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Der Tag, an dem ich meinen Friseur verlor

 

Über Flüchtlinge wird immer kontroverser debattiert. Was wir dabei übersehen: Auch das Gespräch mit Ausländern, die schon lange hier leben, wird dadurch schwierig.

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Carsten Koall/Getty Images

Jetzt habe ich auch noch meinen Friseur verloren. Es ist der Endpunkt eines schwierig verlaufenden Jahres und hat indirekt mit den Flüchtlingen zu tun. Ich habe das neulich auch L. erzählt, der darüber aber nicht besonders überrascht war. Mein türkischer Friseur pflegt nämlich das Schneiden der Haare mit einer Flamme zu beenden, die er schnell und gekonnt nacheinander an beide Ohren hält. Etwas, was kein deutscher Friseur und schon mal gar keine deutsche Friseurin zustande bringt, glaubt L.

(Er selbst hat eigentlich keine Haare, sondern eher einen Kopfschmuck, eine perfekte Haar-Inszenierung, die eher an einen Helm erinnert als eine Frisur. Und er wird wohl kaum jemand erlauben, sich mit einer Flamme seinen Ohren zu nähern, noch dazu, wenn man weiß, dass er sich noch in Beirut seinen ersten Beauty Job gegönnt hat, um sich die Stirn glätten zu lassen.)

„Ich würde sowieso nicht in Deutschland zum Friseur gehen“, sagt er. Er hat wahrscheinlich eine Technik entwickelt, wie er die Beseitigung der Körperbehaarung zu etwas gemacht hat, was außerhalb der Öffentlichkeit stattfindet und nicht wie bei mir sozusagen mitten auf der Straße und noch dazu in relativer Nähe zum Regierungsviertel.

„Warum willst du das wissen?“, fragte mich mein Friseur, der aus einem kleinen Dorf, aus dem Südosten der Türkei, stammt. Nämlich warum er damals nach Deutschland aufgebrochen ist, vor 27 Jahren als einziger der Familie und sonst niemand. Meist vermeide ich die Konversation mit meinem Friseur, weil sein Deutsch so holprig und auch kryptisch ist, dass mir eine Unterhaltung zu anstrengend erscheint. Auch ist mein Friseur etwas ruppig, wenn auch auf charmante Art und Weise. Einmal, als mehrere Leute bei ihm warteten und ich schon an der Tür wieder umkehrte, lief er mir auf der Straße hinterher, um mich zum Bleiben aufzufordern. Ob ich verrückt sei. Zwei Minuten. „Kannst du nicht warten?“, rief er. Als wäre er gekränkt, dass ich die günstige Gelegenheit so einfach verstreichen ließ. Weniger ging es darum, Geld zu verdienen, als darum, mir das Leben zu erleichtern. Mein Friseur scheint zu wissen, dass mir ein Besuch jedes Mal große Mühe macht und Überwindung kostet.

Das ist das Fürsorgliche an ihm, so wie er einem das Feuer ans Ohr hält und einem, wenn er in der Stimmung ist, eine kurze erratische Massage verabreicht oder einem etwas Kölnisch Wasser auf die Wangen tupft. „Warum willst du das wissen?“ fragte er. Und wenig später: „Warum fragst du mich das?“ Ich bin sicher, L. hätte mit ihm kein Wort gewechselt, er hätte ihn angelächelt und einsilbig auf seine gelegentlichen Fragen geantwortet. Wenn L. überhaupt den Weg zu einem solchen Friseur gefunden hätte. L. benutzt ja auch die deutschen Freibäder nicht. Warum? Aus ästhetischen und auch aus hygienischen Gründen. Alle Libanesen, die ich kenne, ekeln sich vor den deutschen Freibädern, insbesondere vor dem Prinzenbad in Kreuzberg. Solche Bäder sucht man ohnehin besser mit wenig Körperbehaarung auf oder wenn, dann mit frisch geschnittenen Haaren, frisch rasiert, frisch geduscht, frisch durchgeschüttelt, frisch justiert.

Mein Friseur will nicht akzeptieren, dass ich nur an seiner Familiendynamik interessiert bin. „Warum? „, ruft er immerzu. „Was meinst du damit?“ Er ist tödlich beleidigt, dass ich ihn mit den Flüchtlingen in einen Topf werfe. Er ist gar nicht mehr zu stoppen, obwohl er weiterhin meine Haare schneidet, mit und ohne Maschine und am Ende sogar mit Feuer, aber ohne Massage, ohne Kölnisch Wasser. „Warum? Was heißt das? Ich bin kein Flüchtling.“ Ich schüttele nur den Kopf, aber er will meine Erklärung nicht hören. Seine Erregung klingt auch nicht ab, nachdem ich bezahlt habe und mir noch mal die Zeit nehme, in einem ausführlichen Gespräch mit ihm zu klären, was ich mit meiner Frage gemeint habe. (Nämlich dass ich denke, dass seine einsame Reise als junger Mann und einziges Familienmitglied nach Deutschland von besonderem Mut zeugt.)

Er aber holt wütend ein kleines Büchlein mit eingeklebten Visitenkarten aus seiner wackeligen Schreibtischschublade. Dort sind die Kontaktdaten eingeklebt von den Mitarbeitern des Innenministeriums, auch Bundestagsabgeordnete sind dabei. Schließlich ist das Regierungsviertel nicht weit. Jederzeit, ruft er mir zu, könne er dort jemand anrufen, wenn er Schwierigkeiten habe. Es klingt beinahe so, als wollte er mir drohen. Aber tatsächlich droht er mir auch, nämlich wie sich jetzt herausgestellt hat, mit dem Ende unserer Geschäftsbeziehungen. Ich versuche das Schlimmste abzuwehren. (Vor Jahren habe ich seinen Laden nach einer einstündigen Suche glücklicherweise entdeckt, nachdem sich alle andere Friseure in der Umgebung als problematisch erwiesen haben, vor allem die russische Friseurin, die viel näher am Innenministerium und für mich noch leichter zu erreichen war, vor deren ästhetischem Urteil ich mich aber fürchtete.) „Warum ich das wissen will“, rufe ich meinem Friseur zu. „Mein Gott! Es ist doch ein Kompliment für dich.“

Aber dann klingelt das Telefon und seine Frau, sein Onkel oder sein Vater ruft ihn an, jedenfalls wechselt er ins Türkische und lässt mich tatsächlich mitten in seinem Laden stehen. Der Laden, der mir so vertraut ist, die schwarze Lederimitat-Couch, auf der ich so oft gewartet und mit lüsterner Eile die B.Z. durchgeblättert habe, um einmal sogar zu erfahren, dass eine Exfreundin sich mit John Malkovich angefreundet hatte oder wie es der Bundeswehr bei ihren Auslandseinsätzen so geht und dass die traumatisierten Soldaten immer mehr in Vergessenheit geraten. Das alles lehrten mich die Aufenthalte bei meinem Friseur, die meist schweigend und konfliktfrei verliefen, weil ich tatsächlich wie L. mit einer gewissen stummen und versteckten Arroganz über meinen sich immer mehr auftürmenden Haarbüscheln thronte und so tat, als würde ich nachdenken oder sei schlechter Laune. Bis zu diesem Tag.

Ob die Flüchtlingsdebatte daran schuld ist? Mein schlechtes Gewissen, dass ich mich mit meinem Friseur nicht unterhalte? Meine plötzliche Neugier. Meine neuerwachte moralische Arroganz, dass ich jetzt zur Garde der edlen Ritter gehöre, die das Abendland vor dem Untergang bewahrt und die Geschlagenen und Geknechteten mit einer großen würdigen Geste aufgenommen hat. „Warum bist DU denn gekommen und die anderen sind alle geblieben?“, fragte ich ihn. Vielleicht hat sich mein Friseur in diesem Moment in einen Psychoanalytiker verwandelt, und es ist nur ein Akt der Gegenübertragung, den er ansonsten mit Messer, Schere und Flamme in einem stummen Abnutzungskampf gegen meinen Körper bzw. gegen meinen Kopf geführt hat. (Kein Wunder, dass sich L. seine Haare lieber im Libanon schneiden lässt, in Beirut, in Hamra oder im Notfall vielleicht bei einem sündhaft teuren schwulen Friseur in München, der zu 99 Prozent weibliche Kunden hat.) „Ich kann jederzeit einen von denen anrufen“, erklärt mein Friseur und blättert in einem Innenministeriums- und Bundestagsabgeordneten-Album herum, als wäre es ein vollständiges Panini-Album von den Weltfestspielen der Kreuzritter des Guten Willens. Es hat keinen Sinn. Ich kann nicht stehenbleiben und zuschauen, wie mein Friseur mit der Türkei telefoniert oder mit seiner türkischen Nichte in Neukölln. Dieses Gespräch, das er wahrscheinlich mit Absicht führt, um meine Psychologisierungen und meine Versöhnungsversuche zu unterminieren, besiegelt mein Schicksal. Ich nehme Abschied. Und von nun an habe ich keinen Friseur mehr.

Wenige Tage später habe ich einen Traum. Ich wache am Rand einer Autobahn auf, wo ich mein Lager aufgeschlagen habe. Ich habe noch nicht mal ein Zelt, allenfalls eine Decke, die mir jemand geschenkt hat. (Es ist möglicherweise auch die Decke, die die Freundin eines Beiruter Freundes in einem Edelrestaurant in den Bergen außerhalb von Beirut gestohlen und dann in unserem Auto vergessen hat.) Ich bin aber glücklich in diesem Traum, ich hab einen guten Platz, direkt „am Ufer“ einer dreispurigen Autobahn mit Geschwindigkeitsbegrenzung (120) und so nah an der Standspur, dass ich noch nicht mal meine Füße ausstrecken kann. Es heißt, die Armee (irgendeine, meine, unsere?) könnte den Schlafplatz jederzeit räumen, was in meinem Traum dann auch passiert. Ob mein Friseur diesen Traum für mich „organisiert“ hat? Oder ist der Traum ein Versöhnungsangebot?

Ich erwarte eigentlich, dass er sich dafür entschuldigt, unser klärendes Gespräch einfach abgebrochen zu haben und mich mit frisch geschnittenen Haaren in seinem Laden sozusagen zurückgelassen zu haben. Einmal traf ich ihn auf einer kleinen Fußgängerbrücke, die über die Spree führt, jetzt aber wegen Bauarbeiten geschlossen worden ist. Aber ich brauchte zu lange, bis ich ihn erkannt hatte und sein kurzes gehetztes Nicken, seinen Gruß habe ich ganz einfach ignoriert. So sieht es nämlich aus. Am Fuß der Autobahn, in unmittelbarer Nähe der Standspur. 120 Kilometer in der Stunde.

Die indische Philosophin Gayatri Spivak hat gesagt, dass wir uns nichts einbilden sollten darauf, dass wir Flüchtlinge aufnehmen. Wir seien dazu nur in der Lage, weil unser auf ihre Kosten widerrechtlich erlangter Wohlstand uns dazu ermächtigt. (Postkoloniale Prozesse, die ich meinem Friseur vielleicht beim nächsten Mal erklären kann, wenn ich mich meinerseits entschuldigt habe. Aber dazu wird es nicht kommen. Meine Verärgerung oder Enttäuschung oder meine Angst, oder was auch immer es ist, ist zu groß.) Ich habe schon in der Nachbarschaft geschaut und überlegt, ob ich es noch mal mit „Vision of Hair“ probieren soll. Dort arbeiten nur Frauen, deutsche Friseurinnen, furchtbar aufgeräumte fröhliche nette Personen, wie man sie aus dem Fernsehen kennt. Dort wird man mit Sicherheit mit dem Nachnamen begrüßt und nach seinem Befinden gefragt. Hier brauche ich auch niemanden etwas zu fragen, weil schon alle alles wissen.

Aber ich fürchte, dass dann die Träume anfangen, die wirklich schrecklichen Träume, die Träume, vor denen man wirklich Angst haben muss, in denen dann auch kein Platz mehr an der Autobahn zu finden ist. Und ich wünsche mir Gayatri Spivak herbei, mit ihren großen schaufelartigen Händen, wie sie beim internationalen Literaturfestival, flankiert von zwei mutmaßlich lesbischen Turbo-Akademikerinnen mit strafendem Blick auf mich herabschaut. Soll das Andere in mir sprechen, das Fremde, soll das Andere in mir delirieren und zu Wort kommen und mögen meine Haare wachsen und immer weiterwachsen und gar kein Ende mehr finden. (Genug Platz haben sie ja, auf meinem Kopf, auf dem Fußboden, auf dem wunderschön angelegten Spazierpfad an der Spree, der am Kanzleramt vorbei bis zum Hauptbahnhof führt und von dort könnte man mit dem Airport-Express nach Schönefeld weiterfahren und dann nach Beirut, nach Hamra, irgendwohin, wo L. sich früher die Haare hat schneiden lassen und sie sich auch heute noch, in seinen Träumen, da bin ich ganz sicher, weiterhin schneiden lässt.)

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