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Auf dem Rücken ein ganzes Land

 

Der Wanderrucksack in der DDR war natürlich viel schlechter als der aus Westdeutschland. Aber: Soll man ihn deswegen nun zum Sommer wegschmeißen?

Der Wanderrucksack: Unverzichtbarer Begleiter
Copyright: Sean Gallup/Getty Images

Als Kurator meiner Wohnung muss ich ständig unpopuläre Entscheidungen treffen. Beim Sichten der Bestände fiel mir jetzt meine alte Kraxe in die Hände, sie stammt vom VEB Wassersport- und Campingbedarf Pouch. Pouch ist eine Gemeinde bei Bitterfeld, dort wurden in der DDR vor allem Faltboote, aber auch Campingartikel hergestellt, ehrlich gesagt wusste ich damals gar nicht, dass es sich um einen Ort handelte, für mich war es einfach ein Begriff, der für Dinge stand, die man nur im Urlaub brauchte. Aus Platzgründen müsste ich meine Kraxe eigentlich wegschmeißen, aber es hängen zu viele Erinnerungen daran, ich kann mich nicht davon trennen. Sie war in Rumänien, Bulgarien, in der Tschechoslowakei, der Sowjetunion, in Polen und noch viele Jahre nach der Wende hat sie mich begleitet, weil sie ja nicht kaputtging.

Der Kauf war ein Glücksfall gewesen, ich war im richtigen Moment im Haus für Sport und Freizeit am Frankfurter Tor in Berlin-Mitte aufgetaucht, wo sich heute auf vier Etagen eine Humana-Filiale befindet, interessanter als die alten Lumpen ist aber die spektakuläre Aussicht auf die beiden Türme von Hermann Henselmann. Ich traute meinen Augen nicht, es gab eine Lieferung Kraxen, die Verkäuferin legte mir eine zurück, weil ich erst nach Hause musste, um Geld zu holen, man konnte damals ja nicht mit Karte bezahlen. Es war eine Anschaffung fürs Leben, daran zweifelte ich nicht, deshalb war ich auf Reisen auch immer besonders nervös, weil nicht nur der Inhalt des Rucksacks, sondern schon der Rucksack selbst so wertvoll und unersetzbar für mich war. Die Kraxe war überhaupt die Voraussetzung dafür, mit Freunden wandern fahren zu können, wir schleppten ja alles mit, nach Rumänien sogar das Essen für drei Wochen.

Wir trugen schwere Arbeitsschuhe und dicke Wollsocken, Wanderstiefel kannten wir nicht. Wir kochten mit einem störrischen Benzinkocher („Juwel“), das Benzin transportierten wir in alten Lenorflaschen, es verdampfte allerdings, deshalb versuchte man, den Deckel der Flasche über einem Stück Plastefolie zuzuschrauben, um die Isolierung zu verbessern. Metallflaschen für das Benzin hatten wir nicht. Unsere Fichtelberg-Zelte hatten keine doppelte Wand, wodurch es morgens Kondenswasser regnete. Beim Aufbauen musste immer einer hineinkriechen, um die hintere Stange aufzustellen. Eine Glückliche hatte ein Igluzelt aus dem Westen, die biegsamen, an einer Schnur aufgefädelten Stangen fügten sich von allein zusammen, sie wurden einfach in den Stoff geschoben, und indem man das Ende in die Schlaufe drückte, bogen sie sich schon und spannten das Zelt auf, anschließend konnte man es sogar herumtragen. Das Mädchen hatte auch eine Trampermatte, die sich von selbst aufblies, während wir anderen zurechtgeschnittene Autoreparaturmatten benutzten.

Der Wanderrucksack des Autors
Der Rucksack des Autors

Meine Bewunderung für westliche Produkte war damals grenzenlos, an zahllosen Details zeigte sich, wie viel besser und praktischer dort alles war. Irgendwann würden die Westler wie Captain Future reisen, während es bei uns komfortmäßig noch wie bei Heidi zuging. Mein Westrucksack, mit dem ich inzwischen reise, hat einen gepolsterten Bauchgurt, der die ganze Hüfte umschließt, der Gurt meiner Kraxe war ungepolstert und so schmal, dass er ins Fleisch schnitt. Mein Westrucksack hat ein Kopfteil, das ein Klarsichtdokumentenfach enthält und das man abnehmen und bei Ausflügen als Umhängetasche benutzen kann. Die Reißverschlüsse haben immer gleich zwei Schieber, sodass man sie von beiden Seiten öffnen und schließen kann. Der Westrucksack hat eine Hülle für Regen, die sich in einer Extratasche mit Reißverschluss befindet, wie aufmerksam vom Designer! Das Gestell ist natürlich innen, wie bei einem Lebewesen das Skelett. Aus dem Aluminiumgestell meiner Kraxe, das bei jedem Schritt quietschte, lösten sich immer die Schrauben, abends am Lagerfeuer drehte ich sie mit dem Taschenmesser fest. Einmal brach bei jemandem eine Rucksackstange, sie wurde mit einem Ast geflickt, und immer zwei von uns mussten den Rucksack für den Rest der Tour schleppen wie eine Krankentrage. Manche versteckten in den Rohren vom Außengestell auch Westgeld, wenn sie nach Ungarn reisten, um sich vor Ort mehr als den erlaubten Tagessatz Forint zu ertauschen. Alle Schnüre musste man natürlich mit Schleifen zubinden, es gab keine praktischen Verschlussschnallen zum Festzurren.

Das Gepäck war in Plastiktüten verstaut, falls es regnen sollte, aber auch weil der Schweiß vom Rücken sonst durchdrang. Es gab aber kein Jammern, man war stolz auf diese rustikale Art zu reisen und verachtete westliche Wanderer mit ihren in der Länge verstellbaren Wanderstöcken, natürlich benutzten wir nur selbst zurechtgeschnitzte Stöcke (in Rumänien sah ich einmal am Waldausgang, wo der Wanderweg auf den Berg endete, eine Reihe Stöcke an einem Baum lehnen, man stellte seinen einfach dazu, damit der nächste ihn sich nehmen konnte). Ich war mit meiner Kraxe zufrieden, sie machte es mir nicht zu leicht, aber sie ließ mich auch nie im Stich. Besonders gefiel mir der ausklappbare Sitz, der im Zug sehr wichtig war, wenn man lange Stunden auf dem Gang verbrachte (Platzkarten hatten wir nie), wo der Boden immer von Bier und Schlimmerem klebte. Dann hockte man auf dem Sitz seiner Kraxe und freute sich über den kleinen Vorteil an Bequemlichkeit, durch den man sich schon wie ein König fühlte. Und wie freute ich mich erst, als sich herausstellte, dass in die Seitentaschen der Kraxe genau je eine leere Plastikflasche Schweppes passte, die wir in Budapest geklaut hatten und die uns für den Rest der Wanderung als Trinkflaschen dienten. An jeder Quelle wurden sie mit frischem Wasser gefüllt, manchmal mixten wir Nescafé dazu oder Cefrisch-Pulver aus dem Intershop. Einmal wurden sie auch von einem Hirten mit frischer Schafmilch gefüllt.

Ungefähr 1985 sah ich in einem Kinderferienlager bei einer Französin einen beigefarbenen Koffer mit Rollen und einem ausklappbaren Griff, an dem man den Koffer hinter sich herziehen konnte. Wieder so eine geniale und praktische Idee! Frankreich war offenbar noch moderner als Westdeutschland, es lag ja auch noch weiter im Westen. Wie musste es erst in Spanien oder in Portugal zugehen? Von Amerika ganz zu schweigen, wo die Rucksäcke inzwischen schon Raketenantriebe enthielten, wie man bei der Eröffnung der Olympischen Spiele von 1984 in Los Angeles gesehen hatte. Trotzdem habe ich auch heute noch keinen Rollkoffer, schon weil man damit nicht trampen kann, obwohl ich das sowieso nie tue. Ich trage mein Gepäck nach wie vor auf dem Rücken, schon mehrmals wurde ich deshalb bei der Ankunft in Deutschland vom Zoll untersucht, weil Rucksäcke offenbar verdächtig sind. In Outdoor-Läden gehe ich nur noch, um mir die tollen Gadgets anzusehen (es gibt inzwischen Löffel, die gleichzeitig Messer und Gabel sind, die also die moderne Ausdifferenzierung des Bestecks wieder zurücknehmen!).  Zuletzt habe ich mir eine Bärenglocke gekauft, mit der man Bären vertreibt, einfach weil ich es toll fand, dass es so etwas gibt. Es geht mir in Outdoorläden immer wie Donna aus The West Wing, die sagt: „I want to learn how to ski.“ „Why?“ „I like the equipment.“ Ich will gar nicht Klettern lernen, aber ich möchte das ganze Equipment besitzen, diese stabilen Karabinerhaken, die Taschensonnenuhr und die bunten, reißfesten Seile. Leider habe ich ja schon keinen Platz für meinen alten Rucksack in der Wohnung. Aber ich werde ihn trotzdem noch ein bisschen aufheben. Ich kann ihn ja vorerst als Stauraum benutzen, vielleicht für meine ganzen Schulhefte, die ich auch nicht wegwerfen kann.