von Gebet zu Gebet hangeln, ohne diesen Zustand ernsthaft infrage zu stellen.
So hatte ich dieses Jahr beschlossen, an Jom Kippur weder zu fasten noch zu beten, sondern den ganzen Versöhnungskram den Weisen zu überlassen, und bin gegen Mittag ins Kino gegangen. Ob Gott mit meiner Programmwahl einverstanden gewesen wäre?
Der Film hieß Son of Saul, kam aus Ungarn und hatte in Cannes den Grand Prix du Jury gewonnen, na, so schlecht konnte er nicht sein.
Nein, der Film war nicht schlecht, der Film war sogar brillant. Aber der Film zeigte 107 Minuten das Sonderkommando in Auschwitz. Und zwar so, wie ich es noch nie gesehen habe, und ich habe schon eine Menge gesehen.
107 Minuten hörte ich eine Tonspur, die nichts ausließ, ich hörte viel mehr, als ich sah. Menschenmassen, die in einen Keller getrieben wurden, ich hörte beruhigende Stimmen, die sagten: „Schön, dass Sie da sind, nach dem Duschen melden sie sich bitte bei uns, wir können Schreiner und Techniker, Krankenschwestern und Lehrerinnen hier gut gebrauchen.“ Und dann sah ich Saul, sah, wie er hörte: Die Duschen, die Schreie und dann die Stille. Das sah ich immer wieder. Dazwischen wurde der Boden geschrubbt, das verräterische Blut beseitigt, und alle hatten immer den Blick gesenkt und entsetzliche Angst. Leichen schleppte Saul, und einheizen musste er, und noch andere grässliche Tätigkeiten erledigen. Sehen tat ich vor allem das Gesicht Sauls in dieser Hölle, aus der weder er noch ich entkommen konnten. Und dann wollte Saul ein totes Kind würdevoll beerdigen, aber das ist eine eigene Geschichte.
Es war ein Debütfilm. Ich weiß nicht, was diesen jungen Menschen befähigt hat, einen derart radikalen Film zu machen. Warum er es getan hat, kann ich nur vermuten. Ich hatte zum ersten Mal eine konkrete Ahnung, wie es wohl zugegangen sein muss, dort unten, zwischen Rampe, Duschen und Öfen.
Am frühen Nachmittag kam ich raus ans Licht. Die Synagoge Joachimsthaler Straße war nicht weit.
Heimat? Poröse Wirklichkeit, dachte ich. Dachte an den Eltern-Lehrer-Chor des humanistischen Gymnasiums, der zwei hebräische Gesänge einstudiert hatte zu den Hohen Feiertagen. „Den gefallenen Gymnasiasten, den Toten zum Gedenken, den Lebenden zur Mahnung“ stand auf einer Eichenholzvertäfelung direkt über den Köpfen der begeisterten Sänger. Sie meinten es gut, glaube ich.
Verlage wünschten ihren jüdischen Autoren ein glückliches und gewinnbringendes neues Jahr. Sie meinten es auch sehr, sehr gut.
(Aber mir war alles egal, die Vergangenheit hatte mich wieder einmal lähmend eingeholt.)
Es war gerade eine Gebetspause in der großen Synagoge, müde Beter hatten ihre Köpfe auf die Tische gelegt, den Gebetsschal als Decke. Der Rabbi schlief, die Füße auf dem Nebenstuhl, den Mund weit offen. Eine schwebende Ruhe, ein paar Frauen in Weiß flüsterten sich leise Kochrezepte zu, sie hatten Hunger. Noch vier Stunden, dann wäre Fastenbrechen, der Jom Kippur vorbei, dann wären die Sünden getilgt, neue könnten begangen werden.
Ich denke, anders zu sein, aber im Grunde sehe ich genauso aus wie alle anderen Frauen hier, mit wilden Locken und dunklen Augenringen. Ich fiel nicht weiter auf, in meiner Ecke, war unendlich müde, mein Kopf fiel auf die Seite, und ich schlief ein.
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