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Schuld ist nicht die Digitalisierung

 

In Bibliotheken ging man früher ähnlich wie in die Kirche. Heute sind diese Orte der Besinnung verschwunden oder zu lärmenden Bücherhallen geworden. Ein Abschiedsbrief

© Dean Mouhtaropoulos/Getty Images
© Dean Mouhtaropoulos/Getty Images

Die Bibliothek ist, schon seit ich denken kann, immer ein zentraler Ort in meinem Leben gewesen. Lange Zeit glaubte ich, dass die Bibliothek für mich vielleicht das ist, was für meine spanische Großmutter früher die Kirche war. Genau wie meine Großmutter ging ich mindestens einmal die Woche hin, schmökerte, stöberte und fand – wenn es mir einmal nicht so gut ging – in der Stille und dem vertrauten Geruch von altem oder druckfrischem Papier häufig Trost.

Schon seit einigen Jahren gehe ich nicht mehr regelmäßig in die Bibliothek. Am Anfang dachte ich, das hätte nur mir zu tun bzw. mit dem Internet und den digitalen Medien, dabei habe ich nicht einmal einen Kindle-Reader. Ich dachte, es hätte damit zu tun, dass ich mir jetzt mehr Bücher kaufe als früher, wo ich noch Schülerin und Studentin war oder vielleicht – und das war meine schlimmste Befürchtung – damit, dass ich jetzt „erwachsen“ bin und „für sowas keine Zeit mehr“ habe, so wie man halt wird als richtiger Erwachsener: Man hat für nichts mehr Zeit und ist ständig müde, wegen des Jobs und der Kinder, dabei habe ich weder einen richtigen Job noch ein richtiges Kind (ein Hund gilt nicht, oder?). Inzwischen bin ich anderer Meinung. Es ist nicht meine Schuld, dass ich kaum noch in die Bibliothek gehe – zumindest nicht nur. Mit der Bibliothek und mir ist es wie mit jeder anderen gescheiterten Beziehung: Am Ende sind immer beide daran schuld.

Ich weiß noch genau, wann meine Beziehung zur Bibliothek anfing zu kriseln. Ich arbeitete damals als studentische Hilfskraft in der Institutsbibliothek Europäische Ethnologie der HU Berlin. Unser Institut war gerade erst vom Schiffbauerdamm in ein mondänes Gebäude an der Mohrenstraße umgezogen. Wir Studierenden hassten das Gebäude nicht zuletzt wegen seines kolonialrassistischen Straßennamens, der bis heute trotz zahlreicher Anläufe etlicher Initiativen nicht geändert worden ist. In der neuen Bibliothek hatte man die einzelnen Etagen durch Metallstegböden getrennt, was dazu führte, dass man allen Studierenden unter den Rock schauen konnte. Fast täglich gab es Beschwerden. Ich nahm sie hinter meinem Tresen entgegen und wurde angewiesen, die Studierenden damit zu vertrösten, dass die Institutsbibliothek in kurzer Zeit eh schließen würde, da dann ein Dutzend Institutsbibliotheken der HU Berlin – unter anderem unsere – ins Grimmzentrum zögen.

Verschwundene Bücher

Trotz des provokanten Metallbodens war unsere Institutsbibliothek immer noch ein Ort, der gern besucht wurde. Es war still, man hatte eine*n Ansprechpartner*in, falls man etwas nicht auf Anhieb fand und selbst die Professor*innen kamen regelmäßig zu uns herunter und stöberten im Neuerscheinungsregal. Es waren kaum Bücher verstellt, man fand alles schnell, obwohl wir in dieser Zeit viel zu tun hatten. Für den Umzug ins Grimm-Zentrum mussten alle unsere Bücher in die Regensburger Verbundsklassifikation aufgenommen werden, das heißt, wir Hilfskräfte signierten in jeder freien Minute um. Von relativ kurzen Signaturen signierten wir auf die ewig langen RVK-Signaturen um: aus Dq64 wurde LB14032B515-69.

Mit dem Umzug änderte sich alles. Ich beendete mein Studium, arbeitete nicht mehr als studentische Hilfskraft und suchte die Bibliothek wieder ausschließlich als Leserin auf. Die Begeisterung über das Grimm-Zentrum war am Anfang groß. Auch ich liebte es in den ersten Monaten nach seiner Eröffnung. Der riesige Lesesaal, die flexiblen Öffnungszeiten, doch deuteten sich schon bald Probleme an, die inzwischen alle großen Uni-Bibliotheken Deutschlands beherrschen. Es wurde immer voller. Es gab nicht genügend Schließfächer, aber vor allem gab es kaum noch Personal, von Neuerscheinungsregalen oder kompetenter Beratung gar nicht zu sprechen.

Für Studierende, die heutzutage in wesentlich kürzerer Zeit einen Studienabschluss erwerben müssen, ist das eine Katastrophe. Für mich, die zwar noch in Ruhe ihren Magisterabschlus machen konnte, ist es zumindest ärgerlich, und es stört meine Beziehung zu Bibliotheken allgemein. Einige seiner anfänglichen Probleme hat das Grimm-Zentrum wieder in den Griff bekommen, doch die langen RVK-Signaturen, die nach und nach von fast allen Bibliotheken in Deutschland und z.T. auch vom Ausland übernommen worden sind, scheinen zu lang für das menschliche Gehirn zu sein, denn immer mehr Bücher sind verstellt, – sprich, stehen nicht dort, wo sie stehen sollten. Dies erscheint umso grotesker, wenn man sich den Imagefilm der RVK-Mediathek anschaut: Eine junge Frau wartet am gedeckten Tisch auf ihren Freund, der viel zu spät zum Date kommt und sich damit entschuldigt, dass er ein bestimmtes Buch in der Bibliothek nicht finden konnte. Sie haut ihm eine runter, mit der Begründung, dass man mit den RVK-Signaturen alle Bücher sofort fände, und das diese Ausrede deswegen gelogen sein muss. Die Wahrheit ist eine andere: Es ist sehr wahrscheinlich, dass man ein Buch mit RVK-Signatur nicht findet, weil viele verstellt sind.

Das Gesicht des ersten Bibliothekars

Zum Verweilen laden Bibliotheken schon lange nicht mehr ein. Wenn man heute in eine wissenschaftliche Bibliothek geht, dann nicht, um zu stöbern oder zu schauen, mit welchen Themen sich die neueste Forschung beschäftigt, nicht um sich inspirieren zu lasen, um Bücher in die Hand zu nehmen, sie wieder wegzustellen oder mit ihnen zu verweilen. Nun mag man argumentieren, dass wissenschaftliche Bibliotheken schon immer mit großen Magazinbeständen gearbeitet haben, und es ja auch noch die öffentlichen Bibliotheken gibt. Ich bin bis vor einigen Jahren regelmäßig in die Helen-Nathan-Bibliothek in Neukölln gegangen. Ich habe diese Bibliothek immer geliebt. Die Auswahl war riesig, es gab eine tolle Kinder- und Jugendbibliothek, man konnte wunderbar durch die Regale stöbern, und nicht nur jede Menge Bücher, sondern auch Hörbücher, DVDs, CDs und sogar Musiknoten ausleihen. Der Wandel in der Helene-Nathan-Bibliothek begann schleichend. Zuerst fiel mir auf, dass es immer lauter wurde. Immer öfter tobten schreiende, nur in Strumpfhosen bekleidete Kleinkinder am Eingang herum, whatsappende Teenager lärmten, Rollatorschieber*innen palaverten. Die Mitarbeiter*innen versuchten einzugreifen, konnten sich aber immer weniger durchsetzen. Schließlich wurde der obere Teil der Bibliothek zum Ruheteil deklariert, während unten – inzwischen von den Mitarbeiter*innen toleriert – Stimmung herrschte wie auf einem Bahnhof.

Als ich vor ein paar Jahren aus Neukölln wegzog, war mir die Lust auf den wöchentlichen Bibliotheksbesuch bereits vergangen. In der Mittelpunktbibliothek in Schöneberg bin ich nie richtig angekommen. Die Gesichter der Mitarbeiter*innen sind mir fremd – nie würde ich sie auf der Straße wieder erkennen, dabei kann ich mir Gesichter besonders gut merken. An das Gesicht meines ersten Bibliothekars kann ich mich bis heute erinnern, an die dicke Warze auf seinem pockennarbigen Kinn, und die Mitarbeiter*innen aus meiner Schulbibliothek kenne ich noch heute mit Namen. Viele meiner Freund*innen finden das albern oder zumindest kauzig. Wenn ich versuche mit meinen Freund*innen über mein Verlustgefühl zu sprechen, dann werde ich meistens nicht ernst genommen, und auch ich selber hinterfrage dieses Gefühl. Ist es vielleicht das erste Zeichen des Alterns, diese Sehnsucht nach Dingen, die im Begriff sind zu vergehen? Ist das vielleicht der erste Schritt zum allseits aus gutem Grund verhassten „Früher war alles besser“-Credo, mit dem die Eltern einen als Kind schon genervt haben?

Womöglich. Womöglich aber auch nicht. Die öffentlichen Bibliotheken sind genau wie die wissenschaftlichen Bibliotheken überall in Deutschland Rationalisierungsprozessen zum Opfer gefallen. Die Zusammenlegung und Bündelung von Beständen in immer größere Gebäude und Verbundsklassifikationen ist auch im Management der öffentlichen Bibliotheken ein Mittel geworden, um Zeit und Kosten zu sparen. So plant der Berliner Senat schon lange den Bau einer neuen Zentral- und Landesbibliothek. Was zunächst als sinnvolles Projekt erscheint, entpuppt sich aber bei genauerem Hinschauen, ähnlich wie der Bau des Grimm-Zentrums, als Rückschritt. Auch hier soll durch ein neues Gebäude die Bündelung von Beständen und die Bündelung dieser Bestände in größere Verbundklassifikationen vorangetrieben werden. Langfristig amortisieren sich die Baukosten durch den Abbau von Personal und individuellen Systematiken – sprich: das, was eine Bibliothek ausmacht.

Obdachlose mit Buch in der Hand

„Treffpunkte des Austausches, Orte der Begegnung“ – so, heißt es auf der Website der Zentralbibliothek Berlin, sollen Bibliotheken heute sein. Habe ich irgendwas falsch verstanden? Ich will in der Bibliothek niemandem begegnen. Ich will mich auch nicht austauschen, wenn ich in die Bibliothek gehe. Ich will mich an einen stillen Ort begeben, an dem jemand sich ein kluges System ausgedacht hat, in dem Bücher und andere Medien geordnet beieinander stehen. Konsequenterweise spricht der Vorstand der Zentralbibliothek Berlin von Bibliotheken als „Information Stores„, aber Medien, egal ob Bücher oder TV-Serien, sind nicht einfach nur Informationen, und eine Bibliothek ist auch kein Store, das heißt weder ein Lager noch ein Laden. Eine Bibliothek, die ihre Bestände nicht einmal mehr selbst auswählt und einkauft, sondern solche Tätigkeiten auslagert, so wie es der Vorstand und Managementdirektor der ZLB Volker Heller in Zukunft betreiben will, ist keine Bibliothek mehr. Doch dies scheint genau das zu sein, was Entscheidungsträger*innen aus den öffentlichen Bibliotheken machen wollen – einen verkümmerten toten Arm, der nur noch als Handlanger des Internets dient. Die Bibliothek der Zukunft „kann bei der Informationsbeschaffung anleiten: Wie finde ich im Internet eine relevante Information, die mir Google nicht geliefert hat?“ ist nur eine der vielen alarmierenden Aussagen, die Vorstandsvorsitzender Heller trifft.

Natürlich sind auch und insbesondere Bibliotheken durch die Digitalisierung einem Veränderungsprozess unterlegen und sollten sich diesen Veränderungen aktiv stellen. Dass Bibliotheken unter dieser vermeintlichen Prämisse jedoch zu lärmenden Bücherlagern verkommen, die keine Kontrolle mehr über individuelle Bestände und Systematiken haben, ist grundlegend falsch und hat mit Anpassung an die Zukunft nichts zu tun. Gerade die Systematik, d. h. die Art und Weise, wie Medien in einer Bibliothek zusammengestellt werden, welche Daten mir eine Datenbank in einer Bibliothek zu einem bestimmten Thema ausspuckt, bereiten das Wissen auf eine Art und Weise auf, die nicht nur einem digitalen Algorithmus entspringt, sondern von jemandem kommt, der denkt und fühlt, der Vorlieben und Abneigungen hat, und gerade das schätze ich an einer Bibliothek.

Gegen diesen Gleichmach- und Rationalisierungstrend, der Bibliotheken in ganz Deutschland betrifft, regt sich immer wieder Unmut, sowohl seitens der Leser*innnen als auch von engagierten Mitarbeiter*innen. Zu Recht, denn Bibliotheken gehen alle was an. Es sind öffentliche Orte, die für alle Bewohner*innen einer Stadt, egal ob arm oder reich, da sind – genau wie Krankenhäuser oder Kirchen. In Europa vergisst man das vielleicht oft, aber um zu beobachten, dass Bibliotheken mehr sind als Information Stores, dass sie auch viel mehr sind als eine Ansammlung von Büchern und Filmen, die jemand mit Leidenschaft ausgesucht und einsortiert hat, sollte man einmal die New York Public Library auf der 5th Avenue oder die San Francisco Public Library besuchen. Sobald die Tage kürzer und kälter werden, wärmen sich dort während der Öffnungszeiten viele Obdachlose, mit billigem Kaffee – und einem Buch in der Hand.

Vor einiger Zeit habe ich erfahren, dass die in meiner alten Schule integrierte Stadtteilbibliothek geschlossen wurde. Als mein alter Deutschlehrer mir davon berichtete, hatte er Tränen in den Augen. Ich musste an die Bibliothekarin Frau Klein denken, daran, wie nett sie war, ich musste an das Schülerpraktikum denken, das ich dort absolvierte, weil ich mich nicht rechtzeitig um etwas anderes gekümmert hatte, an die vielen Stunden, die ich dort verbrachte, wenn ich mal wieder aus dem Unterricht geflogen war, wie ich bis zum Gong auf den kratzigen Sesseln Schlümpfe-Comics las. Sogar übernachtet habe ich einmal dort, während der ersten Bonner Lesenacht, die mein Deutschlehrer für unseren Jahrgang organisierte. Wir durften in der Bibliothek nichts essen, aber Jana, die junge Auszubildende, brachte uns heimlich Gummibärchen und Knäckebrot an unsere Schlafsäcke. Ich gab Jana am nächsten Tag mein Poesiealbum. Sie war in ihrem letzten Ausbildungsmonat und würde bald an die Stadtteilbibliothek in Bad Godesberg versetzt werden. „Du wirst mir fehlen! Ich hoffe du erinnerst dich gern an mich – Jana aus der Bibliothek“, schrieb sie in mein Poesiealbum. Ja, ich erinnere mich gern und ja: Sie wird mir fehlen, die alte Schulbibliothek, genau wie all die anderen im sterben liegenden Bibliotheken.

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