Menschen stürzen sich von Klippen oder paddeln durch Stromschnellen – und halten sich für mutig. So ein Unsinn! Dabei brauchen wir echte Courage heute mehr denn je.
Helden! Mut! Heldenmut! In der Waldorfschule wurden uns die schönsten Biografien erzählt. Einige handelten von Heldentaten. Man versprach sich davon, dass wir uns ein Beispiel daran nehmen würden. Die Methode ist nicht ganz verkehrt, positive Leitbilder können nicht schaden. Immer wieder habe ich versucht, wie Einstein zu rechnen und wie die Callas zu singen. Versucht. Umgekehrt hätte es wahrscheinlich besser geklappt.
Ich bin zwar selbst nicht gerade eine geborene Heldin, aber wenn einer was Mutiges tut, merke ich das sofort und bin hin und weg. Na gut, nicht immer. Es gibt Mutproben, die finde ich alles andere als bewundernswert oder nachahmungsbedürftig. Wenn Menschen in den Sommerferien von extrem hohen Schluchten ins Meer springen, wenn sie Canyons runterpaddeln, die nur für Profis geeignet sind, wenn sie 5.000er besteigen ohne Ausrüstung und Erfahrung, frage ich mich schon: Warum?
Warum tun sie ausschließlich Dinge, die lebensgefährlich sind, für die andere lange trainieren, für die man Bescheid wissen muss über die Umgebung und das Wetter? Brauchen sie einmal im Jahr einen Kitzel, um sich zu spüren, weil sie die restliche Zeit des Jahres in einem Büro vor einem Computer gefangen sind? Das geht auch nicht immer gut, es gibt Verletzte und Tote, aber genau das scheint den Reiz auszumachen. Der Bericht eines Querschnittsgelähmten hat mich lange beschäftigt, er war in eine Schlucht gesprungen, aber gegen die Felswand geprallt. Meine Freundin Thea klettert jeden Mittwoch in der Halle, allerdings angeseilt, gesichert von einem weiteren Kletterer – ich bin immer froh, wenn ich sie donnerstags zum Bäcker laufen sehe.
Es gibt Eisklettern, da hangelt man sich an Kaskaden gefrorener Wasserfälle, an Eiszapfen entlang zum Gipfel. Man kann auch in Kanadas Wäldern spazieren gehen, da, wo die Bären hausen, und extra kein Gewehr mitnehmen. Es gibt so Einiges, was man machen kann. „Ti puzza la salute“ – dir stinkt die Gesundheit, sagt man im Italienischen dazu.
Es gibt aber auch unendlich viele Möglichkeiten, echten Mut zu bewiesen. Schindler war ein Held, was Zivilcourage betrifft, Messmer in den Bergen und Madame Curie im Labor.
Ich bin kein Angsthase. Habe eine große Klappe und die Partisanin in mir regt sich augenblicklich, wenn ich Ungerechtigkeiten in meiner Umgebung zu bemerken glaube. Am Theater etwa spaziere ich sofort zum Intendanten, beschuldige ihn der Menschenverachtung, handele mir jede Menge Ärger ein, bin die geborene Klassen-, Schul- und Elternsprecherin. Es ist erstaunlich, dass ich nicht in einem Ministerium für Justiz gelandet bin. Auch heute noch lese ich gerne Biografien von Helden, meistens strandeten sie im Gefängnis, auf dem Scheiterhaufen oder – mit ganz viel Glück – im Exil.
Vor ein paar Jahren hat die Akademie, deren Mitglied ich bin, sich mit folgendem Problem auseinandersetzten müssen: Ein paar Mitglieder hatten Stasimitarbeiter in der Akademie identifiziert und deren Ausschluss verlangt. Sie wollten nie wieder mit diesen Menschen zu tun haben müssen. Menschen, die maßgeblich ihre Karriere manipuliert oder verhindert hatten. Sie hatten ihren ganzen Mut zusammengenommen und einen Brief an den Akademievorstand verfasst, in dem sie ihre Problematik beschrieben.
Ich dachte, der Fall läge ganz klar und würde schnell gelöst sein, innerhalb weniger Tage würden sich die ehemaligen IM zurückziehen. Wer bleibt schon unerwünscht auf einem Geburtstagsfest? Wer hängt schon an einem Verein, der weder Geld noch besonderen Ruhm einbringt? Weit gefehlt, die Beschuldigten bewegten sich nicht. Keine Erklärung kam aus ihrer Ecke, keine Rechtfertigung, kein Austritt nichts. Stille.
Die Opfer fühlten sich einmal mehr gedemütigt. Es wurde eine Sonderkommission einberufen, um sich dieser Sache anzunehmen. Nach unzähligen Diskussionen wurde beschlossen, alle Akten dieser EX-IMs zu lesen, sich mit ihnen zu unterhalten, die Gründe für ihren Beitritt zur Stasi zu überprüfen, um dann zu entscheiden. Vielleicht waren sie gezwungen worden? Sehr jung überlistet, nicht in der Lage sich zu wehren? Man orientierte sich an anderen Akademien und Vereinen. Wie gingen andere öffentliche Anstalten mit dem Thema um? Schließlich waren schon 20 Jahre ins Land gegangen, selbst Totschlag verjährte…
Ich muss zugeben, mich brachte die Form der Auseinandersetzung aus dem Lot. Wenn nur ein einziges Opfer sich von der Anwesenheit eines Täters bedroht fühlt, muss der Täter gehen. So sehe ich das, mein Credo, und darin war ich unbeweglich.
Man bat mich, erst die Akten zu lesen, dann zu urteilen. Man müsse seinen Mut zusammennehmen und sich den Aktenbergen stellen. Bitte? Was für einen Mut muss denn das Opfer aufbringen, jedes Mal wieder mit seinem Peiniger am Tisch zu sitzen? Und wer waren wir? Den Haag? Wie konnten die anderen glauben, nach der Durchsicht der Akten besser urteilen zu können?
Ganz ehrlich, mich interessierten die Täter weitaus weniger als die Opfer, mit denen ich mich sofort identifizierte. Ich hütete mich davor, die jüdische Keule der „Nazizeit“ zu schwingen, ja, da blieben auch viele Nazis in ihren behüteten Positionen, während die Opfer nie wieder auf die Beine kamen. Nein, das sagte ich nicht. Auch nicht, wie idealisiert und beliebt bei dem Thema RAF die Täter sind. Sie geben die besten Kinostoffe ab, während man sehr selten erfährt, wie es den Kindern von Schleyer und Ponto geht.
Ist es mutiger, das Schicksal der Täter zu durchleuchten oder sich dem Schmerz der Opfer zu stellen? Braucht es Mut, die Stasiakten zu lesen? Und muss man besonders mutig sein, um zu richten, auch auf die Gefahr hin, sich zu täuschen? Feige wäre, nichts zu tun, darin stimmten alle überein. Von den angeklagten IM fehlte nach wie vor jede Aussage, jede Stellungnahme.
Schon bald verließ ich die Kommission. Ab und zu hörte ich, dass man sich mit den Beschuldigten traf, dann wieder kiloweise Akten las. Noch später erzählte man mir, man habe sich geeinigt. Das Ergebnis sei intern, aber ein sehenswerter Film sei entstanden.
Letztes Jahr verbrachte ich den Sommer in der Toskana. Wir probten an einem Theaterstück, an dem ein ganzes Dorf beteiligt war. Es ging um Partisanen und Faschisten in den letzten Kriegstagen. Dass hier gemordet worden war, wusste ich, dass noch heute ein Riss durch die kleinen Dörfer dieser idyllischen Umgebung ging, wusste ich nicht.
Hätte man die Massaker verhindern können? Wer war schuld? Die Partisanen, weil sie die Nazis provoziert hatten? Die Vergeltungsschläge hatten viele Opfer gefordert. In den Dörfern sprach man seit 70 Jahren nicht darüber, man musste miteinander weiterleben, irgendwie.
Begleitend zum Theaterstück gab es einen Kongress. Deutsche und italienische Historiker untersuchten minutiös diese letzten Kriegswochen.
Sommer ’44, die deutsche Wehrmacht ist mehr als angeschlagen. Die Alliierten sind auf dem Vormarsch. Sie klettern von Süden hoch, sie drängen von der Adria rein und übers Mittelmeer. Die Truppen in der Toskana bestehen aus Soldaten, die schon traumatisiert aus Afrika kommen, aus Kindern – oder wie soll man den 16-jährigen Nachschub nennen? – und strammen Nazis, SS-Gruppenführern, die jetzt auf der Flucht, in die Enge getrieben, erst recht auf alles schießen.
Die Toskana wird Schauplatz brutaler Vergeltungsschläge. Italienische Kinder, die diese Massaker überlebt haben, sind auf den Kongress eingeladen, sie erzählen. Inzwischen sind sie alte Leute, aber die Erinnerung ist nicht verjährt. Sie suchen nach den richtigen Worten, um nicht zu weinen. Ich schreibe mit, versuche zu verstehen.
In der Mittagspause sehe ich drei Männer im Hof herumstehen. Abseits, als hätten sie sich in Ort und Zeit geirrt, fehl am Platze. Nach der Pause aber sitzen sie auf dem Podium. Sie sind Kinder der Nazigrößen, die sich hier ausgetobt haben. Sie beschreiben, wie sie herausgefunden haben, wer ihre Väter waren, sie suchen den Blick der alten Leute, die einmal Kinder waren, stottern, suchen nach den richtigen Worten, um nicht zu weinen.
Sie entschuldigen sich für etwas, das sie nicht getan haben, das ihnen zusetzt und ihr Leben bestimmt. Sie sind heruntergefahren in die Orte des Verbrechens, um sich zu stellen, den Menschen, den Fragen, der Erinnerung.
Was sich da oben auf diesem Podium in der Mittagshitze der Toskana abspielt, ist unglaublich.
Mal erzählen die einen, dann die anderen, zwischendurch ist Stille. Sowohl die Zuhörer als auch die Teilnehmer halten den Atem an. Ich habe den allergrößten Respekt, vor allen.
Ich weiß nicht, was Versöhnung genau ist, es ist ein zu großes Wort. Es hat auf jeden Fall mit Mut zu tun, mit einer Menge Mut. Ja, ich glaube, dass dieses Treffen die größte Mutprobe ist, die ich jemals gesehen habe, und auch die wichtigste. Komischerweise ist sie nicht lebensbedrohend, sondern bejahend. Und so viel sinnvoller, als in eine Schlucht zu springen.
(Später am Nachmittag sind die Kinder der Überlebenden und die Kinder der Nazis zusammen essen gegangen. Ich saß aber am Nachbartisch, mir fehlte der Mut.)
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