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Die Folgen können tödlich sein

 

Vor Jahren glaubten wir, den Rechtsradikalismus überwunden zu haben. Nun müssen wir den Riss erkennen, der unser Land durchzieht. Er könnte nicht bedrohlicher sein.

© Tobias Schwarz/Getty Images
© Tobias Schwarz/Getty Images

Ein Haarriss ist eine potenziell wachsende statische Materialschwäche. Besonders gefährlich sind solche Risse, wenn sie sich unbemerkt vergrößern, um dann in einer plötzlichen Kettenreaktion zu eruptiven örtlichen Absprengungen und Stabilitätsversagen zu führen. Diese können in der Folge tödlich sein.

Immer wieder frage ich mich, wann das begonnen hat, wann wir es haben einreißen lassen; und warum es mich so unruhig macht, keinen Anfang zu finden, nicht zu wissen, ob und wann sich da irgendwo ein einzelner Haarriss in uns gebildet und unerbittlich weitergeschoben, immer tiefer gebohrt hat – bis nun täglich etwas von diesem Land absprengt. Bis Politiker fordern dürfen, mitten in Europa auf hundeelende Familien zu schießen. Und es damit zweistellig in die Länderparlamente schaffen, und zu Anne Will ins Studio. Bis Menschen sich im Netz ganz offen gegenseitig ins Gas wünschen. Oder johlend und klatschend dabeistehen, wenn Notunterkünfte in Flammen aufgehen.

Wahrscheinlich gibt es gar keinen Anfang. Der Haarriss ist einfach irgendwann da oder war es in Latenz schon immer. In den neunziger Jahren, meiner Jugend, brannten „Asylantenheime“, Ausländer wurden durch die Straßen gejagt, Pogromstimmung in Hoyerswerda, Rostock, Mölln. Die Parteien der rechten Anpeitscher hießen DVU oder Die Republikaner, und wir bildeten Lichterketten auf den Straßen, schauten im Religionsunterricht den verbotenen Film Beruf: Neonazi, hielten Nachtwachen in den Evangelischen Jugendräumen ab und tanzten zu Schrei nach Liebe von den Ärzten.

Ich will das nicht nostalgisch einfärben, und gut möglich, dass ich einem privathistorischen Fehlschluss aufsitze, wenn ich zurückschaue und vergleiche. Auch gibt es genug soziologische Studien, die aufzeigen, wie sich der rechte Extremismus entwickelt hat, wie aus Springerstiefeln brave Halblederschuhe ‚besorgter Bürger‘ wurden und welche Kontinuitäten dahinter stecken; das muss ich hier nicht wiederholen. Aber doch scheint mir heute etwas fundamental anders zu sein, zumindest fühlt es sich immer mehr so an: dieser Eindruck einer tiefen, unüberwindbaren Spaltung, die sich längst nicht mehr nur grob durchs Land zieht, sondern auch durch die politischen Lager, die einzelnen Gemeinden, die Bekanntenkreise, die Familien, ja sogar durch die eigenen Gedanken.

Klar, auch Anfang der Neunziger haben wir die „andere Seite“ restlos abgelehnt – aber es gab diese andere Seite eben noch als solche, und wir gingen gewissermaßen mit ihr um, zumindest innerlich und vielleicht gerade weil sie für uns letztlich abstrakt blieb. Die rechten Glatzen, die Ausschreitungen, das kannte man als Schüler in einer oberbayerischen Gemeinde ja fast nur aus den Nachrichten. Wir waren überzeugt, in der Mehrheit zu sein, die Stärkeren zu sein und deshalb den Rechten und Rassisten nicht mit gleicher Münze antworten zu müssen. Wir wollten ihnen widerstehen, indem wir sie aushielten, aussaßen, austanzten.

Ich erinnere mich an einen Aktionsabend im Jugendzentrum, an dem ich stundenlang auf einen harmlosen Nachbarsjungen einredete, der stolz vorgab, neuerdings mit den Neonazis zu sympathisieren. (Er sparte auf eine Bomberjacke.) So lange und mit jedem Bier leidenschaftlicher bearbeitete ich ihn, bis er irgendwann entnervt abwinkte und sagte, ach, scheiß drauf, die Dinger sind eh viel zu teuer. Auf dem Heimweg trat ich mit dem Triumphgefühl in die Pedale, das gesamte Problem des Rechtsradikalismus im Alleingang gelöst zu haben. So funktionierte es, so konnten wir sie knacken.

Naiv vielleicht, aber andererseits hatte es zum Ende der Neunziger hin tatsächlich den Anschein, als hätten wir Erfolg damit gehabt, als wäre die rechte Hetze implodiert. Natürlich, theoretisch wusste man, dass der Rechtsextremismus irgendwo weiter brodelte, aber eben doch offenbar auf so niedriger Flamme, dass er beherrschbar erschien. Heute wissen wir, dass das Wunschdenken war – und eines, das maßgeblich dazu beitrug, dass etwa der NSU ein Jahrzehnt lang völlig unbehelligt morden konnte. Aber das ändert nicht zwangsläufig etwas daran, dass es einen, so möchte ich glauben, sehr breiten Konsens über den positiven Wert einer freien, offenen Gesellschaft gab. Er mag sich an etlichen Stellen auf dünnem Eis bewegt haben, unter dem Abgründe dräuten, aber er hielt, er wirkte im Ganzen stabil. Das ist nicht wenig.

Heute hört man manchmal, dass dieser Konsens eben nur Schein gewesen sei und dass er als solcher überhaupt erst dazu beigetragen habe, dass nun der ganze braune, jahrelang gestaute Schlamm umso druckvoller nach oben treibe. Und es doch letztlich gut sei, wenn nun alles auf den Tisch käme – nur dann könne man ihn auch wieder sauber machen. Ich bin da skeptisch, sowohl was die Staudrucktheorie angeht, als auch unsere Möglichkeiten, die einmal entfesselten Ressentiments wieder einzudämmen. Zu sehr fürchte ich das Moment der Eskalation, die unbeherrschbare Dynamik einer Masse, die sich daran berauscht, angebliche Tabus niederzutrampeln.

Ich glaube eher, dass die Menschen ethische Regularien brauchen, um die Gewaltaffekte in sich auszuwiegen. Das Problem waren ja nie die sogenannten Tabus. (Tatsächlich gab es sie nicht; dafür standen durchweg zu viele – randläufige, aber durchaus vernehmliche – Kanäle für Xenophobien jeglicher Lautstärke zur Verfügung.) Das Problem ist vielmehr jener Moment, an dem sie von einer kritischen Masse nicht mehr als soziale Konventionen verinnerlicht sind; als ethische Vereinbarungen, die nicht etwa heimtückisch gesät werden und fortan wuchern, sondern ihre regulierende Funktion aus dem Wunsch einer Gesellschaft nach sozialem Frieden heraus entwickeln und legitimieren. Sie wirken nicht aggressiv, sondern absorbierend. In der Soziologie spricht man dabei manchmal von einer heilsamen Latenzzeit, in der überkommene Haltungen noch eine Weile niedrigschwellig wabern dürfen, um so unter dem sozialen Einfluss einer sich weiterentwickelnden Gesellschaft langsam zu verkümmern. Wie eine Flamme, der allmählich der Sauerstoff entzogen wird und die irgendwann, recht friedlich, erlischt. Oder, wenn schon nicht das, so doch von der Demokratie in Schach gehalten wird, wie ja auch unser Körper jeden Tag kleine Schutzwälle um jene schlechten Zellen legt, die er nicht heilen oder auflösen kann.

Einfacher gesagt: Wenn Pegida oder AfD heroisch verkünden, sie sprächen doch nur endlich aus, was „das Volk“ denke und bis jetzt nicht gesagt werden durfte, ist das eine recht dümmliche, wenn auch wirkungsvolle Verdrehung; denn vielmehr wurden ihre hetzerischen Parolen ja deshalb lange nicht lautbar, weil es eben keine kritische Masse gab, die sie für angemessen hielt. Weil die gesellschaftliche Selbstregulierung funktionierte, die nun von der Rechten agitativ mit einem negativen Vorzeichen versehen wird, um den eigenen Opfermythos zu nähren und so Affekte zu schüren. Oder noch einfacher: Lange schien es gesellschaftlich einfach klar zu sein, was nicht o.k. war. Das kann man jetzt Tabu nennen oder auch sonstwie. Aber es war eine Errungenschaft. Es war nicht wenig. Wann ist das eingerissen? Wann ging das los?

Die Rechtsradikalen aus meiner Jugend und ihre politischen Armleuchter (Leute wie Franz Schönhuber), das waren meist lächerliche Typen, Deppen halt, und so peinlich, so unmöglich in Haltung und Habitus, dass der Riss, der uns von ihnen trennte, letztlich nur sie selbst ausgrenzte und wie weit entfernt in einem unsichtbaren Niemandsland verlief.

Heute ist das anders, heute tut er sich direkt vor unseren Füßen auf. Selbst gute Bekannte, die ich als offene, liberale Menschen kenne, kauen plötzlich beim Nachtisch rechten Gedankenbrei wie der, den sie als solchen empört von sich weisen würden, aber jetzt hier an diesem Tisch schon deshalb für legitimiert halten, weil er aus ihren offenen, liberalen Mündern kommt, in dem sie dabei noch genüsslich nach den letzten Resten Schrimprisotto pulen. „Ich sag mal so … und irgendwann ist auch mal gut … schließlich keine Weltwohlfahrt … ticken halt einfach anders … Sicherheit muss vorgehen … Ängste der Menschen sollten doch“ – und je mehr ich auffahre und den offenen, liberalen Freunden ebenso oft aufgewärmten Brei entgegensetze, desto mehr fühle ich mich in Verlegenheit gebracht von ihrem bräsigen Armeverschränken, und ich frage mich, warum die Seite, von der ich doch immer so, so, so sicher wusste oder wissen wollte, dass sie die richtige ist, stets so viel besser argumentieren muss, um sich gegen die Affektmaschinerie der anderen zu behaupten, und ich denke daran, wie ich damals im Jugendzentrum den Nachbarsjungen bekehrt zu haben glaubte mit nichts als Bier und Beharrlichkeit, und frage mich, was sich seither so verändert hat, dass mir am Ende nichts anderes mehr einfällt, als die Tür hinter den offenen, liberalen Bekannten zuzuschlagen und meine Freundin anzufahren: „Die laden wir aber nie wieder ein!“

Zu den Dingen, die sich verändert haben, gehört auch das Verschwinden der Scham. Unter der Dumpfheit der Skins meinte ich früher oft eine verkappte Scham wahrzunehmen, die dann von trotzigem, umso lauterem Gebrüll beherrscht werden musste, weil sie keinen anderen Ausgang fand; entsprechend viele vermummten sich in der Öffentlichkeit, auch die Aussteigerquoten waren relativ hoch. Heute schämt sich niemand mehr. Wann hat das begonnen? Die Frage ist müßig, denn alles entwickelt sich, nichts kommt aus dem Nichts, die angeblich plötzliche „Flüchtlingswelle“ nicht und auch nicht der Fremdenhass von Pegida, Björn Höcke oder anderen. Aber das Bedürfnis nach einem bestimmbaren Anfangspunkt bleibt trotzdem. Vielleicht muss man ihn also einfach subjektiv setzen.

Ich weiß, es gab diesen Moment, in dem ich zum ersten Mal das Gefühl eines gefährlichen Dammbruchs hatte. Das war noch vor Pegida, im Sommer 2014, als sich auf den Straßen antisemitische Kundgebungen häuften und in Berlin Parolen skandiert wurden wie: „Jude, Jude, feiges Schwein, komm heraus und kämpf allein!“ Eine starke Gegenreaktion blieb zwar nicht aus; trotzdem glaube ich heute, dass wir uns von dieser Grenzüberschreitung nicht mehr erholt haben. Dass da etwas ins Rutschen geriet.

Auch diese Eruption hatte natürlich eine Vorgeschichte, ein eigenes Kontinuum. Die Schriftstellerin Lena Gorelik hat das untersucht – und aufgezeigt, wie der Antisemitismus nicht zuletzt über die Kanäle von Populär- und Hochkultur seit Jahren stückchenweise vom privaten in den öffentlichen Raum vordringt.

Dennoch war etwas anders nach den Berliner Ereignissen, etwas hatte sich verschoben. Als brauchte man nun endgültig nicht mehr die Nische des berühmten Stammtischs oder die indirekte, kulturell gefederte Form des Rapsongs oder der Karikatur. Man konnte unter dem Schutz ausreichend vieler Gleichgesinnter seinen Hass jetzt offen auf der Straße abladen – oder dort überhaupt erst in sich entdecken, sich anstecken, mitreißen lassen. Plötzlich war es ganz einfach, plötzlich schien es irgendwie okay zu sein. Jene unsichtbare dünne Risslinie zu überschreiten, macht aber einen riesigen Unterschied. Auf diese Selbstermächtigung verbaler, später auch physischer Gewalt ließ sich aufbauen. Pegida und AfD waren da nur der nächste Schritt.

Dass da auch in mir etwas einriss, habe ich lange nicht sehen wollen. Wahrscheinlich konnte ein Teil von mir einfach nicht lassen von dem Triumphgefühl damals auf dem Fahrrad, auf dem Heimweg vom Jugendzentrum. So ging ich zu den großen Gegendemonstrationen, als Pegida immer penetranter marschierte, und zusammen mit vielen anderen Autoren tat ich, was eben die meisten Menschen um uns herum auf ihre je eigene Weise probierten: Wir suchten nach Wegen produktiven Engagements, unterstützten Hilfsprojekte, schrieben Texte gegen Hass und Rassismus, stellten sie ins Netz, trafen uns mit Geflüchteten, protokollierten ihre Geschichten. Später veröffentlichten wir ein Buch, eine Anthologie gegen Fremdenfeindlichkeit, veranstalteten damit Lesungen und Diskussionsabende.

Das war und ist alles sinnvoll, keine Frage. Auch muss ich jetzt hier nicht noch mal über die langsame, aber umso nachhaltigere Wirkung kleinteiligen Engagements referieren und darüber, dass zu einem allmählichen gesellschaftlichen Bewusstseinsprozess auch und gerade die Schreibenden ihren Anteil beitragen müssen. Denn Fremdheit ist eine schöpferische Kraft, für die Gesellschaft, aber auch in der Literatur. Sie lebt von der Ambivalenz, von Reibung und Widersprüchlichkeit.

Natürlich gilt das alles noch. Aber vielleicht will ich es auch deshalb nicht noch einmal breittreten, weil ich es einfach selbst nicht mehr recht hören kann. Und genau das beunruhigt mich so; dass ich meinen eigenen Worten nicht mehr richtig traue; dass ich, obwohl ich Alarmismus eigentlich ablehne, weil er fast immer kontraproduktiv ist, den Eindruck einer schleichenden Eskalation nicht loswerde und mich im nächsten Moment schon wieder frage, ob ich damit nicht längst selbst jenem Furor aufsitze, den ich an den Rechten und ‚Besorgten‘ so verachte.

Noch vor ein paar Monaten schrieb ich im Vorwort zu dem Buch Fremd, „die reine Konfrontation, das Sich-gegenseitig-runterschreien-oder-anschweigen (…) – droht das nicht, allzu leicht in Verknöcherungen zu führen? Es muss doch zumindest noch einen weiteren Weg geben“. Ich meinte einen zugewandteren, diskursiveren Weg und berief mich sogar noch auf Jean Améry und seine Ressentiments, die er bei aller Wut stets auch als Angebot zu einem zornigen Gespräch mit der anderen Seite, den verkappten Nazis, verstand. „So ist das Ressentiment nicht zuletzt auch eine Verbindung zur Mitwelt, in der der Feind wieder zum Mitmenschen wird, und sei dies auch nur in einer utopischen Hoffnung.“

Die Hoffnung bleibt, und ich rede mir beherzt zu, dass natürlich auch der widerwärtigste Pöbler noch ein Mitmensch ist, selbst wenn schon der sächsische Ministerpräsident sagt, die Hetzer von Clausnitz und Bautzen seien „keine Menschen“ mehr. Aber bei allem Willen, bei aller Ratio: Mit meinem Gefühl stimmt etwas nicht mehr richtig. Manchmal, wenn ich montags zufällig am Odeons- oder Marienplatz vorbeikomme, wo Pegida nun wieder verstärkt „Mahnwachen“ abhält, ertappe ich mich mit Schrecken bei dem Wunsch, vom Fahrrad zu steigen, ganz ruhig zu einem der Pegisten hinzugehen und ihm ansatzlos mit voller Wucht ins Gesicht zu schlagen – einfach weil er nach eineinhalb Jahren Diskussion hier immer noch steht und sein dummes, hundertmal widerlegtes Zeug herumplärrt und weil er deswegen nichts anderes ist als ein beschissenes rassistisches Arschloch.

Einfach nur zuschlagen. Vielleicht auch sich selber eine einfangen. Alles wäre dann Schmerz und Klarheit.

Natürlich, mir ist bewusst, dass das nur Affekte sind, kurze Entgleisungen, gegen die niemand gefeit ist. Andererseits: ist das nicht wenig. Der Riss ist jetzt auch in mir.

Vor ein paar Tagen bin ich nachts schweißgebadet aus dem Schlaf aufgeschreckt. Ich weiß nicht mehr, was ich geträumt hatte, aber ich weiß, dass meine Furcht mit dem Erwachen nicht verschwand, sondern ich wie erstarrt verharrte und ohne zu atmen nach draußen horchte, vollkommen sicher, dass sich von dort etwas mit großer Geschwindigkeit näherte, vielleicht ein Angriff, vielleicht ein Sturm. Meine Freundin, die von meinem schnellen Hochschrecken neben mir aufgewacht war, fragte verschlafen „Was hast du, was ist denn da?“, und nach einem längeren Moment, in dem ich weiter nur reglos in die Stille lauschte, flüsterte ich: „Ich weiß es nicht, aber ich glaube, es geht los.“

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