Keine Sinnfragen stellen, lieber an der Ertüchtigung arbeiten. Laufbänder und Gewichte stehen rund um die Uhr bereit. Statt in Kirchen büßen wir heute in Fitness-Studios.
Was gibt es Neues bei McFit, habe ich mich neulich gefragt. Die Love Parade ist in Vergessenheit geraten und der Prozess gegen die Veranstalter, zu denen auch der Gründer von McFit gehört hatte, ist erst mal im Sande verlaufen. Der Ruf wiederhergestellt und aufpoliert. Ist sonst etwas bei McFit passiert?
McFit hat seine 24-Stunden-Politik beibehalten, ich kann also jederzeit, auch mitten in der Nacht, rein. Manchmal laufe ich am späten Abend zufällig vorbei und die leeren, erleuchteten Räume sehen dann wie ein Straflager aus, das bereitgehalten wird für eine massenhafte Inhaftierung. Die Geräte sind Entwürfe, Ergebnisse des neusten Brainstormings einer riesigen hyperintelligenten Maschinerie, die hier lieber nicht mit Namen genannt werden will.
Samstagvormittags um acht Uhr ist es besonders deprimierend. (Allerdings auch auf eine irgendwie angenehme Weise). Manchmal macht dann der Trainer seine Runde und begrüßt die ersten Gäste, schaltet die Fernseher ein, bedankt sich bei der Putzkolonne, die den Nachtschweiß vom Boden gewischt hat. (Vielen Dank, könnte er sagen, aber er sagt nur „Super.“) Um diese Zeit sind die Räume verwaist, obwohl es jederzeit wieder losgehen könnte. In der Erinnerung fühlt sich das an wie ein ungelesener hyperrealistischer Roman irgendwo zwischen Dave Eggers und David Foster Wallace. Orte, wo die Literatur ihre Muskeln spielen lässt. Nicht-Orte, Räume von fast diktatorischer Leere. Amerikanische Orte und Landschaften, die so runtererzählt werden können. Die Maschinen stehen da, Laufbänder, Laufmaschinen, weiter hinten die Gewichte. Figuren, die gleich ihr ganzes Leben ausplaudern, wenn man nicht aufpasst und Distanz hält. In solchen Momenten, innerhalb der unendlichen 24-Stunden-McFit-Schicht, kommt Traurigkeit auf. Melancholie. Aber man ist besser schon unterwegs, trainiert, schaut, dass man die ganze Sache zum Laufen bringt.
Man kann bei McFit laufen, ohne voranzukommen. In den letzten Wochen habe ich es mit Tolstoi versucht, aber mit Tolstoi geht es jetzt nicht weiter, weil ich konsequenterweise die Lektüre des Romans auf die Stunden bei McFit beschränkt habe (und den Roman in Wirklichkeit nicht lese sondern nur auf meinem Mp-3-Player höre). Und wenn es bei McFit nicht weitergeht, geht es auch bei Tolstoi nicht weiter. Trotzdem ist das der richtige Ansatz. Die Literatur läuft im Hintergrund, im akustischen Übergangsraum zwischen McFit-Techno-Soundtrack und der Arbeit der inneren Organe.
Frauen, die sich vor pinkfarbenen Oldtimern räkeln
Der Bundeswehroffizier, der die Task Force in Afghanistan leitete, ließ sich dazu überreden, es mal mit David Foster Wallace zu probieren. Er berichtete, er habe Interviews with hideous men im Fitness-Studio des Lagers in Kundus gelesen, das intern „Hall of Pain“ genannt wurde. „Super Erfahrung“, sagte er am Telefon. Es liegt wahrscheinlich an der fehlenden militärischen Gesinnung, dass ich bei Tolstoi seit Monaten nicht weiterkomme. Nicht nur habe ich die Namen der Figuren vergessen, ich weiß auch schon nicht mehr, worum es in den ersten 10 auf meinem I-Pod gespeicherten Kapiteln überhaupt geht. Liegt es daran, dass meine Körperzellen sich GEMERKT haben, dass ich jeden Monat 19,90 an McFit überweise, ohne dafür auch nur einen Finger zu krümmen? Morgens ist es besonders traurig. Samstag- oder Sonntagsmorgens. Wenn sonst niemand da ist. Hat überhaupt irgendjemand mitten in der Nacht mal bei McFit trainiert? Es muss wie in einem situation room sein. Es passiert ganz viel in der Welt da draußen, aber nicht in der eigenen kleinen Welt, die man gerade noch so kontrollieren kann. Eine Putzkraft wischt in zirkulären Bewegungen um die vor mir stehende Laufmaschine herum, an der ein „Außer Betrieb“-Schild hängt. War hier jemand in der Nacht und hat sich verausgabt?
Was gibt es Neues bei McFit? In meiner Filiale gibt es offenbar keine Handtücher mehr, die man für fünf Euro aus dem Automaten ziehen kann. Auch die Glasflaschen sind weg, aus denen ich Multivitamin-Saft getrunken habe. Und sonst? Auf den Bildschirmen? Frauen fotografieren Frauen. Die meiste Zeit treiben die Menschen in den Bildschirmen harten Extremsport, rasen Abhänge herunter, anonyme Straßen irgendwo in Kalifornien, stürzen sich von Felskanten in den Schnee oder ins Wasser. Aber plötzlich sind auf einmal Frauen aufgetaucht, die Frauen fotografieren. Wie sie sich vor pinkfarbenen Oldtimern räkeln. Die Idee scheint zu sein, dass es irgendwie OK ist, wenn Frauen Frauen fotografieren. Als wäre ein Porno, den eine Frau gedreht hat, weniger Porno. Die Foto-Shootings, die man bei McFit sehen kann, sind an der Grenze zur erotischen Fotografie. Es könnten Sportlerinnen sein, die mal auf den Auslöser drücken so zwischendurch, in den Pausen während des Trainings. Frauen fotografieren Frauen, die gut durchtrainiert sind. Natürlich Frauen, die bei McFit trainieren. Wahrscheinlich sind sie nachts da, wenn sonst niemand da ist und ziehen das durch.
Trainer als festangestellte Selbstbetrüger
Nichts gegen McFit. Schließlich bin ich ja Mitglied, und die Trainer sind irre nett, begrüßen mich immer so, als wäre ich jeden Tag da, ein alter Bekannter, dabei können sie sich unmöglich daran erinnern, wie ich letztes Jahr im Sommer mal vorbeigeschaut und dann im Herbst einmal Tolstois Krieg und Frieden gehört habe. „Wie läuft’s mit Tolstoi? Mit Krieg und Frieden?“, könnte mich einer der Trainer fragen. (Aber er fragt mich natürlich nicht, dafür ist er viel zu höflich.)
Ich stelle die Maschine auf 50 und 15 ein und erhöhe auf 70 und 30. Ich lege das Handtuch, das fünf Euro gekostet hat, weg, wenn ich mich wiege und meide seit einem Jahr die Gewichte. Keine Gewichte mehr, jedenfalls vorläufig. Es gibt Organisationen, „die im genauen Gegensatz zum vorherrschenden Prinzip totale Ansprüche an ihre Mitglieder stellen und innerhalb ihres Kreises versuchen, die gesamte Persönlichkeit zu vereinnahmen“, schreibt der Soziologie Lewis Coser. „Sie könnten gierige Institutionen genannt werden, insofern sie auf das exklusive und ungeteilte Engagement aus sind, und sie versuchen, die Anforderungen konkurrierender Rollen und Statuspositionen an jene, die sie sich einverleiben wollen, zu verringern. Ihre Ansprüche an die Person sind allumfassend.“
Nur gut, dass McFit nicht sprechen und sich nicht artikulieren kann. Die Trainer sind das personifizierte gute Gewissen, die festangestellten Selbstbetrüger, die Täuscher und Poser, die das ganze Leben erträglicher machen. Ohne die netten Trainer wäre es ganz vorbei. Sie sprechen allerdings nicht für McFit. Es kann also so weitergehen. Jeden Monat seinen Beitrag leisten und jeden zweiten Tag darüber nachdenken, ob man am dritten Tag das Training wieder aufnimmt. Als Nächstes werde ich ausrechnen, wie viele Stunden Tolstoi auf meinem iPod noch gespeichert sind und wie viele Stunden Training ich absolvieren muss, um den großen von mir schändlich vernachlässigten Klassiker der Weltliteratur jetzt endlich, vielleicht noch in diesem Jahr, zu bewältigen.
Sanfte, leicht herrische Hitze
Ich habe auch noch Gutscheine im Wert von 120 US-Dollar, die ich bei allen „Fitness-Zone“-Filialen im Libanon einlösen kann, wobei zu überprüfen wäre, was man auf den Maschinen in Beirut einstellen muss, um den gleichen Level zu erreichen wie in Berlin. In Beirut, in der Fitness-Zone in Hamra, habe ich noch nie Tolstoi gehört. Dort höre ich auf meine innere Stimme, die mir vielleicht sagt: „Oh Gott. Wie soll ich das denn jetzt durchhalten?“ Oder: „Ich sollte vielleicht doch ein bisschen mehr Härte zeigen.“ Die libanesischen Trainer und Trainerinnen sind übrigens deutlich attraktiver, lässiger und lebenszugewandter. Ihre Attraktivität und Coolness ist so groß, dass man sie natürlich niemals ansprechen und um Rat fragen würde, ob man die Übung, die man gerade angefangen hat, eigentlich richtig macht.
Gefühlt unterscheiden sich diese Orte nicht groß. Die hyperrealistische zu Metall gewordene autoaggressive Literatur, ob sie nun „McFit“ oder „Fitness Zone“ heißt, ist überall dieselbe Literatur. Es sind überall die gleichen Figuren, die sich jederzeit in Bewegung zu setzen drohen, dann aber doch an Ort und Stelle verharren. Schließlich sind sie fest auf dem Boden verschraubt. Immerhin: Die Gutscheine der Fitness-Zone in Beirut haben kein Verfallsdatum, sie gelten bis in alle Ewigkeit. Genauso wie meine McFit-Mitgliedschaft sich theoretisch bis in alle Zeiten immer wieder verlängert. Das tut sie ganz von allein, ohne Trainer, inneren Monolog, Schuldgefühle oder der Sehnsucht nach der sanften, leicht herrischen Hitze in Beirut in Hamra nach einem Besuch des Studios in der Nähe des Crown-Plaza-Hotels.
Was gibt es eigentlich sonst noch Neues? Was spielt sich dazwischen ab? In der mittleren Belastungszone zum Beispiel. Morgens am Sonntag um halb acht? Wenn man nicht gerade in die Kirche geht und um Vergebung bittet. Eine gierige Institution durch die andere ersetzen? Wäre das die neue, vielversprechende Methode? Oder ist die körperliche Degeneration der bessere Weg. Also die schrittweise Auflösung, der allmähliche Verfall? Die Selbstaufgabe? Ich bin neulich, nachdem ich mir so viele Gedanken gemacht hatte, doch noch mal hingegangen und habe innerhalb einer einzigen Trainingssession fünfzehn Kapitel gehört. Es gibt diese tolle Szene, vielleicht im 12. Kapitel, in der Pierre den Reviervorsteher und einen Bären zusammenbindet und dann in den Fluss wirft, zusammen mit Dolochow, der zuvor in einem offenen Fenster sitzend, freihändig versucht hat, eine ganze Flasche Wodka auszutrinken. Das Kapitel ist so spannend, dass ich in diesem Moment vollkommen vergesse, dass ich trainiere und bei McFit bin. Dolochow balanciert auf dem Fensterbrett, obwohl er vollkommen betrunken ist und den Abgrund direkt vor Augen hat. Er schwebt geradezu in seinem Exzess. Wäre das vielleicht der richtige Moment, um aufzuhören?
_________________
Sie möchten keinen Freitext verpassen? Aufgrund der großen Nachfrage gibt es einen Newsletter. Hier können Sie ihn abonnieren.