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Europa am Küchentisch

 

Auch die Europäer tragen Mitverantwortung für die Zustände in dieser Welt. Spätestens jetzt ist der Moment gekommen, in dem wir handeln müssen. Ein fiktives Privatgespräch

„Komm“, sagte er, „lass uns das Thema wechseln. Ich will mich nicht streiten. Nicht auch noch mit Dir – jedenfalls nicht jetzt!“

„Na gut. Und stattdessen?“, erwiderte sie. „Soll ich Dir was Gruseliges aus meiner Kindheit erzählen?“

„Du weißt doch, was ich meine… Ich finde es eine Zumutung. Jetzt soll ich diejenigen verteidigen müssen, die seit Jahr und Tag das Falsche tun, nur weil sie seit September vergleichsweise menschlich handeln?“

„Du meinst Merkel?“

„Sie trägt doch Mitschuld an dem ganzen Dilemma. Wenn sie…“

„Jetzt fängst du auch schon so an… Ohne sie…“

„Nein! Hätte sie nicht mal sagen können, tut mir leid, damals, einen Tag vor Beginn des Irakkrieges, da habe ich es dummerweise noch bedauert, dass sich Deutschland nicht mit an der Drohkulisse beteiligt. Der Westen bekämpft mal wieder das, was er selbst angefacht hat. Oder: Es tut mir leid, dass ich keine Zeitung gelesen habe und mir niemand gesagt hat, dass es in den Flüchtlingslagern in Jordanien, im Libanon, in der Türkei seit Jahren unhaltbare Zustände gibt. Wer dort vegetieren muss, kann ja gar nichts anderes mehr denken, als sich möglichst schnell auf den Weg nach Europa zu machen.“

Nach Deutschland müsstest du eigentlich sagen.“

„Jedenfalls irgendwohin, wo sie leben können.“

„Dann musst du aber auch sagen, dass Deutschland eben nicht Teil der Koalition der Willigen gewesen ist, sich in Libyen zurückgehalten hat, und dass wir jetzt eine Verantwortung übernehmen, vor der sich all diejenigen drücken, die da kräftig mitgemischt haben und gegenwärtig kräftig mitmischen, die USA, die Golfstaaten, Großbritannien, die Franzosen, der Iran und letztlich auch die Russen. Kein Grund, allein auf die kleineren osteuropäischen Staaten zu zeigen oder gar auf Deutschland.“

„Das meine ich ja. Ich wusste, dass wir uns streiten würden. Es reicht nicht, allein vom Standpunkt menschlicher Hilfe und dem Recht auf Asyl zu argumentieren. Du musst, tut mir leid, über Kolonialpolitik sprechen, du musst darüber reden, dass die CIA und der MI6 Mossadegh, also den demokratisch gewählten Ministerpräsidenten des Iran, 1953 gestürzt und den Schah installiert haben. Ohne Schah kein Chomeini! Mit Chomeini kam der islamistische Extremismus. Dann Afghanistan, die militärischen Aktivitäten der USA vor – ich betone: vor – der Invasion der Sowjetunion, was jene nicht rechtfertigt. Bin Laden als Kreatur der CIA. Und wie sie auch Saddam Hussein unterstützt haben, weil es gegen den Iran ging…“

„Aber auch dem Iran Waffen verkauften…“

„Danach die verheerende Sanktionspolitik gegenüber dem Irak, die Hunderttausende, vor allem Kinder und Alte, das Leben gekostet hat. Das ist schon vergessen oder wird ausgeblendet! Es ist so viel, was der Westen eingestehen müsste, um dann zu sagen: Wir hängen da ursächlich mit drinnen, wir tragen Verantwortung dafür, was in Syrien, im Irak etc. geschieht.“

„Ich würde eher von Mitverantwortung sprechen.“

„Verantwortung ist auch immer Mitverantwortung.“

„Wenn ich deiner Argumentation folge, dann haben wir damit aber noch nicht von den eigentlichen Ursachen gesprochen. Hab ich Recht?“

„Ja, wenn du die extreme Ungleichheit meinst?“

„Die eigentliche Frage ist doch, wieso kommen sie alle erst jetzt?“

„Denn so, wie die Welt zur Zeit eingerichtet ist, muss sich doch niemand darüber wundern, dass Menschen gen Norden und Westen flüchten.“

„Wir reden ja nicht erst seit heute über die falschen EU-Agrarsubventionen…“

„Es sind täglich eine Milliarde Dollar, die die USA und die EU für Agrarsubventionen ausgeben, von der Abschottung unserer Märkte mal ganz zu schweigen…“

„Über die Fischfangflotten vor den afrikanischen Küsten, die Erdölfirmen, die Rohstoffe aus den Händen der Marodeure etc. etc., also über die verschiedenen Erscheinungsformen des Neokolonialismus, den es ja gar nicht gibt – angeblich.“

„Und in dem ich und Du, in dem wir alle Tag für Tag mit drin hängen.“

„Naja, ich habe diese Schiffe nicht losgeschickt…“

„Aber du kaufst ihren Fisch… Versuche nur mal, eine Woche einkaufen zu gehen, ohne eine Schweinerei zu begehen. Und was besonders pervers daran ist: Wer mehr Geld hat als der Durchschnitt, schafft das eher.“

„Das ist aber auch oft eine Ausrede.“

„Wenn du gerade so über die Runden kommst, kaufst du nicht im Bioladen ein.“

„Das hieße, ich müsste mich zwischen einem guten Leben entscheiden und dem Luxus, über die Welt nachzudenken. Denn wenn ich nachdenke statt zu verdrängen und dementsprechend handle, habe ich kein gutes Leben mehr?“

„Das klingt mir jetzt zu kokett. Ich bin nicht für solche Radikalismen. Es geht darum, beides zu vereinen. Zu einem guten Leben gehört das Nachdenken und Handeln dazu. Andernfalls bliebe Dir nur Verdrängung und Zynismus.“

„Und den anderen das Elend, Durst, Hunger, Krankheit, Gewalt, Obdachlosigkeit, Sinnlosigkeit…“

„Und weil wir das jetzt alles so benannt haben, was noch niemand wusste, wirst du als Experte zur Klausurtagung der Regierungskoalition nach Dresden eingeladen. Und die fragen dich dann: Gut und schön, alles richtig, was Sie da sagen, aber was machen wir jetzt mit den Flüchtlingen?“

„Du meinst, die würden tatsächlich sagen, ‚gut und schön, alles richtig‘?“

„Nur mal angenommen, es wäre so, was dann?“

„Dann würde ich es ihnen sagen.“

„Ja, aber was?“

„Dass sie Glück haben, gerade in dieser Zeit Politiker zu sein, weil sie jetzt notwendige grundlegende Veränderungen bewirken können.“

„Und die wären?“

„Ich würde zuerst von dem Unbehagen sprechen, das ich bei dem Satz des Jahres verspürte, aber mein Unbehagen nicht formulieren konnte.“

„Du meinst: Wir schaffen das!

„Ja! Einerseits war mir das nicht unsympathisch. Andererseits…“

„Fehlte Dir das ‚wie‘?“

„Nein, nein, das meine ich nicht! Wir schaffen das – diese drei Worte sind eine Art Erzählung. Das heißt: Wir krempeln die Ärmel hoch, wir hauen uns so richtig in die Arbeit, wir erledigen die uns gestellte Aufgabe.“

„Was soll daran falsch sein?“

Wir schaffen das suggeriert aber auch: Wenn wir das geschafft haben, ist Feierabend, Wochenende, nächstes Jahr sogar Ferien. Und das ist das irreführende Versprechen daran. Das ist der Unterschied zwischen einer gut gemeinten Erzählung und einer guten Erzählung. Wir schaffen das ist eine gut gemeinte Erzählung, aber eben keine wirklich gute, weil sie die Widersprüche nicht enthält.“

„Es geht hier aber nicht um den Unterschied von Kitsch und Literatur. Es geht darum, die Bevölkerung aufzurufen, anzuspornen – anders ginge es ja gar nicht.“

„Die Bevölkerung war den Parteien und der Regierung weit voraus.“

„Du meinst, weil kein Feierabend in Sicht ist wie indirekt versprochen, bekommen selbst diejenigen, die im September auf einmal sagten ‚Die Merkel wird mir noch sympathisch‘, jetzt weiche Knie und gehen von der Fahne?“

„Ja. Gerade wegen dieser Abtrünnigen möchte ich sie eigentlich unterstützen, auch wenn sie viel zu spät reagiert hat, auch wenn sie mit Griechenland…“

„Gut, das mal beiseite.“

„Ich will nicht unter dem Wimpel kämpfen: Das schaffen wir!, das ist zu wenig, das reicht nicht.“

„Sondern?“

„Wir tun immer noch so, als hätten wir eine Wahl, als stünde es uns frei, diese Aufgabe zu übernehmen oder nicht, als sei das eine Bewerbung um die Olympiade oder das Management einer Großbaustelle.“

„Ja, aber was würdest du sagen?“

„Das passt nicht in einen Satz.“

„Dann eben zwei.“

„Wir können kein gutes Leben führen, wenn vor oder auf unserer Schwelle die blanke Not herrscht und gestorben wird. Wir haben nicht nur die menschliche Schuldigkeit und die gesetzliche Pflicht zu helfen, wir tragen als Europäer auch Mitverantwortung für die Zustände in dieser Welt. Spätestens jetzt ist der Moment gekommen, in dem wir handeln müssen.“

„Ja, richtig, aber der Merkel-Satz zündet mehr.“

„Wie eine Jahrmarktsrakete.“

„Nein, der Vergleich ist nicht fair.“

„Dann sag du mir einen Satz, in dem enthalten ist, dass wir Mitverantwortung tragen, dass wir gar keine Wahl haben und gar nicht anders können, wenn wir nicht alles aufgeben wollen, was uns lieb und…“

„Unsere Werte also…“

„… lieb und teuer ist und eben nichts, was im Sommer oder im nächsten Jahr oder in ein paar Jahren vorüber sein wird. Wir können nicht so weitermachen wie bisher.“

„Du meinst, wir müssen uns neu erfinden.“

„Das ist so ein Modewort. Ich hätte gesagt: Wir haben jetzt die Chance, uns zu ändern. Jeder für sich und wir als Gesellschaft. – Warum lachst du?“

„Das hat doch keine Chance! Denk an Griechenland, wie sie sich da verhalten haben. Die Risiken der Banken und Spekulanten auf das Gemeinwesen umschulden und dann den Hauslehrer mit Prügelstrafe geben. Schlimmer geht’s doch nicht!“

„Aber jetzt bin ich zur Klausurtagung der Regierung eingeladen. Und da sage ich, dass wir am Ende nur die Wahl haben, es als Chance zur Veränderung zu begreifen …“

„Was heißt: Chance zur Veränderung?“

„Wenn wir die eigene Gesellschaft sozial gerechter machten, wären wir auch in der Lage, sie international gerechter zu machen.“

„Steile These. Das würde heißen, wir müssten uns ändern, damit wir verändern können?“

„Für all diejenigen, die gerade so über die Runden kommen, muss es doch höhnisch klingen, wenn sie gesagt bekommen, Deutschland ist reich, wir schaffen das. Die soziale und ökonomische Polarisierung im eigenen Land entspricht jener in der Welt, das lässt sich nicht getrennt verhandeln.“

„Und wenn wir uns, wie du sagst, nicht ändern, was dann?“

„Dann geben wir Almosen, bis endlich mal Feierabend ist.“

„Aber Feierabend gibt’s nur in unserer Vorstellung.“

„Ja. Selbst wenn morgen das Leben in Syrien friedlich und lebbar wäre, der IS verschwunden und in Saudi-Arabien und im Iran die Trennung von Politik und Religion vollzogen wäre – das wäre ein Glück, das wäre wunderbar, aber am eigentlich Problem hätte sich noch nichts geändert!“

„Aber darf ich dich fragen: Hat denn irgendein deutscher Politiker bisher gesagt: ‚Wenn wir mit der Ungleichheit in der Welt fertig werden wollen, müssen wir unser Leben, unsere Politik, unsere Gesellschaft ändern‘? Bestenfalls freut man sich auf junge Arbeitskräfte für unsere überalterte Gesellschaft und hofft auf etwas mehr Buntheit und einen friedfertigen Islam. Als Kollege Grönemeyer eine Reichensteuer für die Flüchtlinge forderte, sind sie über ihn hergefallen. Nicht mal eine kleine Steuer ist möglich! Oder dass eine deutsche Regierung erklärt: Ja, das war Völkermord an den Hereros und Namas, was zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutsch-Südwestafrika geschehen ist, wir tragen die Konsequenzen.“

„Lass es mich noch mal anders sagen: Ganz gleich, welche Entscheidungen in den nächsten Wochen getroffen werden, es ist nicht gleichgültig, aus welcher Haltung heraus man das tut.“

„Jetzt wirst du aber plötzlich sehr defensiv.“

„Wie du dich selbst siehst und einschätzt und wie du dein Gegenüber siehst und einschätzt, so verhältst du dich auch. Wir müssen also über uns reden, wer wir sein wollen und darüber, in welcher Beziehung wir zu den anderen stehen.“

„Du meinst, sehen wir uns als jemand, der Almosen verteilt oder sind wir jemand, der mit anderen teilt, nicht nur aufgrund der eigenen Werte, sondern weil es unerlässlich ist, und wir als Europäer auch sehr viel gut zu machen haben.“

„So könnte man es sagen.“

„Ist das nicht, zugespitzt formuliert, eine Haltung zwischen Zynismus und Selbstaufgabe?“

„Nein, der Zynismus wäre die Selbstaufgabe.“

„Das sehen aber die Verteidiger unserer abendländischen Werte anders.“

„Aber nur, weil sie so tun, als wären diese Werte etwas, das zu Hause im Safe liegt und sie sind alle Hilfssheriffs. Werte drücken sich aber nur in Handlungen aus, anders gibt es sie nicht. Das ist wie mit den Gedanken. Ein Gedanke wird erst zum Gedanken, wenn er formuliert wird, wenn er ausgesprochen oder niedergeschrieben wird. Ein Wert ist kein Wert, wenn er nicht gelebt wird.“

„Werte zu praktizieren, ist die einzige Möglichkeit, sie zu verteidigen.“

„Alles andere ist bestenfalls eine Behauptung.“

 

Der Text ist entstanden im Rahmen der Veranstaltung „Das weiße Meer“ am Literarischen Colloquium Berlin.