Ein Skandal ist es, dass es keinen gibt: Auf dem Konzert der verehrten und verhassten Rockband The Libertines konnte man sehen, wie Feindschaft zu Freundschaft wird
Als ich von Lars hörte, dass die Libertines nach über zehn Jahren mit einem neuen Album in Berlin auftreten würden, war es schon zu spät. Das Konzert in der Columbiahalle war ausverkauft und alle Versuche, in der Woche zuvor übers Internet an eine Karte zu kommen, scheiterten. Entweder waren die Preise zu hoch oder die Abholorte zu weit weg. Am vielversprechendsten klang noch das Inserat von Sanja: „Eine Freundin ist abgesprungen. Dummerweise war sie meine einzige Begleitung. Ich, 36 J., hätte also noch ein Ticket über. Übergabe wäre kurzfristig nur vor Ort möglich und vielleicht hat auch jemand Lust, sich mir anzuschießen (wenn Empathie stimmt), bin da recht offen. Alles kann, nix muss.“
Entweder kannte Sanja den Unterschied zwischen Sympathie und Empathie nicht, oder sie war einfach nicht mitfühlend genug, um auf meine Nachricht zu antworten. Doch dann, kurz vor Beginn des Konzertes, meldete sich doch noch jemand, ein Mann namens Felix, der keinen Profit machen wollte und gleich um die Ecke wohnte.
Ich schrieb Lars, dass ich Glück gehabt habe und schon früh dort sein werde, und er antwortete, dass er erst kommen könne, wenn die Babysitterin eingetroffen sei. Also mischte ich mich allein unter die Menge vor der Bühne, dicht gedrängt zwischen jungen und alten Männern und Frauen mit Tattoos, Band-T-Shirts und Smartphones. Auf einem Bildschirm las ich die Nachricht einer Mutter, die ihren Sohn bat, ein Foto von der Hauptband zu schicken, auf einem anderen die eines Vaters aus dem Rheinland, der sich erkundigte, ob in Berlin auch ein Sturm zu erwarten sei. Und die Tochter schrieb zurück: „Hier stürmt es schon.“ Sie meinte die Leute, die, kaum war das Licht erloschen und die ersten Takte von Barbarians erklungen, gleich anfingen zu pogen und Stofftiere und Becher nach vorne zu werfen. „All I want is to scream out loud„, heißt es darin – und: „The world is fucked, but it won’t get me down.“ Das war die Ansage des Abends.
Der Schlagzeuger Gary Powell riss sich das weiße Unterhemd vom Leib, die Gitarristen Pete Doherty und Carl Barat, demonstrativ uniformiert in ihren eigenen Band-T-Shirts, ließen sich von Roadies Feuer geben und traten gemeinsam ans Mikrofon, dass es so aussah, als würden sie sich küssen, nur der Bassist John Hassel stand, das Schweißtuch um den Hals geschlungen, nahezu regungslos in der Ecke. Und als sich Doherty und Barat beim zweiten Song The Delaney mit der Zeile „There’s magic in all that you play. But oh, can you play guitar boy? Can you play guitar?“ einander zuwandten, um sich und uns zu beweisen, wie gut sie Gitarre spielen können und wie harmonisch es inzwischen wieder zwischen ihnen zugeht, durchzuckte das Publikum das Gefühl, dass dies ein besonderes Erlebnis werden würde, die Feier einer Freundschaft. Nur mein Freund Lars war nirgends zu sehen, und ohne ihn, das war mein Gefühl, würde nichts Erzählenswertes passieren.
Im November 2003 war Lars, mit dem ich in Köln Geschichte studierte hatte, nach Berlin gekommen, um The Libertines zu sehen, die verehrteste und verhassteste Band der Welt. Verehrt und verhasst waren sie deshalb, weil ihre Texte von Gewalt, Rausch und Liebe handelten, direkt und klar waren, weil sie Schimpfwörter enthielten, Selbstzerstörung zelebrierten und sich britische Radiosender weigerten, ihre Songs zu spielen, weil Pete Doherty im Drogenrausch in die Wohnung von Carl Barat eingebrochen war, Gitarre, Laptop, Videorekorder und CD-Player gestohlen und dafür zwei Monate im Gefängnis gesessen hatte und weil die Spannungen zwischen den beiden alle paar Wochen zu Konzertabbrüchen führten.
Damals hörte ich vor allen anderen The Strokes, ich ging zu ihren Konzerten in Berlin, in die Columbiahalle, die Arena, und es kam mir vor, als müsste man sich (wie damals in den Sechzigern zwischen den Beatles und den Stones) für eine dieser beiden Garage-Rock-Bands entscheiden. Lars und ich jedenfalls stritten uns, wann immer wir uns besuchten, nächtelang darüber, welche Musik besser sei, ehrlicher, rauer, kompromissloser, kaputter. Als die Libertines also im Magnet Club spielten, verließ ich für eine Weile die Stadt, um möglichst weit von all dem entfernt zu sein.
Kaum war ich zurück, holten mich die Geschichten ein. Lars, der wieder in Köln war, rief mich an und erzählte mir begeistert, dass er sich mit Pete stundenlang über Geschichte unterhalten habe, dass sich Paul, ein ehemaliger Kommilitone von uns, im Tourbus eine Linie Koks mit einem Fünfeuroschein reingezogen habe – zu einer Zeit, als er sich gerade beim Auswärtigen Amt für die Diplomatenlaufbahn bewarb – und dass Anna, eine Philosophin, die über David Hume und den freien Willen promovierte, mit Carl abgestürzt und nach Frankfurt gefahren sei. „Und vorgestern waren wir im Gebäude neun, da waren nicht so viele, und da saß Carl backstage auf dem Sofa und wir haben Bungalow Bill zusammen gesungen, und da hab ich ihm einen Brief von Anna überreicht, so wie früher in der Schule, und er hat ihr auch was geschrieben.“
„Was denn?“, fragte ich.
„Das hab ich mich auch gefragt. Zwei Tage lang hab ich das Ding mit mir herumgeschleppt und heute hab ich es nicht mehr ausgehalten. ‚I had a big thang with you.'“
Und von da an jagten wir beide diesem „big thang“ hinterher, diesem großen Ding Dang Dong, diesem einzigartigen Erlebnis, das noch Jahre nachklingt: ich, indem ich bei einem Geheimkonzert von den Strokes im Maria am Ufer hoffte, das, was Lars mit den Libertines erlebt hatte, toppen zu können; Lars, indem er nach der Auflösung der Libertines zu jedem Konzert der Nachfolgebands Babyshambles und Dirty Pretty Things ging. Aber bei den Strokes passierte nichts, außer, dass sie sehr gut, sehr lang und sehr konzentriert spielten; und an dem Morgen, an dem Pete Doherty nach einem durchsoffenen Solokonzert im Trinkteufel in Kreuzberg abstürzte und mit einem Bierglas eine Autoscheibe zertrümmerte, war Lars, der inzwischen selbst in Kreuzberg lebte, früh im Bett.
Im Sommer veröffentlichten die Libertines ein neues Album, Anthems for Doomed Youth, das sie auf dem Lollapalooza-Festival auf dem Tempelhofer Feld vorstellen wollten. Ich hatte keine Zeit und keine Lust, und alles, was Lars anschließend erzählte, klang so, als ob ich nichts verpasst hätte: totales Chaos bei der Organisation, für alles habe man stundenlang anstehen müssen, und die Libertines hätten so lustlos gespielt wie eine Altherrenband, die man für viel Geld an einem Abend im Altenheim zusammengeführt hatte.
In der Columbiahalle, nur ein paar Meter vom letzten Ort ihres Scheiterns entfernt, war jetzt alles anders. Neue Songs wie die großartig wilde Hymne über Schuld und Sühne The Heart of the Matter oder die nostalgische Ballade The Milkman’s Horse präsentierten sie mit der gleichen Kraft und Entschlossenheit wie ihre größten Hits Boys in the Band, Can’t Stand Me Now oder Music When The Lights Go Out. Und das Publikum machte, von der Begeisterung der Band angesteckt, mit: Bei You’re My Waterloo, das Barat schweigend am Klavier intonierte, übernahmen die Stimmgewaltigsten den Gesangspart. Bei Up The Bracket reckten alle um mich herum zwei Finger in die Luft. Bei dem wunderbar verlangsamt vorgetragenen What Katie Did ließen sich einige von Händen gehalten zum Bühnenrand tragen.
Männer kletterten auf Männerschultern, um besser sehen zu können, andere umarmten sich, zogen ihre Shirts aus und schleuderten sie in einer durchgehenden Bewegung hinter sich. Rauchschwaden waberten über unsere Köpfe hinweg, Schweiß und Bier regnete auf uns herab. Barat warf mit Wasser gefüllte Plastikflaschen in die Menge, Powell seine Drumsticks, Doherty kickte die Mikrofonständer um. Und als sich die Band nach fast eineinhalb Stunden verabschiedete, tat sie dies wie im Theater: indem sich alle vier in einer Reihe aufstellten – die Arme umeinander gelegt, eine Fahne mit der Aufschrift „Libertines until I die“ um die Schultern gespannt – und mehrmals verbeugten, als wollten sie sich bei den Fans dafür bedanken, dass die ihnen trotz mancher Enttäuschungen, trotz der langen Schaffenspause die Treue gehalten haben. Der Skandal des Abends bestand darin, dass es keinen gab.
Lars traf ich erst am Ausgang. Ich fragte ihn, ob wir jetzt noch etwas trinken gehen würden, womöglich, aber das meinte ich nicht ernst, mit Pete und Carl, aber er sagte, er müsse zurück nach Hause und den Babysitter ablösen. Und so fuhren wir in seinem Van zurück nach Kreuzberg. „Die waren unglaublich gut“, sagte er, während er auf den Columbiadamm einbog. „Carl kann plötzlich wieder live singen, und Pete wirkte zum ersten Mal wirklich clean. Das hatte ich seit 2003 nicht mehr: dieses Gefühl, die wollen spielen und halten das auch durch. Und dass sie hier bei aller Improvisation immer wieder zu den Melodielinien zurückgefunden haben: unfassbar!“
„Mir war der Auftritt zu perfekt“, sagte ich. „Gehört das Nichtaufnehmbare, das Nichtmitsingbare, das Verstummen der Stimmen und Instrumente nicht zu ihrer Musik dazu? Ist das Destruktive, dieses Verheddern, Verhaspeln, Vernuscheln nicht Teil ihrer Identität? Der Taumel? Der Absturz? Sind die Libertines noch sie selbst, wenn sie vollkommen reibungslos funktionieren?“
„Also, mir hat’s gefallen“, sagte er. „Du siehst das alles zu akademisch.“
Von den Strokes sprachen wir nicht.
Und als wir bei ihm zu Hause ankamen, um wenigstens noch zu zweit ein Bier zu trinken, kotzte uns seine Tochter vor die Füße. „Tja“, sagte er später, „das ist jetzt mein großes Ding. Und wenn ich morgen zur Arbeit komme und nach Schweiß und Bier und Kotze rieche, wird man zu Recht denken, ich hätte gestern die beste Zeit meines Lebens gehabt.“