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Die Verletzung beginnt schon an der Toilettentür

 

Einer Rollstuhlfahrerin helfen, eine öffentliche, behindertengerechte Toilette aufzusuchen – kein Problem? Von wegen. Unser Alltag würdigt einzelne immer noch herab.

Die Verletzung beginnt an der behindertengerechten Toilette
OMAR TORRES/AFP/Getty Images

„Mit dem Unsichtbarmachen von Individualität und Vielfalt, mit der Repression von Differenzen, mit dem Erfinden von Normen und Codes, die manche ein- und andere ausschließen, beginnen jene Mechanismen von Exklusion, die aus manchen Menschen weniger wertvolle, weniger schutzwürdige Menschen machen“, sagt Friedenspreisträgerin Carolin Emcke. Neulich war’s eine Erfahrung unbedingter Singularität, die mich fürchten und ehrfürchtig werden ließ: der Besuch einer öffentlichen Behindertentoilette. Wer einen körperlich eingeschränkten Menschen pflegt, kennt diese Situation allzu gut und empfindet meine Schilderungen hoffentlich nicht als Zumutung, denn naiv sind sie allemal. Ich bin schüchtern, aber nicht furchtlos. Wenn sich jemand hilfesuchend an mich wendet, bin ich eher der Typ „Ready for action! Wie kann ich dienen?“ als der Vogel Strauß. So fragte ich also, wie ich helfen könnte, als meine Gesprächspartnerin, Mitte 40, in der Gruppe aus Stehtrinkern an einem sommerlichen Open-Air-Ausschank an die Runde mitteilte, dass sie zur Toilette müsse. Der vollelektrische, mit einem Joystick an der rechten Armlehne gesteuerte Rollstuhl nahm alle Hürden bis zur Tür der Toilette mit dem Rolli-Piktogramm leicht. Rechts lud der Knopf mit „Tür öffnen“ ein, eben dieses zu tun, ließ dann allerdings die Tür so weit und breit (Rollstuhl-Zugänglichkeit!) nach außen aufschwingen, dass der Rollstuhl davor schlecht platziert war, denn um ein Haar wäre die Tür der Fahrerin gegen die Nase geschlagen. Die Aktion „Türöffnung“ musste nach der Umplatzierung also wiederholt werden, was einige Zeit – „ich muss ziemlich dringend“ – in Anspruch nahm.

Jetzt müsstest du mir die Hose öffnen

Im Toilettenraum selbst dann Warten auf das langsame Zuschwingen der Tür, die nicht verriegelt werden konnte und damit besiegelt: meine Gefangenschaft. Wie bei allen ersten Malen im Leben ist der einzelne Mensch dankbar für liebevolle Anleitung, gütige, zärtliche Einweisung. So auch hier.

„Ich fahre jetzt mit dem Rollstuhl so heran. Du müsstest neben die Schüssel, da so ein bisschen hinter den Rollstuhl. Ok. Jetzt fällt auf, dass die Hilfsstangen viel zu kurz sind und nicht weit genug zum Auflehnen über die Schüssel hinausragen. Auf der anderen Seite kann ich ja nicht die Schüssel erreichen, wenn der Rollstuhl nicht nah genug an die Schüssel heran kann. Zieh mir bitte die Jacke aus und steck sie in die Tasche hinten an der Sitzlehne. Danke. Und jetzt auch den Umhängebeutel. Ok. Ich stütze mich nun auf die Stange, und du musst hinter dem Rollstuhl nach vorne kommen und meine Beine auf den Boden stellen. Achtung, auch meine Hüfte drehen. Keine Sorge, mir tut nichts weh, du kannst mich nicht verletzten. Ich fühle nichts ab der Hüfte. Und alles ist ein bisschen steif. Keine Bange. Nimm meine Füße aus diesen Fußpedalen und stell mich hin. So ist’s gut. Ich lehne mich nun an dich und richte mich an dir auf. Jetzt – ja, sorry – müsstest du mir die Hose öffnen und dann sie und den Slip runterziehen. Weiter runter, bitte. Ich kann nicht zwischen meine Beine fassen. Zieh einfach. Das ist jetzt etwas seltsam nach einer Viertelstunde im Gespräch, aber ich hoffe, das geht. Gut, jetzt setz ich mich auf die Schüssel.“

(Ihr leichter Körper sackte nun ungestützt und schwer auf die Klobrille, die Schultern eingefallen. Sie bat mich, ihre Haltung durch ein Ziehen an ihrem linken Arm zu korrigieren. „Das ist rechts!“, sagte sie mit Engelsgeduld, aber sehr deutlich. Ich hatte ihr fast den rechten Arm ausgekugelt, ganz zu schweigen von meiner ständigen Anspannung, die Tür könnte jeden Moment aufschwingen und meine neue Freundin entblößt einer Passantenmenge vorführen.)

„So und jetzt kannst du eigentlich gehen. Nein, warte, kannst du nicht. Wenn du rausgehst …“

(Und so blieb ich in der Toilette stehen, meinen Blick auf die Tür gerichtet und mit einer Hand am Griff für den Fall, dass von außen ihr Knopf betätigt werden würde. Es ist dem Humor dieser besonderen Frau, ihrer Sanftmut und der Solidarität unter Frauen allgemein geschuldet, dass wir diese Situation gut und mit der möglichen Restwürde für beide gemeistert haben. Und ich mir wie eine hocheffektive Riesin vorkam, als ich für Toilettenpapier, für das Ankleiden, das Zurücksetzen und das fast nahtlose Einsetzen nach gut 15 Minuten im Gespräch mit den anderen in der Runde draußen gesorgt hatte.)

Widerstand gegen die Missstände

„Ist ein bisschen wie mit einem Kind auf der Toilette, nicht?“, fragte sie, und ich verschwieg die folgenden Gedanken.

Nein, ist es gar nicht. Es ist etwas anderes, einen erwachsenen Menschen, eine körperbehinderte Person auf eine Toilette zu begleiten. Eine Person, deren Schicksal man teilen könnte, vielleicht in der Zukunft teilen wird. Es führt augenblicklich Fragen nach der eigenen Verletzlichkeit, Intimität, Grenze, Körperlichkeit, den eigenen Ängsten und Abhängigkeiten, Wünschen und Bedürfnissen vor Augen. Es lässt einen über die Situation verschobener Perspektiven nachdenken und macht wütend und wach. Wie kann man eine solche Tür einsetzen, hat keiner diese Planung in effectu überprüft? Gab es keine Beschwerden, weil eben alle Konstruktionen dieser Art mehr oder weniger idiotisch angelegt sind und sich ein Aufregen kaum lohnt? Warum tut denn niemand etwas, schreit mein inneres barfüßiges Blumenmädchen auf einer Klippe über dem Grand Canyon stehend und seine Empörung somit über eine Landschaft der vorprogrammierten Enttäuschung schmetternd. Leer, diese Weite, in der keiner hört.

Ich wünsche mir, mein barbarisches und von Walt Whitman für diesen Zweck geliehenes „Yawp“ zum Widerstand gegen diese Missstände – denn diese Toilette ist neben den vielen täglichen unbeschreiblichen Herausforderungen körperbehinderter Menschen auf der ganzen Welt nur ein winziges Beispiel für die Notwendigkeit zur Bereitschaft der Toleranz, Wahrnehmung und unbedingten Inklusion – in die Welt schallen zu lassen.

Hiermit also mein erstes „Yawp“ in den Tagen, in denen die Bundesregierung dem Einzelnen die Einzigartigkeit durch das Bundesteilhabegesetz streitig macht und ihn ungekannten Hilflosigkeiten und damit Abhängigkeiten aussetzt. Betroffene und Unterstützer reagieren mit der Initiative nichtmeingesetz.de. Unbedingtes Schützen und Stützen des einzelnen Menschen im Kollektiv, genannt Menschheit, das ist Inklusion. Mein Einzeln-Gefühl in einer großen Stadt ist gelebter Hohn, manchmal gefühlter Luxus. Eigentlich ist alles aber ganz anders. Und ich bin zutiefst abhängig. Wie wir alle.

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