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Der Syrer meiner Mutter

 

Wie fremd muss für den Vater das bayerische Dorf gewesen sein, als er 1958 aus Syrien kam. Über die heutige Unbarmherzigkeit Flüchtlingen gegenüber würde er verzweifeln.

Der Syrer meiner Mutter tauchte Ende der fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts auf und blieb bis zum März 2012. Dann starb er. In der Zeit davor lebte er als Ausländer unter Bayern. Manchmal stieg er in ein Flugzeug und reiste nach Spanien, Amerika, Kanada, Südafrika, in ferne Länder, wo er ein Ausländer war wie jeder andere. Was er wohl dachte, wenn er wieder zurückkam in sein bayerisches Dorf, zu den Menschen mit dem schwer verständlichen Dialekt? Um eine Antwort auf diese Frage zu bekommen, hätte man ihn kennen müssen. Kannte ich den Syrer meiner Mutter?

Sollte man meinen.

Trifft aber nur bedingt zu.

Was war geschehen? Rückblende: Um das Jahr 1945 herum, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, zogen Karawanen entwurzelter Menschen durch Europa, auf der Suche nach einer Herberge. Ihre Elternhäuser lagen in Schutt und Asche, Freunde und Angehörige hatten im Bombenhagel, an der Front, im Schützengraben ihr Leben verloren, ausländische Mächte die Kontrolle über das Land übernommen. Hunger und Elend bis zum Horizont. Was blieb ihnen übrig als zu fliehen, mit nichts als ein paar Habseligkeiten, ohne Gedanken an die Strapazen, die auf sie warteten, Hauptsache weg, in eine ferne, große Freiheit. So strandeten Abertausende dieser Kriegsflüchtlinge auch in Süddeutschland, in Oberbayern, in einem kleinen Dorf sechzig Kilometer südlich von München. Ihre letzte Station war Kufstein in Österreich gewesen, von dort wurden sie auf das Nachbarland verteilt, und ein Finger des Schicksals zeigte genau auf den Ort am Alpenrand, wo niemand unbedingt auf Schlesier oder Sudetendeutsche wartete. Trotzdem: Häuser wurden errichtet – mehr Baracken als heimelige Wohnstätten –, in der Maschinenbaufabrik, in der Reißverschlussfabrik, in den wenigen Gasthäusern, auf den Bauernhöfen und im einen oder anderen bescheidenen Familienbetrieb standen manche der Neuankömmlinge nach einiger Zeit in Lohn und Brot.

Allmählich gewöhnte sich die Landbevölkerung an die Fremden – immerhin benutzten sie weitgehend dieselbe Sprache –, man kam sich näher, Beziehungen entstanden, Kinder kamen auf die Welt.

Eines von ihnen war ich.

Das war später.

Erst einmal besuchte meine Mutter mit ihren Geschwistern die Volksschule, schloss Freundschaften, galt als halbwegs integriert. Natürlich blieb eine Schlesierin eine Schlesierin, zumal der örtliche Dialekt nie in ihrer Stimme ankam – wie übrigens auch nicht in den Stimmen aller anderen Flüchtlinge, die bis weit in die sechziger Jahre hinein immer noch Flüchtlinge hießen. Das störte niemanden. Das Wirtschaftswunder erreichte auch das Voralpenland, die Dörfler lebten vom Tourismus, sommers wie winters, neue Wirtshäuser und Pensionen mit sogenannten Fremdenzimmern entstanden, Wanderwege, Seilbahnen wurden gebaut, Skilifte und Spaßbäder. Und im Windschatten all des kommerziellen Unterhaltungs- und Vergnügungstrubels eröffnete auf einem Hügel am Dorfrand ein Goethe-Institut.

Ein Goethe-Institut? In einem 4000-Einwohner-Kaff? Warum? Für wen? Und wer sollte da kommen und …

… und womöglich bayerisch lernen?

Wer? Ganz einfach: lauter „wunderbare Neger“ – um den herzigen Ausdruck eines bayerischen Innenministers zu gebrauchen, oder – um ein Idiom von Peter Handke zu entfremden: lauter Andershäutige. Und, o Wunder: Diese jungen Leute, Studenten allesamt, vornehmlich aus Afrika und dem Nahen Osten, verhielten sich tatsächlich wunderbar. Bald beherrschten sie die deutsche Sprache besser als die meisten Einheimischen und die Mitglieder der Staatspartei, sie mischten sich ins Dorfleben ein, indem sie neben ihrem Studium in Geschäften oder Restaurants aushalfen, und viele von ihnen wohnten zur Untermiete bei örtlichen Familien. Eine Win-Win-Situation für alle Beteiligten.

Sudetendeutsche, Schlesier, Schwarze, Hellhäutige, Dunkelhäutige, ein babylonisches Sprachengewirr, das einen einzigartigen Klang erzeugte, wundersam eingebettet ins tägliche Glockengeläut der katholischen und evangelischen Kirche, in die Aufmärsche der Blaskapellen und das Donnern der Gebirgsschützen an besonderen Feiertagen. Und an einem Sonntagnachmittag im Frühjahr 1958 – im traditionsreichsten Gasthaus des Ortes wurde zum allwöchentlichen gemütlichen Beisammensein für jedermann geladen – erschien der Syrer meiner Mutter auf der Tanzfläche.

Was dann passierte, sollte niemanden etwas angehen, von meiner prosaischen Warte aus möchte ich jedoch Folgendes zu Protokoll geben: Zwei Fremde zeugten in der Fremde einen Einheimischen, mit Dialekt und Lederhose und einem Talent als Torwart, was mir in einer Gegend, wo die Schlachtfelder unverarbeiteter Aggressionen und unheimlicher Abartigkeiten Bolzplätze heißen, in gewissem Sinn das Überleben sicherte. Auch wenn ich nicht gerade wie ein N … ein Andershäutiger aussah, glich meine Haut doch stark jener des Syrers meiner Mutter und weniger der ihren.

So einheimisch ich mich gab und auch fühlte – die Buben ringsum wussten genau, wessen Blut in mir floss. Und Blut ist dicker als Kuhfladen. Sie wussten, dass ich nicht wirklich zu ihnen gehörte, und ich widersprach ihnen nicht. Je älter ich wurde, desto häufiger versiegte mein Dialekt, desto schweigender füllte ich meine Paraderolle als Torhüter aus, und ich fiel vielleicht nur deswegen nicht auf, weil ich mindestens so viel Bier vertrug wie die Söhne ihrer saufenden Väter.

Der Syrer meiner Mutter trank selten Alkohol. Er aß gern, auch Schweinefleisch in allen Variationen, er sprach keine Gebete auf ausgebreiteten Teppichen. Nachdem er sein Studium der deutschen Sprache und der Medizin beendet hatte, tat er etwas Ungeheuerliches: Er blieb. Nach dem Wunsch seiner Eltern im fernen Damaskus hätte er eigentlich zurückkehren und dort seinen Beruf ausüben sollen, eine Familie ernähren, in der Nähe seiner Brüder und Schwestern und der gesamten Familie bleiben. Tat er nicht. Heiratete meine Mutter, gab mir seinen Namen, arbeitete in einem Krankenhaus, eröffnete eine Praxis, wurde Landarzt. Inmitten all der Fremden. Und wenn eine Krankheit ihn nicht gezwungen hätte, seine Tätigkeit vorzeitig zu beenden, er hätte bis zum Tod jedem einzelnen Patienten so lange zugehört, bis er erkannte, was ihm fehlte, und wenn es nur das Zuhören war. Dem Syrer meiner Mutter war ein Menschenleben heilig, unabhängig von Alter, Geschlecht und Religion, er erfüllte seinen Auftrag mit Hingabe, Verständnis und Geduld. In den eigenen vier Wänden schwieg er meist. Er behielt sogar seine Muttersprache für sich – außer wenn er mit „Zuhause“, wie er immer sagte, telefonierte. Da hörte ich ihn sprechen im Nebenzimmer, und seine Stimme klang fremd und stark und sanft und wie Gesang. Hinterher verlor er kein Wort darüber. Ich fragte ihn nie, warum er mir nicht Arabisch beigebracht hatte. Meine Frage, fürchtete ich, hätte ihn beschämt.

Er war ein großer Mann. Ich kannte ihn kaum, obwohl er fast achtzig Jahre alt wurde und wir uns regelmäßig trafen. Dann warf er, wenn er glaubte, unbeobachtet zu sein, einen Blick auf seine Uhr, weil er fürchtete, die Zeit würde wieder viel zu schnell vergehen, und ich müsste gleich wieder los. Und so war es ja auch meist.

In diesen Monaten nun, in denen viel zu viele deutsche Menschen, denen das Selbstwertgefühl abhandenkam, Fremden und Flüchtlingen mit dumpfer Gehässigkeit und Gewalt begegnen, und die in Anfällen irrealer Verbitterung gegen Politiker, freiwillige Helfer und Boten der Nächstenliebe hetzen, hätte ich den Syrer meiner Mutter gern gefragt, ob er es heute bereuen würde, in diesem Land geblieben zu sein.

In den Nächten höre ich ihn manchmal weinen über sein zertrümmertes Heimatland und die Millionen seiner Landsleute, die mit nichts am Leib vor Bomben, Terror und Armut flüchten müssen und auf der Suche nach einer Herberge, wenn das Unglück es will, den unbarmherzigen Nachkommen jener Menschen begegnen, die sich seiner einst wie einem andershäutigen Bruder erbarmten und ihn sein ließen, wie er war. Ali sagten sie zu ihm, denn das war sein Name, und sie hatten keine Angst vor ihm. Und er hatte keine Angst vor ihnen, nicht einmal vor ihren Hunden.

Wie lang mag das her sein?

Und zum Schluss ein Gedicht:

 

Die Ankunft des Menschen

 

Fremd bist du, fremd

im traumlosen Land.

Es trägt ein warmes Gewand

und du ein blutiges Hemd.

 

Fremd bist du, alt,

wir kennen dich nicht.

Du hast ein dunkles Gesicht

und deine Hände sind kalt.

 

Schwieriger Fall,

zur Unzeit auch noch.

Am Sonntag ruhen wir doch

noch vom Wochentagsball.

 

Wer bist du, wer?

Was willst du von mir

in meinem Heimatrevier

und schaust so weltkundig her.

 

Mensch willst du sein?

Wie wir in der Welt?

Dass jemand Liebes dich hält?

Umarmt und nie mehr allein?

 

Fremd bist du, du.

Ich trau mich nicht recht.

Sind wir vom selben Geschlecht?

Mir scheint, du winkst immerzu.

 

Kindlein, so klein,

ein Wesen aus Haut

und Furcht, uns allen vertraut,

und mutterseelenallein.

 

Schwarz sei dein Haar

und schwarz sei dein Blick.

Wir jagen niemand zurück

zum Tod im Leichenbasar.

 

Welt heißt Asyl.

Geburt heißt Asyl.

Ein jedes Haus heißt Asyl.

Ein jedes Wort ist Asyl.

 

Hier bist du Wir,

so fremd wie wir auch,

wir alle, damals im Bauch.

Willkommen, Bleiben ist Hier.

 

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