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Teilen macht gefälligst Spaß

 

Auch wenn die Kleinen jammern: An bestimmten Erziehungsregeln ist einfach nicht zu rütteln. Aber was passiert, wenn diese Maximen plötzlich auch für Erwachsene gelten?

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Sean Gallup/Getty Images

Neulich saß ich auf einer Bank im Park und telefonierte, als ein Mann, ungefähr in meinem Alter, mir mein Handy wegnehmen wollte. Ich zeterte und schrie, weil ich mein Handy nicht hergeben wollte, aber als meine Frau zufällig in diesem Moment von ihrer Massagestunde zurückkam, redete sie auf mich ein: „Warum gibst du dem Mann denn nicht dein Handy? Der will doch auch mal telefonieren. Du kriegst es ja hinterher gleich wieder. Du kannst doch dein Handy den ganzen Tag alleine benutzen. Teilen macht Spaß.“

„Aber es ist mein Handy!“

„Aber das ist nicht nett, wenn man seine Sachen nur für sich alleine haben will. Du willst doch auch mal Freunde haben, da musst du das lernen. Und wenn andere dir was abgeben, freust du dich doch auch.“

„Aber das Handy hatte ich mir so lange gewünscht!“

„Das kann der Mann doch nicht verstehen, der ist doch viel kleiner als du. Siehst du, jetzt weint er.“

Obwohl ich es irritierend finde, wenn erwachsene Männer weinen, überließ ich ihm zähneknirschend mein Handy und er telefonierte damit.

„Siehst du, war das jetzt so schlimm?“, sagte meine Frau. „Und nächstes Mal bist du gleich ein bisschen netter.“

Der Mann gab mir mein Handy zurück, es war unangenehm warm von seinen Fingern, ich wischte die Schokoladenflecken ab und versteckte es tief in meiner Hosentasche. Am Abend schien die Sache vergessen, ich saß mit meiner Frau auf der Fernsehcouch und wir sahen unseren täglichen Mitschnitt von Sturm der Liebe, da klingelte es. Meine Frau öffnete, eine attraktive Mittzwanzigerin trat ein und setzte sich zu uns auf die Couch.

„Wer ist die denn?“ fragte meine Frau.

„Das ist Lysann“, sagte ich, „sie wird jetzt bei uns wohnen.“

„Wieso denn?“

„Ich habe mir eben noch eine Frau gewünscht, das ist ganz normal, andere haben sogar noch mehr.“

„Aber wo soll sie denn schlafen?“

„Sie schläft in unserem Bett und du bekommst dein eigenes Zimmer für dich alleine.“

„Ich will nicht, dass die bei uns wohnt“, sagte meine Frau, den Tränen nahe.

„Das kann ich verstehen, aber Lysann braucht jetzt viel Aufmerksamkeit, gerade in der ersten Zeit. Sie muss sich doch erst an ihr neues Zuhause gewöhnen. Zwischen uns wird sich gar nichts ändern, ich hab dich genauso lieb wie vorher, wir sind eben nur einer mehr geworden in unserer Familie. Versprichst du mir, dass du vernünftig bist? Wir brauchen jetzt deine Hilfe, dass du öfter mal einkaufen gehst zum Beispiel, oder dass du Lysann deine alten Anziehsachen überlässt. Freust du dich denn nicht, dass wir jetzt eine neue Frau haben? Sei doch vernünftig, du bist doch die ältere.“

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