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Das Nerd-Narrativ

 

Damit der Lebenslauf glamouröser klingt: Heute wollen alle erfolgreichen Menschen früher einsame Nerds gewesen sein. Das kann doch nicht sein.

Ein einsamer Nerd?
Copyright: Maria Vaorin/Photocase

Ich bin das, was man gemeinhin einen Nerd nennt. Früher gab es keinen Begriff für Leute wie mich, denn die deutsche Übersetzung Streber ist zu lahm und unzureichend für einen Nerd oder Geek. Ein Streber lernt was man ihm vorschreibt, ein Nerd spezialisiert sich freiwillig. Auf was auch immer. Streber sind zeitlos, während Nerds ein Zeitgeistphänomen sind. „Saitgaist“ wiederum ist ein schönes deutsches Lehnwort im Englischen. Nerds und Streber haben gemeinsam, dass man sie früher nicht in die Fußballmannschaft wählen wollte. Heute tragen Fußballprofis Nerdbrillen. Anfang der Neunziger sang Thom Yorke von Radiohead, er wäre ein Creep, ein Weirdo, wünschte aber er wäre so fuckin‘ special wie das Mädchen, das er nicht anspricht. Creep beschrieb ziemlich präzise mein Leben als junger Mann.

Stark verkürzt sah es so aus, dass ich Jahre vor allen anderen einen Computer hatte und Jahre nach allen anderen eine Freundin. Mitte der Neunziger hatten Radiohead dann mit OK Computer einen Welterfolg und die Weltherrschaft der Weirdos und Nerds war in Sichtweite. Man dachte dabei an Typen wie Steve Jobs und Bill Gates, klar. Mittlerweile ist der Sozialstatus des Nerds derart gestiegen, dass rückblickend jeder einer gewesen sein will. Die Beweislage ist dünn, doch das ist egal und auch legal, denn schließlich geht es nicht um einen akademischen Titel, sondern um einen Begriff, der ursprünglich mal eine Beschimpfung war.

Barack Obama sagt von sich, er wäre schon ein Nerd gewesen bevor es cool war, einer zu sein. Er hat Comics gelesen. Kanye Wests Nerdbeweis besteht aus einem Tweet, in dem er Akira einem anderen Anime-Film vorzieht. Julia Roberts hat im Schulorchester gespielt, Megan Fox Der Herr der Ringe gelesen, Charlize Theron trug eine Brille. Andere bekannte Leute sparen sich die Bezeichnung Nerd, sind dafür aber begabter im Fach Drama: Philippe Starck gibt ein Interview, in dem er in jeder Antwort auf seine ausgeprägte Menschenscheu hinweist, die er schließlich mit einer schwachen Form von Autismus erklärt. Jodie Foster, schon lange als Wunderkind bekannt, verfügte als Kind über eine Fähigkeit zur Empathie wie sonst nur Erwachsene. Sahra Wagenknecht erinnert sich genau, welches Buch sie las als die Mauer fiel: Kants Kritik der praktischen Vernunft. Sie alle sagen von sich: „Ich war ein einsames Kind.“ Diese Aussage wird so inflationär getroffen, dass sie jetzt auf einer Stufe steht mit „Ungerechtigkeit macht mich wütend.“

Es ist nicht neu, dass man seine Erinnerungen der aktuellen Zeit anpasst. Früher nannten sich Leute rückwirkend Rebellen, Punks oder Bürgerrechtler. Und jetzt eben Nerds. Was ist eigentlich aus den Poppern geworden, die die Nerds wegen ihrer uncoolen Klamotten geächtet haben? Man weiß es nicht. Fest steht, dass das sozial isolierte Nerdkind besser zu einer Geschichte passt, die wir alle immer wieder gern hören und die im Neuen Testament so zusammengefasst wird: „Die Letzten werden die Ersten sein.“ Diese Story funktioniert so gut, weil sie die Hoffnung nach ausgleichender Gerechtigkeit erfüllt. Aus den schüchternen Kindern sind mächtige Erwachsene geworden. Sie wohnen in Palo Alto, sie regieren, designen, rappen, schauspielern. Es scheint, als wären die Oscars die größte Nerdveranstaltung überhaupt. Hätte ich gewusst, wie viel Glamourpotenzial in meiner Kindheit steckt, ich hätte etwas anderes studiert als Informatik. Das war ein Scherz. Ich bin weder besonders lustig noch besonders schön. Ich bin kein Ex-Nerd, ich bin ein Nerd.