James Bond war schon da. John Lennon und Yoko Ono haben hier geheiratet. Das Schicksal Gibraltars aber hängt von 240 Affen ab. Unser Glück ebenfalls.
Als würde sie nichts wollen, nichts dürfen, als würde nichts von ihr gewollt. Die Landschaft ist da wie ein Gegenstand, der herumliegt. Gibraltar ist nicht ausgeschildert, wir halten uns Richtung Westen. Die spanischen Radiosender sind nicht mehr zu empfangen. Der Suchlauf des Autoradios findet drei englischsprachige Sender. Auf Radio Gibraltar werden die Nachrichten im gestochen britischen Akzent verlesen, dann die Beatles, danach zwei triefende Stücke aus einem Musical. Dann sehen wir den Fels, ein gewaltiger Stein, ein absurdes Etwas, auf der südöstlichen Seite mit Grün überzogen, als wäre es ein riesiges Meerestier, auf dem Moos gewachsen ist. Wir erreichen die spanische Grenzstadt La Línea de la Concepción und brauchen eine Weile, bis wir das Hotel gefunden haben.
Wir öffnen das Zimmerfenster. Es duftet nach Jasmin und Eukalyptus. Das Meer liegt auf der anderen Straßenseite. Die Fähre Baleària läuft ins gegenüberliegende Algeciras ein. Von dort gibt es Verbindungen nach Tanger und zu den beiden in Marokko liegenden spanischen Exklaven Ceuta und Melilla. Einer der Kapitäne heißt Jesús und bringt die Reisenden über das Wasser, passiert mit ihnen Europas Außengrenze.
Am frühen Morgen passieren wir die nachts mit Flutscheinwerfern beleuchteten Grenzanlagen und müssen uns beide Male ausweisen. Gibraltar gehört geografisch zu Spanien, politisch zu Großbritannien. Nun haben wir also innerhalb Europas eine Grenze übertreten. James Bond war hier, John Lennon und Yoko Ono haben hier geheiratet, und nun sind wir hier und stehen vor einer roten Telefonzelle.
Gleich hinter der Grenze befindet sich der Flughafen. Landet oder startet ein Flugzeug, wird solange die vierspurige Hauptstraße gesperrt. Das kreuzende Rollfeld sieht aus, als wäre es ein zwischen Spanien und dem Felsen vertäuter Flugzeugträger. Dahinter liegt auf der rechten Seite das Victoria Stadium, schließlich hat jede größere Ansammlung von Zweibeinern eine Fußballmannschaft, und Gibraltar hat sogar eine Nationalmannschaft, die mit Niederlagen umzugehen weiß. Der Bus ist überfüllt mit spanischen Pendlern und Touristen. Wir fahren ins Zentrum und laufen die Main Street entlang, in der die Kronen der kleinen Bäume zu Kugeln geschnitten wurden, vorbei am Venture Inn, dem Corner House Cafe, dem Horseshoe. Zwei alte Männer sitzen auf einer Parkbank und zeigen einander ihre Hörgeräte.
Eine üppige Palme neben einem roten Kasten der Royal Post. Die Straße ist zugeparkt von Lkw, die Waren anliefern. Vorbei an Wechselstuben, Parfümerien, Juwelieren und Läden, die derart mit Spirituosen vollgestopft sind, dass man damit die Einwohner Gibraltars ausrotten könnte. Es ist eine Steueroase, in der man steuer- und zollfrei einkaufen kann, und so trägt fast jeder, der Gibraltar für einen Tag besucht, ein oder zwei randvoll gefüllte Plastiktüten am Abend nach Spanien. Ein großer Teil des Bruttoinlandsprodukts wird durch Onlinesportwetten, Telekommunikation und Offshore-Finanzdinge erwirtschaftet.
Auf jeder Mülltonne das Wappen Gibraltars mit dem Wahlspruch „Montis Insignia Calpe„, Im Zeichen des Calpe-Bergs. In der Antike wurde der Fels Calpe genannt. Auf dem Fels leben heute schätzungsweise 240 Berberaffen. Einer Legende folgend bleibt Gibraltar in großbritischer Hand, solange diese Affen auf dem Fels leben. 1942, als der Bestand auf wenige Dutzend zurückgegangen war, ließ Churchill seine Armee in Afrika 30 Exemplare einfangen, um den Fortbestand zu sichern. „Meet the apes!„, so steht es am Fuß des Berges, an der Station der Seilbahn, mit der wir hinauffahren. Als wir aussteigen, öffnet ein Affenkind einen auf dem Boden stehenden Rucksack mit gekonnten Bewegungen und wird von einer kreischenden Frau verscheucht. Wir machen das, was Touristen machen: Wir folgen den Pfeilen. In der St. Michael’s Cave, die aus mehreren miteinander verbundenen Tropfsteinhöhlen besteht, bewegen sich Lichtorgeln und verteilen aufzuckendes Discolicht, unterlegt von Popmusik im Dreivierteltakt.
Wir machen das, was Touristen machen: Wir fotografieren den Fels von innen, die Tropfsteine, die Lichtorgel. Als wir wieder draußen sind, den Fels von außen, die Affen, niedliche kleine Affen, andere Touristen vor Affen, uns und die Affen und hören dann eine hereinbrechende Männerstimme in tiefem Sonor: „Inge, geh näher ran, gut! Eins, zwei, INGE, NÄHER AN DEN AFFEN RAN!“ Inge geht näher an den Affen ran, alles wird gut. Drei Männer, die einen Union-Jack-Button an ihren drei beigefarbenen Sonnenhüten tragen, trotz dessen rotgebrannte Nasenrücken und einen Flug von London Heathrow nach Málaga hinter sich haben, stehen um einen Postkartendrehständer und suchen nach Luftaufnahmen. Auf der schmalen Zufahrtstraße, die von Taxis und Kleinbussen genutzt wird, stauen sich die Fahrzeuge. Auf den Fahrzeugen hocken Affen, die von allen Seiten fotografiert werden, als würde hier die erste Begegnung seit Jahrzehnten zwischen Affen und den höheren Säugetieren aus der Ordnung der Primaten stattfinden. „Zufriedenheit entsteht, wenn du neben 500 Fotografen arbeitest und trotzdem etwas anderes vorweisen kannst“, hat der Fotograf David Burnett gesagt.
Die Zufriedenheit, die David Burnett meinte, ist eine andere. Die hier versammelte, vielleicht 500-köpfige Touristenmenge hat anderes im Sinn. Sie werden hier gewesen sein, und nun haben sie Beweise und Erinnerungshilfen. Könnten Affen denken, könnten sie vielleicht denken: Gut, dass ich nicht so bin, ist schon alles besser so. Zehn Millionen Tagestouristen pro Jahr kommen nach Gibraltar, und sicherlich hat jeder einen Fotoapparat oder ein Telefon mit Fotofunktion, und sie alle fahren auf den Fels. Damit könnten die Affen zu den am meisten fotografierten Lebewesen in Europa gehören.
Wir fahren mit einem Linienbus zum Europa Point, an dem ein Leuchtturm in den typischen Leuchtturmfarben steht. Es ist sehr heiß, die Luft scheint sich nicht zu bewegen, die Sonne im Zenit, und da stehen wir also, zwei Deutsche an dem nach Tarifa südlichsten Ende Europas, zwischen einem Cricketfeld und einer der größten Moscheen, die in einem nicht-muslimischen Land errichtet wurde und deren Minarett den Leuchtturm überragt, und amüsieren uns darüber, dass dieses absurde Stück Land auf jene 240 Afrikaner angewiesen ist, die dafür sorgen, dass es Großbritannien bleibt, und sehen in der Ferne die Umrisse der Ausläufer des Rifgebirges und vor uns die Meeresenge, in der immer wieder Flüchtlinge in kleinen Schlauchbooten, die vom Radar nicht leicht zu orten sind und denen Frachtschiffe nicht ausweichen können, versuchen, nach Europa zu gelangen. Wir haben das gemacht, was Touristen machen: Wir waren bei den Affen. Am frühen Nachmittag halten wir wieder unsere Reisepässe bereit und gehen mit einer Plastiktüte zurück nach Spanien. Im Rücken der von Touristen gesprenkelte Fels.
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