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Ausflug ins Land der Dichter und Henker

 

Zehn Kilometer liegen zwischen Buchenwald und Weimar. Sah man vom Schillerhaus aus den Rauch der Krematorien? Unsere Autorin will ihrem Sohn das Unvorstellbare zeigen.

© Jens Schlueter/Getty Images
© Jens Schlueter/Getty Images

„Land der Dichter und Denker, Land der Richter und Henker“, ist das diesjährige Motto der Klassenfahrt meines Sohnes. Er ist in der 10A. Weimar steht, vermute ich, für die Dichter, Buchenwald für den Rest. Nun hat sich herausgestellt, dass er fehlen wird, weil er für vier Monate ins Ausland geht, und ich als beflissene jüdische Mutter erkläre: „Alles darfst du verpassen, MSA, Bundesjugendspiele, Klassenarbeiten, aber nicht die Gedenkstättenfahrt!“

Letzten Sonntag sind wir los. Nachts habe ich kein Auge zugetan, dabei habe ich in jahrelangen Sitzungen bei Frau Dr. Luise gelernt, dass nicht ich im Lager war, sondern alle anderen, das bringe ich aber immer mal wieder durcheinander.

Sammy schläft auf der Stelle ein, sobald sich der Zug in Bewegung gesetzt hat, sein Kopf liegt auf dem ICE-Speisewagentisch, direkt neben dem Gourmetfrühstück. Georg liest Nietzsche und hört zeitgleich Brahms, und ich versuche, mich mit der Wochenendausgabe der SZ auf andere Gedanken zu bringen. Gerade sind drei mir bekannte Künstler gestorben, und mein Freund Raffi hat ein Interview gegeben, in dem er alle Deutschen als Nazis beschimpft, außer seinen türkischen Obsthändler. Er ist inzwischen total meschugge und merkt es nicht mehr. Ich lege die Zeitung zur Seite.

Halle an der Saale soll auch hübsch sein oder zumindest gewesen sein, wir könnten schon hier aussteigen, und den Rest vergessen…?

Vor drei Jahren waren Georg und ich schon einmal in Buchenwald. Man hatte mich gebeten, die Rede zum 9. November im Landtag zu halten. Ich hatte mir gedacht, zur eigenen Einstimmung wäre der Besuch der Gedenkstätte sinnvoll. In der Ausstellung, die in ihrer Schrecklichkeit ganz großartig ist, lief ganz hinten kurz vor dem Ausgang ein Video mit Aussagen von Inhaftierten. Ich setzte mich kurz hin, um besser zuhören zu können. Der Mann, der erzählt, dass er Lagerfriseur war, dieser Mann kommt mir bekannt vor. Wenn die Transporte ankamen aus Auschwitz oder aus Wien oder sonst woher, musste er durcharbeiten, bis alle Männer geschoren waren. Zehn, 15, 20 Stunden lang. Der Mann, Rolf Kralovitz, ist ein Cousin meiner Mutter, ich erkenne ihn wieder, ich wusste nicht, dass er hier war. Ich möchte mich hinlegen und schlafen.

Habe ich eine sadistische Ader?, frage ich mich beim Umsteigen in Erfurt. Muss Sammy die gleichen Erfahrungen machen? Andererseits ist es unsere Geschichte, die Geschichte Europas – ob er will oder nicht, er gehört dazu.

Erfurt spielt in der dritten Liga, aber das hält die Fans nicht davon ab, schon am Bahnsteig Siegeslieder einzustimmen. Sie sind auf jeden Fall besserer Laune als ich…

Diesmal ist es ein wunderschöner Maitag, an dem man alles machen könnte, natürlich auch in ein KZ gehen, aber alles andere wäre auch schön.

Es kostet keinen Eintritt, das Lager zu besuchen. Ich bin dankbar, das erspart mir bissig-blöde Bemerkungen.

Dafür steht „Jedem das seine“ am Lagertor, gusseisern, nur von innen zu lesen. Sammy ist schockiert, fragt mich, wer verantwortlich war für diesen perfiden Spruch, die Reise hat sich schon gelohnt.

Die eigentliche Ausstellung ist wegen Renovierung geschlossen, ich bin verärgert, aber nur kurz, ein ehemaliger Pionier, der beim Bau des Mahnmals 1955 dabei war, nimmt sich unser an. Er sagt: Wissen Sie, wer Mengele war? So einen hatten wir hier auch…

Eine Stunde dauert seine Führung, ja klar, sehr ostig, aber erfrischend unsentimental. Er ist immer noch Pionier, denke ich. Die Frühlingssonne scheint auf das Krematorium.

Sammy fragt, was der Lagerälteste im Unterschied zum Kapo machen musste, wie viele ermordet wurden, und wieso immer Deutschland mit den Kriegen beginne? Wie unvorstellbar, wie sinnlos, wie lange man auf dem Appellplatz stehe. Ich kann ihm nur recht geben.

„Hast du gesehen, wie dünn die Ärmchen der Inhaftierten waren, am 11. April, als die Alliierten sie fotografierten? Die gestapelten Toten, nackt, wie gerupfte Hühner. Und daneben die SS immer noch grinsend.“

Nur einmal die Stunde fährt der Bus von Buchenwald nach Weimar, wir versuchen es mit Trampen, aber keiner traut uns. Vielleicht müsste ich einen gelben Stern tragen, um eine Mitfahrt zu bekommen? Diese blöden Witze fallen mir immer ein, Sammy meint, viel zu oft.

Weimar hat sich herausgeputzt. Die kleinen Gassen, die herrlichen Fassaden, Eisdiele Venezia, Gelati Roma. Alle tun so, als hätten sie Goethe und Schiller gelesen, dabei Liszt geträllert. Ich gönne niemandem, dass er überhaupt lebt, wenn nur 10 km vom Goethehaus entfernt gefoltert wurde. Ich möchte, dass alle Trauer tragen, dass keiner in der Sonne „latte matschato“ trinkt! Man konnte vom Schillerhaus aus wahrscheinlich den Rauch aus dem Krematorium sehen! Na, noch Zucker in den Kaffee?

Der Landschaftspark an der Ilm ist wunderschön, ich beruhige mich ein wenig, wir sprechen über die Weimarer Republik und über den Dreißigjährigen Krieg, so als Abwechslung.

Sammy sagt: „Ich habe verstanden, wir können fahren.“ Wir kaufen uns ein Eis und eine Thüringer Rostbratwurst, dann ist uns allen dreien gleichermaßen schlecht.

Erfurt hat gegen Holstein Kiel 3 : 0 gewonnen. Eine Hundertschaft bewacht das abgesperrte Gleis. Es riecht nach Destille und Zoo. Nein, ich habe keine Panik vor so viel Polizeipräsenz, ich bin ja auch aus dem KZ wieder raus, nicht wahr?

Abends, in der sicheren Altbauwohnung in Schöneberg, schauen wir Nackt unter Wölfen. Das Lager, die Häftlinge, die SS, ein Kind, das gerettet werden soll, die nahenden Alliierten. Buchenwald eben.

Man kann nicht immer so einen Ausflug machen. Aber Sammy kann jetzt losfahren, er hat die Dichter und Denker, die Richter und Henker ein bisschen genauer kennengelernt. Das kann nicht schaden, auch nicht in Neuseeland.

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