Das größte Problem mit unserer Sexualität entstand, als plötzlich die Romantik dazu kam. Wenn man das seinem Hund erklärt, was sagte er wohl dazu?
Adele, komm mal her! Mach Sitz! Und hör gut zu. Heute erkläre ich dir die Sexualität.
Hm. Das wird jetzt hoffentlich nicht zu heikel. Die Sexualität sollte dir eigentlich besser dein Frauchen erklären. Aber jetzt habe ich nun mal diesen Job übernommen, und das ist vielleicht auch gut so. Tun wir eben was gegen diese alten Geschlechterrollenzuweisungen.
Außerdem bist du schließlich kein heuriger Hase mehr, wenn ich das so sagen darf. Oder konkret gesprochen: Du hast schon diese zwei, drei Wochen im Jahr kennengelernt, in denen die Herren Hunde jeglicher Rasse sich so nachdrücklich für dich interessieren. Nicht wahr? Die kriegen dann so einen stieren Blick und wollen unbedingt Nachlaufen spielen, aber ganz anders als sonst. Ich weiß noch: Anfangs hat dich das sehr überrascht, und du warst ziemlich überfordert. Mittlerweile kannst du dich recht gut dagegen wehren.
Allerdings gibt es in diesen Wochen auch ein paar Tage, an denen ich spüre, dass du versucht bist herauszukriegen, was passieren könnte, wenn du einfach mal stillhalten würdest. Was dann tatsächlich passiert, wirst du allerdings nie erfahren. Jedenfalls nicht solange Herrchen oder Frauchen da sind, um rechtzeitig einzuschreiten.
Nun guck nicht so! Für sieben oder acht kleine Labradorwelpen haben wir weder Platz noch Zeit. Ach, und außerdem wollte ich gar nicht über deine hündische Familienplanung sprechen, sondern dir erklären, wie die Sexualität bei den Menschen funktioniert.
Dazu musst du Zweierlei wissen. Erstens: Menschen haben nicht nur diese gewissen Wochen im Jahr, sondern sind die meiste Zeit ihres Lebens 24 Stunden am Tag und 7 Tage in der Woche in sexueller Hinsicht aneinander interessiert. Das klingt stressig? Ja, ist es allerdings.
Und es kommt noch ein Zweitens hinzu: Das sexuelle Interesse der Menschen aneinander mag gelegentlich sozusagen in Reinform auftreten, aber häufig ist es auf eine höchst komplizierte Art und Weise vermischt mit anderen Gefühlen, Wünschen und Absichten. Klingt kompliziert? Und wie!
Fangen wir beim Erstens an, dem 24/7-Interesse des Menschen am Sex. Damit es in dieser Beziehung nicht zu gänzlich zügellosen Aktionen und unkontrollierbaren Verhältnissen kommt, haben die Menschen im Zuge ihrer gesellschaftlichen Entwicklung verschiedene Verfahren und Regeln entwickelt und erprobt, um das sexuelle Interesse und die damit verbundenen Aktivitäten zu ordnen und zu organisieren. Bis heute weit verbreitet ist das Prinzip, jedem Menschen dauerhaft nur einen Sexualpartner zuzuordnen, beziehungsweise zu erlauben. Das Verfahren heißt Monogamie und gilt, zumindest in der Theorie, als gute Lösung. Es soll nämlich sicherstellen, dass durch die Konzentration des sexuellen Interesses auf jeweils eine Person Zweierbeziehungen entstehen, die neben dem Gewinn von körperlichem Spaß auch der gegenseitigen Versorgung, dem gegenseitigen Schutz sowie der gemeinsamen Aufzucht und Pflege von Welpen, Pardon!, Nachkommenschaft dienen. Solche Beziehungen heißen Ehe; sie dauern vertragsgemäß, bis der Tod sie scheidet, sie können allerdings auch früher enden. Darüber müssen wir später mal gesondert reden.
Nun ist es allerdings nicht so, dass mit dem Eintritt in eine Ehe die Sexualität der Menschen total befriedigt und gewissermaßen von der Straße geholt wäre. Mitnichten! Denn es sind nicht alle verheiratet, und selbst bei denen bleibt eine gute Portion, sagen wir: frei flottierenden Begehrens übrig. Und zwar genug, um Tag für Tag viel Aufregung, Unrast und auch Streit im Büro auszulösen.
Daher haben sich die Menschen auch hier bemüht, eine Abhilfe zu schaffen, und zwar durch die sogenannte Sublimierung. Das bedeutet nichts anderes, als dass man Tätigkeitsbereiche schafft, die zwar nicht unmittelbar sexuell sind, aber auf die ein oder andere Art und Weise mit der Sexualität in Verbindung stehen. So kann man zum Beispiel, statt einen Menschen zu berühren, einen Menschen malen; man kann eine Geschichte über die Liebe zu einem Menschen schreiben oder ein Auto konstruieren, das ungefähr wie ein Mensch geformt ist oder wenigstens so, dass ein Mensch, meistens übrigens eine Frau, in begehrensrelevanter Pose auf der Kühlerhaube platziert werden kann.
Das alles sind Sublimierungen, und wenn ich sämtliche aufzählen sollte, liebe Adele, wäre ich morgen Nachmittag noch nicht fertig. Merke dir einfach, dass es im Menschenleben so gut wie gar nichts gibt, das nicht irgendwie mit der Sexualität korrespondieren könnte. Wobei jetzt mal undiskutiert bleiben soll, ob das eigentlich hilfreich ist oder nicht.
Dafür kommen wir jetzt zum Zweitens, und da wird’s gleich noch vertrackter. Der größte Kuddelmuddel ist nämlich in die Sexualität des Menschen gekommen, als vor etwa zweihundert Jahren die romantische Idee geboren wurde, dass sie, die Sexualität, nur im Verbund mit der sogenannten Liebe stattfinden dürfe. Vorher waren die Leute Jahrhunderte lang zumeist von ihren Eltern zu Paaren getrieben worden. Jetzt hingegen mussten sie umständlich höchstpersönlich herausfinden und begründen, warum es nur dieser oder diese eine sein durfte und niemand anderes.
Teufel, Adele, eigentlich müsste ich dir jetzt zuerst die Liebe erklären, doch dafür habe ich heute nicht die Zeit. Und eigentlich kann das auch keiner so richtig. Das heißt, es wird zwar immer wieder versucht, aber man kommt damit zu keinem Ende. Du, Adele, stellst dir die Liebe vielleicht am besten als deine Beziehung zu deinem Futter vor und die erfüllte Liebe als das Gefühl, das du letzten Dienstag hattest, nachdem ich unvorsichtigerweise den Futtereimer hatte offenstehen lassen.
Die Parole, dass Sex ohne Liebe pfui sei, entbehrt nun zwar immer noch des wissenschaftlichen Beweises; aber einmal in der Welt, war sie nicht mehr aus den Köpfen der Menschen zu bringen. Was nichts anderes bedeutet, als dass das körperliche Begehren, das in der Regel nach ziemlich schlichten Regeln funktioniert und sich an eher eindeutigen Zeichen orientiert, mittlerweile untrennbar vermischt ist mit den kompliziertesten Gefühlen, die ein Mensch überhaupt haben kann.
Stell dir vor, Adele: Auge und Nase (und vielleicht auch der Tastsinn) senden angesichts eines anderen Individuums die klare Botschaft ans Hirn: Supersexy! Auf sie/ihn mit Gebrüll!, während zugleich das Ohr vermeldet, sie/er sondere unerträgliche Blödheiten ab und man möge bitte sofort die Flucht ergreifen. Was für ein Durcheinander!
Tatsächlich ist dergleichen Durcheinander im sexuell geprägten Kontakt der Menschen untereinander heutzutage eher die Regel als die Ausnahme. Man findet einander liebenswert, aber zu rund an den Hüften, oder gut gebaut, aber leider ständig schlecht gelaunt. Eine schiefe Nase beißt sich mit einem sonnigen Gemüt; gemeinsame Hobbys und Leidenschaften werden durch Sommersprossen, nächtliches Schnarchen oder die Vorliebe für zwiebelhaltige Speisen aufs Schwerste beschädigt.
Und nun glaub es oder nicht, Adele, diese höchst problematische Gemengelage von Liebe und Sexualität hat mittlerweile dazu geführt, dass immer mehr Menschen hierzulande ihren eigenen Wahrnehmungen bezüglich des erwünschten Geschlechts- und/oder Liebespartners überhaupt nicht mehr trauen. Statt wie früher in Kneipen zu sitzen und sich – metaphorisch und unmetaphorisch gesprochen! – ausgiebig zu beschnüffeln, speisen sich die Leute lieber in große Datenbanken ein und lassen sich von einer Software verkuppeln, der sie mehr trauen als ihren Gehirnen. Das soll dann Zeit, Kraft und Enttäuschungen einsparen. Auf den Litfasssäulen am Straßenrand werden übrigens die Erfolgsquoten dieses Verfahrens ständig veröffentlicht; und die sind so enorm, dass man sich beinahe schämen muss, wenn man seinen Lebens- und Sexualpartner noch auf die ganz alte, analoge Art und Weise abgeschleppt hat. Solche Leute gelten heute fast schon als blauäugig oder blind.
Und jetzt fragst du dich, Adele, wohin soll das führen? Das frage ich mich auch! Vielleicht bekommen wir demnächst einen roll back, und wegen allgemeiner Überforderung werden die Partner wieder von den Eltern verkuppelt oder ausgelost. Der Sex wird pharmazeutisch auf ein paar Wochen im Jahr und auf die Fortpflanzung reduziert, na, und die Liebe kann sich dann ausschließlich auf Kunstwerke und Autokarosserien konzentrieren. Aber das werde ich zum Glück nicht mehr erleben.
Und über Welpen reden wir demnächst noch mal in Ruhe.