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Zu viel Wahrheit schadet der Gesundheit

 

Allein der Glaube? Allein die Schrift? Oder doch lieber katholisch? Religionsstreitigkeiten führen zu nichts. Lernen wir lieber, Verantwortung füreinander zu übernehmen.

© Johannes Simon/Getty Images
© Johannes Simon/Getty Images

Meine Freundin Thea will gut vorbereitet sein auf das Luther-Jubiläum im nächsten Jahr, deshalb hat sie sich schon mal in dessen Thesen vertieft, leider derart gründlich, dass man nicht einmal mehr in die Sauna mit ihr gehen kann. Sie spricht zunehmend in Versen: Allein durch Gnade, allein durch Glauben, allein durch die Schrift ­­­– ich aber will nicht „allein“, sondern mit ihr, und so nehmen die Missverständnisse ihren Lauf.

Ein Regiekollege von mir hat jüngst behauptet, nur die katholischen Schauspieler würden wirklich etwas taugen, die evangelischen seien zu verklemmt, zu moralisch, körperlos. Woran das liege? Er sage nur: „Transsubstantiation“. Ich kann dieses Wortungetüm noch mal nicht aussprechen, er fährt munter fort: Bei den Katholiken sei beim Abendmahl der Körper präsent, anwesend: „Dies ist der Leib Christi.“ Und nicht nur eine labbrige Oblate als Zeichen: „Dies bedeutet: der Leib Christi.“ Die katholischen Schauspieler würden folglich auch ihren Körper und ihre dramatische religiöse Ausbildung ins Theater tragen, das mache sie interessanter, zwiespältiger, dreckiger, na eben all das, was Körper und Unmoralität mit sich bringen.

Kabarettistin Désirée Nick zum Beispiel habe katholische Theologie studiert und sei weit entfernt von jeder Art von Verklemmung.

Eine gewagte These, ich maße mir da kein Urteil an. Ich spiele ja als Jüdin praktisch sowieso in einer anderen Liga. Für mich sind sowohl Katholiken als auch Protestanten Christen, und in jeder Kirche, ob katholisch oder evangelisch, ist es weitaus stiller und andächtiger, als es je in einer meiner Synagogen war.

Nun gut, bei den einen stehen auch Frauen vorne und predigen, sogar auf Deutsch, wie bei uns in den Reformierten Synagogen, bei den anderen sind die Gebetshäuser von überbordender Ausstattung, was Malerei und Goldschmuck angeht, und es fällt mir schwer, den Blick von Marias lieblicher Brust zu wenden.

Thea hat mir erklärt, dass Luther praktisch das selbständige Denken in die Religion gebracht hat. Das klingt vernünftig, selbständig denken kann nie verkehrt sein. Dass dies der katholischen Kirche nicht auf Anhieb gefallen hat, kann ich mir vorstellen. Warum sie sich dann allerdings über Jahrhunderte die Köpfe eingeschlagen haben, bleibt mir ein Rätsel, aber Religionskriege sind sowieso absurd. Meine Religion ist gerade dabei, sich selbst zu vernichten, wenn es im Heiligen Land so weitergeht. Ich kenne Gott nicht persönlich, aber gut genug, um zu wissen, dass er das sicher nicht gemeint hat.

Zurück zum Theater. Die einen sind dramatischer, die anderen in der Lage, selbständig zu denken. Als Regisseurin würde ich einfach beide besetzen, dann wäre der Abend sicher von Erfolg gekrönt.

„Obwohl es in Gebetshäusern manchmal zugeht wie im Theater, ist der Kern der Frage ein völlig anderer.“ Thea gibt nicht auf, selten habe ich sie so missionarisch erlebt, das muss an Luther liegen, der wollte uns Juden auch lieber als Christen sehen … „Es geht um Liebe, Demut, Verantwortung und Freiheit.“

Mein Gott, denke ich mir, wer soll soviel Moral vor dem Frühstück ertragen?

Das mit der Moral ist ohnehin ein weites Feld. Moral ist schön, nur zu viel davon schadet, das ist bei Schokoladeneis nicht anders.

Meine Großtante Leah hatte folgendes Problem: Sie war während der Nazizeit in einem Lager. Kein Vernichtungslager, Gott sei Dank, aber ein Hotel war es auch nicht.

Nach dem Krieg hatte sie einen kleinen Stand auf dem Wochenmarkt, Kurzwaren, Wollsocken und Handschuhe, dienstags und donnerstags. Allerdings litt sie zunehmend an allerlei Beschwerden, ausgelöst durch die Kriegszeit, durch Hunger, Kälte und allgemeinen Mangel, die mit fortschreitendem Alter nicht besser wurden. Wir überzeugten sie schließlich, zum Arzt zu gehen. Sie würde hundert werden, bescheinigte ihr dieser, aber sie müsse sich schonen, Schluss mit der Marketenderei, zu kalt, zu heiß, zu ungesund.

Sie müsse sich endlich entscheiden, Wiedergutmachung zu beantragen, das stehe ihr schließlich zu, fügte der Doktor beim Abschied hinzu und drückte ihr das Antragsformular in die Hand.

Wer achtzehn Monate unter dem Naziregime gelitten hat, habe Anspruch auf eine bescheidene Summe, lasen wir abends unter der Küchenlampe.

Leah rechnete zusammen, sie war nur sechzehneinhalb Monate im Lager gewesen. Sie hatte ihre Familie verloren, ihre Wohnung, ihr ganzes bisheriges Leben war ausgelöscht worden, aber sie brachte die achtzehn Monate nicht zusammen.

Das war Pech, aber die Wahrheit. Sie würde noch ein paar Jahre auf den zugigen Markt müssen, Lügen und Mogeln kämen überhaupt nicht in Frage, das sei unmoralisch, gerade in dieser Frage völlig unmöglich.

Lügen, Mogeln, Moral, Wahrheit – die ganze Nacht konnte ich nicht schlafen. „Hier stehe ich. Ich kann nicht anders.“ Auch Luther litt an Schlaflosigkeit, aber das nur nebenbei. Ich musste an unseren großen religiösen Führer Moses denken. Er suchte stets nach Auswegen, verhandelte sogar mit Gott über Detailfragen seiner Gebote … Tante Leah tat mir schrecklich leid, und die Ungerechtigkeit des ganzen Holocaust kam mir einmal mehr hoch.

Beim Frühstück schwiegen wir, das kommt bei uns eigentlich nie vor.

Aylin, die bei Tante Leah putzt, schlug vor, wir sollten doch zum Amt, das sei doch ungerecht, aber mal ehrlich: Was weiß Aylin schon von deutscher Bürokratie? Weil wir sowieso deprimiert waren, gingen wir spazieren und zufällig beim Amt vorbei.

Frau Bäuerle, eine schwäbische Sachbearbeiterin, hörte sich die Geschichte an, ihre Wangen glühten, dann murmelte sie etwas von moralischer Verantwortung und schrieb ohne mit der Wimper zu zucken, „achtzehn Monate Lageraufenthalt“, in die dafür vorgesehene Spalte. Dann lächelte sie uns an, und ich dachte, Luther wäre stolz auf dich, Mädel, die Wiedergutmachung hatte just in diesem Moment begonnen.

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