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Der „anständige“ Ausländer hat ja nichts zu befürchten

 

Die Schweiz entscheidet heute, ob kriminelle Ausländer ohne Einzelfallprüfung abgeschoben werden dürfen. Was als kriminell gilt, bleibt vage. Zählt auch Biertrinken dazu?

 

© Arnd Wiegmann/Reuters
© Arnd Wiegmann/Reuters

Was mir an der aktuellen Wahlwerbung der Schweizerischen Volkspartei am meisten Angst macht, ist der Hinweis, anständige Ausländer hätten nichts zu befürchten. Ich halte mich zwar nicht für unanständig, aber Anstand ist, nach meinem Empfinden, ein sehr vager Begriff, und ich bin mir nicht sicher, ob die Anhänger einer Partei, die auch schon mit dem Slogan „Kosovaren schlitzen Schweizer auf“ geworben hat, unter Anstand etwas Ähnliches verstehen wie ich.

Ist Biertrinken anständig? Und bis zu welchem Maße? Wie sieht es mit stundenlang im Café rumhängen und Zeitunglesen aus? Welche Zeitung liest ein anständiger Ausländer? Und darf er sich zu Hause im Internet Pornografie ansehen? Ist Geschlechtsverkehr anständig, wenn er nicht der Zeugung von Kindern dient? Und in welchen Positionen? Und wie anständig können eigentlich Ausländer sein, die außerdem homosexuell sind?

Die erweiterte Liste der Delikte, die zu einer automatischen Ausweisung führen würden, gibt wenig Aufschluss. Es finden sich zwar zahlreiche neue Gesetzesverstöße (Sozialhilfemissbrauch, Beamtenbeleidigung, Fahren mit überhöhter Geschwindigkeit), die künftig ähnlich geahndet würden wie Vergewaltigung und Mord, allerdings fehlt einer nach wie vor: Steuerhinterziehung. Woran soll man sich als anständiger Ausländer also orientieren? An all den anständigen reichen Deutschen, Franzosen und Russen, die ihre Heimatländer weiterhin mit dem Segen der Schweizerischen Volkspartei um Milliardenbeträge schädigen dürfen?

Klar ist eigentlich nur, was ein Ausländer ist. Ich zum Beispiel bin ein Ausländer. Als ich vor sechs Jahren in die Schweiz kam, zum Studieren, hatte ich genau das vor: studieren. Anschließend wollte ich zurück in das Ausland, aus dem ich gekommen war.

Aber es passierte etwas Unerwartetes: Ich verliebte mich in eine Einheimische. Vielleicht war es nicht ganz so unerwartet, immerhin studierten wir das Gleiche, interessierten uns also für ähnliche Dinge, und wir sprachen im Prinzip die gleiche Sprache, auch wenn unsere unterschiedlichen Stimmen, Münder und Zungen ihr einen unterschiedlichen Klang verliehen, und uns unsere Eltern stark voneinander abweichende Regeln beigebracht hatten wie man Wörter beugt oder Sätze baut. Aber, und das ist das Entscheidende: wir verstanden uns.

Nach einiger Zeit begann ihr Bauch zu wachsen. Offenbar waren aus meinen ausländischen Hoden ausländische Spermien in ihre einheimische Gebärmutter gelangt und hatten sich dort eingenistet. Und nur neun Monate später kam ein wunderbares einheimisches Kind aus ihr heraus.

Welcher Körper oder welches Körperteil bei der ganzen Sache wann wo in- oder ausländisch war, hat mich eigentlich nie besonders interessiert, wir besorgten uns die notwendigen Dokumente, damit wir künftig gemeinsam Steuern zahlen konnten und ansonsten lebten wir ruhig und unauffällig vor uns hin.

Heute aber merke ich auf einmal, dass die beiden Menschen, die der wichtigste Grund für meine Anwesenheit in diesem Land (und auf diesem Planeten) sind – meine Frau und meine Tochter – sich grundlegend von mir unterscheiden: Ihnen will die größte Partei des Landes keine Rechte entziehen. Jedenfalls im Moment nicht. Mir schon. Einfach so. Präventiv.

Ich kann mich ja einfach weiterhin an die Gesetze halten, könnte man sagen. Und wenn ich dann doch irgendwann ein Kindergeldformular falsch ausfülle und eine Dreißigerzone zu spät sehe, kann ich versuchen, meine beiden Lieblingseinheimischen zu überreden, mir zu folgen, in dieses Ausland, aus dem ich komme. Wenn sie mich wirklich lieben, würden sie das wohl tun. Und es stimmt, sie würden es wirklich tun. Aber es wäre für sie nicht leicht. Immerhin ist das hier ihre Heimat. Sie haben ihre Eltern bzw. Großeltern hier, ihre Freunde. Sie reden so, wie man nur hier redet.

Ich kann mich ja einbürgern lassen, könnte man sagen, sollte ja kein Problem sein, ich bin ja mit einer Schweizerin verheiratet. Und es stimmt, ich könnte das wirklich versuchen. Ich habe früher schon einmal darüber nachgedacht, aber nur sehr selten, ganz einfach deshalb, weil ich mir nie viel dabei dachte, Ausländer in der Schweiz zu sein. Es gab schon immer Ausländer in der Schweiz, auf einige ist man hierzulande sogar besonders stolz. Ausländer gehören irgendwie zur Schweiz dazu, dachte ich immer.

Vielleicht ist es ja mein persönliches Problem. Mir wurde einfach noch nicht so oft gesagt, dass ich keine Angst zu haben brauche. Als Kind, in der Geisterbahn. Im Flugzeug, bei Turbulenzen. Als junger Möchtegernrapper auf einem abendlichen Streifzug durch die Münchner Vorstadt, als uns eine Gruppe etwas ernster zu nehmender Gangster mit vorgehaltenem Messer aufforderte, uns hinzuknien, unsere Taschen zu leeren, uns dann umzudrehen und zu rennen. Macht einfach, was wir sagen. Ihr habt nichts zu befürchten. Ich habe diesen Satz nie gerne gehört. Wenn er von meinen Eltern kam, fühlte ich mich dabei klein und unreif. Und wenn er von jemand anderem kam, empfand ich ihn als anmaßend und verlogen. Weil derjenige, der ihn äußert, sich damit über mich stellt. Wer sich in eine Position bringt, mir meine Angst zu nehmen, ermächtigt sich damit automatisch auch dazu, mir Angst zu machen, wenn er es für angebracht hält.

Früher dachte ich immer, wenn ich mich eines Tages einmal um einen Schweizer Pass bemühe, dann tue ich es aus Überzeugung. Weil ich an das politische System der Schweiz glaube. Weil ich die Schweizer Bevölkerung für ihre Freiheitsliebe, ihre Offenheit und Humanität zutiefst achte und bewundere. Weil ich dieses Land darum gerne meine Heimat nennen würde. Es kann sein, dass es eines Tages genau so kommt. Vielleicht aber auch nicht. Es kann auch sein, dass sich dieses Land am 28. Februar entscheidend verändert. Dann hätte ich in Zukunft vor allem einen Grund, mich um einen Pass zu bemühen: Angst.

Sollte ich eines Tages einer Beamtin der Migrationsbehörde gegenüberstehen und sagen, dass ich an das politische System der Schweiz glaube, dass ich die Schweizer Bevölkerung für ihre Freiheitsliebe, ihre Offenheit und Humanität zutiefst achte und bewundere, und dass ich dieses Land darum gerne meine Heimat nennen würde, während ich in Wahrheit einfach nur eine Scheißangst hätte, nicht dieses rote Stück Papier zu bekommen, das mir garantiert, im gleichen Land leben zu können wie die Menschen, die mir am liebsten sind, auch wenn ich zwei kleine Fehler mache, dann wäre mein Verhalten vielleicht armselig, vielleicht aber auch verständlich. Nur eines wäre es sicher nicht: anständig.

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