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In Fluten heißer Höschen

 

Geplant waren drei Monate Arbeit. Dann kamen die Bandscheibe und ein Dreibettzimmer mit Frau Helga und Frau Birgit. Meldungen aus den Tiefen der deutschen Seele

© Ina Fassbender/Reuters Pictures
© Ina Fassbender/Reuters Pictures

Drei Monate lang sollte ich auf den Bosporus schauen und an meinem Roman arbeiten. Meinen Koffer aus braunem Tweed, den die Zeit schon seit meinem Abschied von der Sowjetunion auf den Wellen des Zufalls in meiner Griffweite tanzen lässt, hatte ich schon gepackt. An jenem Ort am Bosporus hätte ich ihn ausgepackt und nach Worten gesucht. Tarabya ist ein Ort, von dem man mir erzählte, er sei das Paradies auf Erden. „Tarabya“, las ich auf der Internetseite des Auswärtigen Amtes, „das sich zirka zwanzig Kilometer nördlich vom Stadtzentrum Istanbuls am Bosporus befindet, hieß ursprünglich Pharmacia oder Phamakias. Jedoch wollte niemand in einem Ort namens Gift wohnen, daher wurde er in Therapia (Genesung) geändert – so eine Argonautensage.“

Vor einhundert Jahren saß der deutsche Botschafter an jenem Ort, damals war es seine Sommerresidenz, dorthin war er geflohen vor der Hitze der Stadt und genoss die kühle Brise, die ihn über den Bosporus anwehte. Er schaute vielleicht den Schiffen nach und verfasste Berichte an die deutsche Regierung, schrieb davon, was so vor sich ging im Osmanischen Reich.
Was im Osmanischen Reich so vor sich ging, sollte auch mich beschäftigen. Es kam anders. Statt in Istanbul und inmitten der neuerlichen Schockwellen der Zeitläufte landete ich – weder privat-, noch zusatzversichert – im Dreibettzimmer einer Klinik, Station 53, Zimmer 3. Mir gegenüber liegt eine wuchtige Polizistin mit Knie, Frau Birgit aus Kremmen; die andere Zimmergenossin ist Frau Helga aus Marzahn, nach einem Schlaganfall halbseitig gelähmt und nun mit Hüfte.

Die neue Hüfte solle, wenn schon künstlich, dann wenigstens schmal sein, sagt Frau Helga, denn eine schmale Hüfte habe sie sich ihr Leben lang gewünscht, eine Hüfte wie ein Knabe oder wie eine Marie. Frau Helgas Leben währt jetzt siebzig Jahre, doch schon nach fünfundvierzig Jahren hatte die linke Hälfte ihres Körpers aufgegeben. Früher habe sie alles mit links gemacht, sagt sie. Da stand die Mauer noch. Sie habe in der Kaufhalle gearbeitet, und ihr Leben war mehr als möglich. Jetzt ist sie allein, auch ihr Mann ist seit Kurzem tot. 
Das ist sehr viel auf einmal, bemerke ich, und sie lacht: Wie ich denn rechnen würde. Und Sie? Rücken? Taubes Bein? Reflexe? Die sind hinüber. Oh oh.
 Dann wird Frau Helga müde und nickt weg, vergisst sich zuzudecken. Ich kann ihr nicht helfen.

Kein Donald Duck in Brandenburg

Morgens kommt eine Schwester und piekt uns mit der Nadel in den Bauch, allen drei nacheinander. Frau Birgit, die Polizistin, schreit auf, überhaupt jammert Frau Birgit viel über dies und das, und die Tränen strömen, denn so ein kaputtes Knie – oh weh. Sie habe Angst, dass ihr Mann daheim allein nicht zurechtkomme, der wisse ja gar nicht, wo alles steht und liegt, der Arme könne sich kaum ein Spiegelei braten, außerdem schlafe er ohne sie nicht gut. Sie habe immer gern geschossen, erzählt sie, und zur Nacht möchte sie das Fenster unbedingt geschlossen wissen, denn sie habe so viel Schreckliches gesehen als Polizistin in Brandenburg. Was denn? Schlimme Sachen, eben nicht Donald Duck.
 Die Zeit dehnt sich. Um halb eins gibt es Mittagessen, um halb drei Kaffee ohne Kuchen. Frau Helga schimpft, ob sie einem hier das letzte Stück Glück nehmen wollten? Kaffee ohne Kuchen sei wie ein Toilettenstuhl ohne Räder.

Ich frage nach normaler Milch zu meinem Kaffee, statt der Kaffeesahne. Was denn an der Kaffeesahne nicht recht sei?, poltert die Schwester, immer schon trinke man hier Kaffeesahne zum Kaffee, wo komme man denn da hin, wenn jeder nun seinen Kaffee – Frau Paljajan, wenn hier jeder seine Kaffeesahne zurückweisen würde – das ist aber auch ein komplizierter Name, was ist das denn für einer?
Aaschgaige, ruft Frau Helga aus ihrem Bett, jib der Kleenen doch Milch, wenn se nu keene Kaffeesahne mag, oda steckt dirn Stock im Aasch?

Halt, ruft Frau Birgit, so fangen wir gar nicht erst an! Aber auch sie verstehe nicht, warum ich hier eine Extrawurst in Form von Milch bekommen sollte, und das mit meinem Namen habe sie sich auch schon gefragt, aber Deutsch könne ich ganz gut, erstaunlich, und eine gute Sache habe die ganze Flüchtlingsgeschichte ja doch, denn mit den Flüchtlingen kämen auch Männer, also Männer zum Heiraten, die würden Lücken füllen. Sie lacht mit aufgerissenem Mund, und ich sehe auf ihrer Zunge eine Landschaft.

Um halb vier ist Physiotherapie. Bis dahin liest Frau Helga Perry Rhodan, Frau Birgit ist glücklich am Telefon, und ich schaue aus dem Fenster. Die Sonne scheint auf die Baustelle draußen. Ein guter Ort, um neue Körperteile zu bekommen. Übrigens werden Windeln hier heiße Höschen genannt.

„Hiergeblieben!“, ruft die blinde Therapeutin

Unsere Physiotherapeutin ist blind, die Gruppe klein: Die Polizistin, eine junge zahnlose Rumänin, die sehr schön ist, nur eben zahnlos, eine etwa hundertjährige Dame, die zwischendurch aufsteht und hinausgehen will. Und ich.
 Wir sitzen im Kreis, jede hat einen kleinen Gummiball in der Hand. Haben alle eine andere Farbe?, will die Therapeutin wissen. Die Hundertjährige wirft der Therapeutin ihren Gummiball an den Kopf. Sie wird von der Polizistin ermahnt. Du, du! Ich tausche Blicke mit der zahnlosen schwarzhaarigen Schönheit. Es ist klar, dass sie kein Wort versteht und sich dasselbe fragt wie ich: Wie bin ich bloß hierher geraten.
Die Hundertjährige versucht erneut, sich davonzustehlen. Hier geblieben!, ruft die blinde Therapeutin.
 Die Gummibälle werden hin und her gereicht, wir strecken die Arme in die Höhe, wackeln gemeinsam mit den Füßen, dazu schallt aus dem Smartphone der blinden Therapeutin blechern Daddy cool.

Nach der Physiotherapiesitzung nimmt mich die Rumänin beim Arm und bugsiert mich zur Raucherinsel, ein Eiland, bewohnt von divers amputierten Menschen in origineller Staffage aus grünen Kitteln und bunter Freizeitkleidung, deren Rollstühle und Gehhilfen mit allerhand Gerätschaften ausgestattet sind. An manchen Stellen ragen den Versehrten Schläuche aus den Verbänden, an anderen stecken glühende Zigaretten. Meine Begleitung bietet mir eine an, ich muss jedoch zurück auf meine Station, um fünf gibt es Abendessen. Graubrot, Schmelzkäse, Zervelatwurst, Bohnensalat, roten Tee.

Ich wurde schon vermisst. Man habe einen Plan geschmiedet. Man wolle später eine Nachtwanderung unternehmen, ob ich dabei sei? Frau Helga könne man in ihrem Bett schieben. Ich weiß nicht.
Wir bekommen wieder Spritzen, und eine ungekannte Klarheit durchstrahlt meinen Geist. Ich willige ein, die Expedition zu leiten. Wir warten, bis es still auf der Station wird. Vorsichtig öffnen wir die Zimmertür und betreten leise das gelbe Linoleum im Flur.
 Das Schiff hat auf uns gewartet. Allerhöchste Zeit, meine Damen!, ruft der Kapitän. Frau Birgit will schießen, ich kann sie abhalten: Nein, das sind keine Flüchtlinge, das ist auch keine Armee, nur unschuldige Matrosen! Sie brauchen aber richtige Billets, meine Damen, dröhnt der Kapitän, nicht irgendwelche Verzehrbons vom letzten Tanzvergnügen. Wir zeigen unsere Gesundheitskarten mit Foto in Farbe. Zweite Klasse. Das ist in Ordnung. Es kann losgehen!

Dort, wo wir nicht begreifen, müssen wir vertrauen, flüstert Frau Helga mir zu und wirft ihr heißes Höschen in die Fluten. Ich spüre hinter diesem Satz eine gewaltige Wahrheit, dessen Verständnis mir vielleicht noch heute Nacht zuteilwerden wird.
Das Schiff fährt, die Matrosen schlafen, das Mittelmeer ist friedlich, hier draußen ist nichts zu ahnen von Hatz und Hass gleich hinter der Uferböschung. Und schließlich passieren wir die Brücke über den Bosporus. Istanbul. Gestern oder morgen. Über dem Karaköy-Platz flutet helles Sonnenlicht. Störche fliegen, und wer einen Storch fliegen sieht, wird ewig unterwegs sein, sagt ein türkisches Sprichwort.

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