Sie werden irre, sie implodieren: wegen der Welt, wegen sich selbst und wegen der anderen. Luca Guadagninos Film A bigger Splash ist ein Thriller über schöne und reiche Punks.
Als der grundsympathische Kinoseparatist Luca Guadagnino, 45, auf dem London Filmfestival von dazu gezwungenen Filmstudenten gebeten wird, irgendwas zu seiner neuen Arbeit zu sagen, muss er kurz lachen. Dann erwidert er folgendes: „It’s a movie about rock ’n‘ roll.“ Er sieht nach oben, tut so, als würde ihm der Rest seiner Erläuterung in dieser Sekunde zum ersten Mal zufliegen, und fährt fort: „It’s a movie about nostalgia of the great times that will never be back. About love and posession. A movie about desire. And, most importantly: it’s a movie about people.“
Hört man dieses Statement, kommt einem das ein bisschen unfundiert vor und wie etwas, dass ein Regisseur genauso gut über seine neue Amazon-Serie oder Harry Potter 3 sagen könnte. Dann sieht man den Film. Und erkennt, dass mit Guadagninos rudimentärer Zusammenfassung tatsächlich sehr viel mehr gemeint ist als das, was modernes Erzählkino zurzeit bietet. Sein neuer Film ist ein Film über Menschen, ja. Ein Film, der souverän genug erzählt wird, um ruhig mal auseinanderfallen zu können, ein Film, der bei den Charakteren bleibt statt deren Tiefe für den „Flow der Story“ und „das Wohlwollen des Publikums“ zu opfern; und je länger man sich mit der Frage beschäftigt, was ihn vom Rest der auf Massenerfolg ausgelegten Geschichten dieser Größenordnung unterscheidet, desto mehr fällt einem dazu ein.
A bigger Splash kommt am Donnerstag in die Kinos. Tilda Swinton, mit der Guadagnino seit dem Ende der Neunziger immer wieder zusammengearbeitet hat, spielt die Hauptrolle Marianne Lane, eine Art weibliche Version von David Bowie, die nach einer Kehlkopfoperation nicht sprechen darf und permanent Gefahr läuft, ihre Stimme zu verlieren. In der ursprünglichen Version sollte Marianne Lane eine Schauspielerin sein, doch Tilda Swinton sagte ihre Rolle nur unter der Bedingung zu, sie stumm spielen zu dürfen; sie befand sich, wie sie in letzter Zeit mehrfach erklärte, in einem Zustand, in dem sie weder etwas sagen konnte noch wollte. Grund genug für den Regisseur, sein High-Budget-Projekt Swintons Lebensphase entsprechend umzugestalten und aus der Schauspielerin einen Rockstar zu machen, der die erste Hälfte des Films weder in einer Großaufnahme zu sehen ist, noch irgendetwas Bezeichnendes zu sagen hat. Das ist absolut großartig.
Bereits 2009 hatten die beiden einen übergreifenden Erfolg mit dem Projekt I am Love; mehrere Studios schlugen Guadagnino daraufhin Projekte vor, die inzwischen erfolgreich realisiert wurden, aber nicht von ihm. Er tat das einzig Richtige und ließ sich für seinen vierten Spielfilm mehrere Jahre Zeit, bis Studiocanal ihm eine freie Neuinterpretation des Klassikers La Piscine vorschlug, Swimming Pool, ein Kolportagedrama mit Romy Schneider von 1969, das die wenigsten gesehen haben und trotzdem immer wieder als Referenz für die Bewertung von Feriendomizilen oder Bademode heranziehen („Ah, hübsch, diese Gartenmöbel, und hübsch auch dein neuer Bikini – genau wie in diesem Film aus den späten Sechzigern“).
Den Film hat Guadagnino, genau wie ich, als Teenager gesehen – und, genau wie ich und viele meiner Bekannten, nicht unbedingt als bahnbrechend empfunden. Trotzdem schien ihm das Grundgerüst dessen, was die Figuren auf psychosozialer Ebene miteinander verhandeln, wertvoll genug zu sein, um daraus eine zeitgemäße Variante mit umgekehrten Geschlechter- und gravierenden Sozialverhältnissen zu drehen. Spielt La Piscine noch auf St.-Tropez, einem Ort, den man eindeutig der High Society zuschreiben und damit zwar als abgründig entlarven, aber nicht gerade als Abbild einer gesamten Gesellschaft verwerten kann, ist A bigger Splash auf der italienischen Vulkaninsel Pantelleria angesiedelt; Steinwüsten, Asche, Ausnahmevillen neben totaler Armut und massenweise Boatpeople, über deren Ertrinken im Hintergrund was im Fernsehen läuft, während die Protagonisten Ricotta probieren und den umwerfendsten kulinarischen Moment ihres Lebens zu haben scheinen.
War La Piscine ein Psychodrama über die ewige Finsternis der Reichen und Schönen, ist A bigger Splash ein Thriller über reiche und schöne Punks, die sich ihrer gesellschaftlichen Stellung bewusst sind und sie verachten und reflektieren können. Und trotzdem werden sie irre, sie explodieren nicht, sie implodieren, wegen der Welt, wegen sich selbst, wegen der anderen, und weil die Neurosen eines Weltstars in diesem Film mit derselben Vehemenz verhandelt werden wie das Elend 40 ertrunkener Flüchtlinge.
Marianne Lane, die in kurzen Rückblenden vor einem Massenpublikum auf der Bühne steht, macht jetzt also Urlaub mit ihrem jungen Lover; Matthias Schoenaerts, dessen Rollenname mir gerade beim besten Willen nicht mehr einfallen will. Sie liegen rum, haben Sex im Pool, reiben sich am Strand mit irgendeinem Schlamm ein, plötzlich taucht Mariannes Ex Harry auf und hat seine Tochter Penelope im Schlepptau, von der bis vor Kurzem nicht mal er selbst gewusst hat und die zu allem Überfluss auch noch seinem Beuteschema entspricht.
Wir haben nun also die halbstumme Weltstar-Matriarchin, ganz ruhig und weise, ein bisschen verzweifelt, die sich nach ihrer hysterischen Beziehung zum Rolling-Stones-Manager Harry in den jüngeren Matthias Schoenaerts verliebt hat; wir haben Matthias Schoenaerts, den depressiv-sensiblen Dokumentarfilmer, der seit Kurzem, das wird auf eleganteste Weise gleichzeitig nebenbei und voll auf die 12 erwähnt, trockener Alkoholiker ist; wir haben Penelope, Harrys Tochter, extrem schlecht und gerade deshalb gut gespielt von Dakota Johnson, die genau das zu machen scheint, was ihr Gegenspieler Jamie Dornan in 50 Shades of Grey an offensichtlicher, bekloppter Pseudosexyness vorgelebt hat.
Und Ralph Fiennes als Harry, ein totaler Maniker, der bei jeder sich bietenden Gelegenheit nackt in den Pool springt, Autounfälle baut, durchdreht, ungefragt ein paar Italoschlampen in das Ferienhaus seiner Freunde einlädt und zum zwanzigsten Mal übereuphorisch darüber referiert, wie er die Rolling Stones dazu gebracht hat, Musik mit Mülltonnen zu machen. Er will Tilda zurück, Dakota will mit Tildas Lover schlafen, zwischendurch taucht die für die Protagonisten arbeitende italienische Mittelschicht auf, in einer Mischung aus bewundernder Ergebenheit und Missgunst, im Mittelmeer ertrinken Menschen, die Grundkonstellation ist also das, was Fachleute als „explosive Mischung“ bezeichnen würden. Vier Schauspieler, die endlich rollen spielen, die vollkommen über die Typmäßigkeit hinausgehen, die man ihnen gemeinhin unterstellt – Musik von den Rolling Stones gibt es auch, außerdem einen der besten Filmscores seit den Sechzigern – und einen absolut modernen Umgang mit der Widersprüchlichkeit unserer Welt.
Der Film knapp über zwei Stunden lang, das Publikum geht raus, findet die Bilder schön und unterhält sich darüber, ob das alles nicht zu „vollgestopft“ sei, ob es statt 20 nicht auch zehn emotionale Erzählstränge getan hätten, ob es nicht besser gewesen wäre für die Zuschauer, offengelegt zu bekommen, wer wen mit wem betrügt und wer was über welchen Mord weiß und was wer denn eigentlich wirklich empfindet. Zum Glück ist dieser Film genauso wenig nachvollziehbar wie das Leben selbst, denn das macht ihn aus.