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Apropos weltoffen

 

An jeder Dorfeinfahrt steht, wann Weihnachtsgottesdienst ist. Nirgendwo erfährt man, wann Chanukka beginnt. Muss man dafür etwa Netanjahu anrufen? Es geht auch anders.

Chanukka-Markt in Berlin © Sean Gallup/Getty Images
Chanukka-Markt in Berlin © Sean Gallup/Getty Images

Ja, ich lese Zeitung. „Das ist das große weiße Papier mit der schwarzen Schrift“, erkläre ich meinen Söhnen, die nur noch an Dinge glauben, die mit „online“ anfangen. In der Regel lese ich in der Woche Tageszeitungen, am Wochenende die Beilagen, regional, überregional, je nachdem, wo ich mich befinde und was zu haben ist. Unterwegs klaue ich gerne in der 1. Klasse der Bahn die Zeitung, um sie genussvoll in der 2. zu lesen. Das befriedigt meine kriminelle Ader und die Sozialistin in mir.

Jetzt aber habe ich mir für eine Zugfahrt die Jüdische Allgemeine gekauft. In keiner der renommierten Tageszeitungen konnte ich herausfinden, wann genau in diesem Jahr Chanukka anfängt und wieder aufhört. An jeder Dorfeinfahrt in Brandenburg kann man lesen, wann der Gottesdienst in der jeweiligen Kirche beginnt, sogar konfessionell aufgeschlüsselt. Muss ich, um zu wissen, wann die Berliner Synagogen gedenken, ihre Tore zu öffnen, Netanjahu anrufen? Ich hatte eine lange Strecke zurückzulegen, also las ich unser Gemeindeblatt vorn vorne bis hinten durch. Auf der Rückfahrt tat ich es wieder, von hinten nach vorne.

Als ich das meinen jüdischen Freunden erzählte, hielten sie mich für verrückt, sie fragten sich und mich, ob ich plane, orthodox zu werden, oder was diese plötzliche Hingabe zum Judentum zu bedeuten habe? Das Gemeindeblatt zu lesen, sei das Uncoolste, Rückständigste, Provinziellste, Unaufgeklärteste und dergleichen mehr, was man sich vorstellen könne. Warum ich nicht gleich die Apothekenrundschau abonnieren würde?

Was lesen denn sie, denke ich, was all das nicht ist? Was soll ich dazu sagen? Meine dörfliche Seele braucht in der Großstadt ein bisschen überschaubare Nachrichten, gleichsam von nebenan.

Die Welt aus dem Schtetl heraus sehen

„Ganz abgesehen davon, dass die Zeitung sich in den letzten Jahren rein äußerlich ordentlich herausgeputzt hat“, hebe ich zu meiner großen Verteidigungsrede an, „versucht sie zudem tapfer, allen aktuellen Strömungen gerecht zu werden. Das ist weiß Gott nicht einfach. Von provokativen Juden wird berichtet, wie zum Beispiel Oliver Polak, orthodoxe Rabbiner erklären den Wochenabschnitt, es gibt die neuesten Film- und Buchempfehlungen und koschere Rezepte. Lachs mit Koriander, Zitrone und Kreuzkümmel werde ich bald nachkochen, euch einladen und ihr werdet sehen, wie lecker das schmeckt!“

Verständnislose Stille. Meine Argumente reichen offenbar nicht aus, ich verteidige mich und das Blatt emsig weiter:

„Der genaue Schabbesbegin für ganz Deutschland ist auf Seite 16 bestens vermerkt, von Aachen bis Wuppertal. Natalie Portman ist in Israel geboren und Ilse Aichinger verbrachte etliche Stunden jeden Tages im Kino, sah bis zu vier Filme hintereinander, um zu vergessen. Habe ich zu ihrem Tod gelesen. Das habt ihr alles nicht gewusst, oder?“

Mein Mann findet es ein wenig merkwürdig, dass ich eine Zeitung lese, die sich nur auf das Judentum beziehe. Ich tröste ihn, das täte ich ohnehin seit jeher, auch ohne Zeitung. Außerdem: Vielleicht wäre es gar nicht so unpassend, die Welt aus dem Schtetl heraus zu sehen, das sei doch eine genauso legitime Perspektive wie die globale, vielleicht sogar ein bisschen schärfer als dieses ewige Die-ganze-Welt-im-Blick-haben.

Die genauen Umstände zur Trennung von Angelina Jolie und Brad Pitt zum Beispiel habe ich aus der Sicht einer jüdischen Psychotherapeutin erfahren. Ich lese, dass Donald Trump vor allem an hohen jüdischen Feiertagen die größte Angriffslust an den Tag lege, nicht gegen irgendwen, sondern ausgerechnet gegen Juden, und als Fidel Castro dann endlich tatsächlich starb, erfuhr ich, dass er als junger Mensch sehr antisemitisch eingestellt gewesen sei, später aber ganz im Gegenteil sogar Synagogen besucht habe. Das ist doch alles sehr interessant.

Von liberal bis orthodox

Immer wieder lese ich die Lebensberichte von Überlebenden, die hoch in den Neunzigern sind, sie würden bald sterben und wollten, dass wir nicht vergessen, was sie erleben mussten. Das zieht sich wie ein Mantra durch die ganze Zeitung und wie ich vermute, durch sämtliche Ausgaben.

Daraufhin lese ich, dass die jüdischen Gemeinden in Deutschland keine Chance hätten auf ein pluralistisches, selbstbewusstes Leben, zu sehr würden sie sich immer noch auf die Schoah beziehen. Außer in Berlin, da gäbe es einen Homosexuellen-Lesben-Queer-Gottesdienst unter einem konvertierten weiblichen Rabbiner, also einer Rabbinerin. Gott sei Dank!

Ich lese, dass eine Anwältin die El Al verklagt hat, weil sie gezwungen wurde aufzustehen, da ein Orthodoxer nicht neben ihr, neben einer Frau sitzen wollte. Sie hat die Klage gewonnen. Na, geht doch!, denke ich.

Von liberal bis orthodox, zionistisch oder paranoid – ich bin bei allen möglichen jüdischen Belangen zu Gast, bei den Philosophen und den Predigern, bei den militanten und den humorvollen, ohne mich auch nur einen Zentimeter aus Schöneberg weg bewegen zu müssen.

Ich erinnere mich an einen Witz, der endete mit „Der Elefant und das jüdische Problem!“ – aber vielleicht war es auch gar kein Witz …

Nachrichten aus dem Schtetl, denke ich mir, nur dass das Schtetl so groß ist wie die ganze Welt.

Wenn ich mir vorstelle, dass 1946, nur ein Jahr nach Kriegsende, Juden in Deutschland eine eigene Zeitung herausgebracht haben, möchte ich vor Rührung weinen. Und fast wieder Gemeindemitglied werden, aber so weit geht die Rührung dann doch nicht.

Aber ich überlege, zu Chanukka, das dieses Jahr am 25.12. (siehe Seite 16) beginnt, vielleicht das Gemeindeblatt zu abonnieren. Dann werde ich statt der Weihnachtsreportagen und der hinreißenden Geschichte über die jungfräuliche Niederkunft Marias lesen, was die AfD so vorhat. Ist das ein Plan?

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