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In der Unruhe liegt die Kraft

 

Angeblich können wir uns jeden Tag neu erfinden. Stattdessen jammern wir über Alternativlosigkeit. Schluss damit. Lernen wir wieder, mit unseren Möglichkeiten produktiv umzugehen.

Credit: Will van Wingerden/Unsplash
Credit: Will van Wingerden/Unsplash

Trump – unmöglich, dass der gewählt wird. Der Flüchtlingsdeal mit der Türkei – schmutzig, aber halt zwingend. Die sedierten Reformen der großen Koalition – tja, Realpolitik. Zugeständnisse an Putin – bitter, aber man braucht ihn eben. Merkel tritt noch mal an – Mutti bleibt die Beste!

Das Problem ist: Wir haben verlernt, in Möglichkeiten zu denken. Das Paradox ist: gerade weil fast Grenzen gefallen sind, alle Wege offen stehen. Das gilt nicht nur für die Politik, sondern auch für jeden Einzelnen, für Liebespartner, Lebensorte oder Berufswahl. Jeden Tag können wir uns angeblich neu erfinden, doch stattdessen … kriegen wir Angst. Und verharren im bequemen Wunschdenken der Alternativlosigkeit, bis am Ende der Katzenjammer groß ist.

Es gibt diese Sätze, meist vor Jahren von Eltern oder Großeltern gesprochen, die heute wie aus einer anderen Welt nachklingen: „Mach dein Abi, dann hast du alle Möglichkeiten“ oder „Wir sparen, damit ihr einmal mehr Möglichkeiten habt als wir“. Sätze aus einer analogen Welt, einer Welt in Schwarzweiß oder matten Super-8-Farben.

Möglichkeit – das war einmal ein Versprechen: auf Zukunft, Freiheit, Fortschritt. Wahrscheinlich schwang auch damals schon mehr Doppelbödigkeit darin mit, als man heute glauben möchte, verbargen sich hinter dem Angebot bereits seine Kehrseiten, der Druck und die Erwartung des Mach-was-draus. Doch zu einem Phänomen sind diese erst jetzt geworden, da wir zunehmend Begriffe dafür finden. Denn heute scheint sich das Versprechen in sein Gegenteil gewandelt zu haben, in etwas, das uns beunruhigt, ja bedroht. In einen Raum hybrid wachsender Optionen, in dem einem zwangsläufig die Orientierung abhanden kommt, für das Ich und für die Gesellschaft. Hinter lauter Vernetzung, Self-Management und Gefällt-mir-Klicks dräut nichts als Leere. Wir verlieren uns.

Dauerpulsierende Ich-AG

Zumindest wenn man der Gesellschaftsphilosophie der letzten beiden Jahrzehnte Glauben schenkt. Vor Gefühlen des Kontrollverlusts angesichts explodierender Möglichkeiten warnt etwa der Identitätsforscher Heiner Keupp. Wenn nichts mehr selbstverständlich ist, weil etablierte Muster wegfallen, wenn alles immer auch anders sein könnte, stehen unsere Lebensverhältnisse dauerhaft infrage. Mit ruinösen Folgen, so der Philosoph Dieter Thomä, der die Ideologie der ständigen Selbstverwirklichung gar als Pathologie beschreibt, die von einem nicht wirklichen, noch im Status des Möglichseins verharrenden Selbst ausgehe. „Man verrennt sich in dem Gefühl, einstweilen unverwirklicht zu sein, auf das wahre eigene Leben noch zu warten, und pflegt einen ganz unsinnigen dégoût gegen das, was man schon ist.“

Auch der Schuldige ist schnell ausgemacht – die Moderne oder gar Postmoderne, die uns zu dauerpulsierenden Ich-AGs trimmt. Selbst-Werdung ist lebenslange Bürgerpflicht: Sei individuell! Lästig nur, dass jede Möglichkeit mit Alternativen einhergeht und somit auch mit Entscheidungsdruck. Der moderne Mensch steht vor einem Dilemma: Vor lauter Möglichkeiten hat er keine echte Wahl mehr. Die Wahlfreiheit droht zum Wahlzwang zu werden und dieser zur Wahlunfähigkeit. Jede Entscheidung könnte ja die falsche sein. Das Subjekt will und darf keine Option unbedacht lassen und kann sich daher kaum noch festlegen. Am Ende steht so eine labile Existenz unter dauerhaftem Vorbehalt.

Statt über kohärente Erfahrungen so etwas wie Haltung zu entwickeln, tasten wir nach externen Haltegriffen. In den Onlinepartnerbörsen verspricht das Fahndungsprofil zum Abhaken, die Suche nach der optimalen Möglichkeit zu erleichtern, und dient doch vor allem narzisstischer Befriedigung. Artet das spielerisch-reizvolle Anbandeln in regelrechte Beziehungsarbeit aus, lockt schon ein anderer Interessent; alles eine Frage des flexiblen Beuteschemas.

Pixel unserer selbst

Doch die Gesetze des Marktes gelten natürlich auch für das eigene Angebot; jeder Bauch ist ein Laden. Als Bestandteil permanenter Selbstverbesserung wird aus dem eigenen Körper herausgeholt, was möglich ist. Facials, Fitness, Wellness – die Multioptionsgesellschaft hat eine unverbindliche Berührungsindustrie geschaffen, deren Korrelat in der virtuellen Körperlosigkeit des Internets liegt. Dort ist man der Idee des idealen Selbst so nah wie nirgends sonst. Virtuell, das heißt laut Wörterbuch auch: der Möglichkeit nach vorhanden. Die Rollen, die man in der Simulationskultur des Netzes spielt, sind variabel, sind buchstäblich Pixel unserer selbst, dabei oft geschützt durch Anonymität und leicht zu manipulieren.

Zwar sind Experimentierformen wie Second Life oder Cybersex Nischenphänomene geblieben. Doch über Selektionsverfahren und Statusberichte, über Profile in den sozialen Netzwerken, geteilte Bilder, Kommentare, Freundeslisten, Ratings und Likes schaffen wir schleichend eine Gemeinde von Avataren, die meist deutlich origineller und hübscher sind als der Prototyp, der uns morgens im Badezimmerspiegel auflauert.

Zuletzt entwerfen wir auch in der immer flexibleren Arbeitswelt, die nicht mehr von vorgezeichneten Wegen und Stufen, sondern von Job-Hopping und Multitasking bestimmt ist, fortlaufend aktualisierte Rollen. Wir gehen nicht auf Arbeit, sondern haben Jobs. („Job“ bezeichnete im Englischen nicht umsonst einst einen Klumpen, den man herumschiebt.) Notgedrungen testen wir, was gerade unser erfolgversprechendstes Profil ist.

Die Nachtseite der Möglichkeiten ist die Überforderung. Doch die wird einfach umdefiniert, zur Herausforderung für das unternehmerische Selbst. Mithilfe von Ratgeberbüchern oder des Therapeuten, der jetzt sexy „Coach“ heißt und Distinktionsmerkmal der Hochleistungsträger ist, gilt es, das plurale Ich noch irgendwie unter einen Hut zu kriegen, in Selbsterkenntnisprozessen perfekt auszusteuern – bis man nach dem Burn-out wieder ganz am Anfang steht, bei der ersten aller Fragen: Wer bin ich eigentlich?

Gesten der Selbstmodellierung

Denn die vermeintliche Diktatur der Möglichkeiten ist Symptom einer ausgreifenderen Krise, der Krise der Identität. Während sich im überbordenden Angebot der Möglichkeiten die festen Ränder auflösen, verlangt Identität nach Konturen. Vermutlich ist deshalb heutzutage so viel von Profilen die Rede, deren ästhetisches Hauptmerkmal von jeher die klare Umrisslinie war. Niemand will sein Selbst unscharf sehen – denn dann ist es eben keins mehr.

Doch genau da liegt das Problem. Begreift man Identität als eine Art mentale Heimat, an der unsere eigenen Ansprüche und die Erwartungen der Umwelt ausbalanciert sind, dann scheint es schon seit Längerem nicht besonders gut um uns bestellt zu sein.

Es ist ja auch schrecklich kompliziert geworden mit dem Ich. Seine Anreicherung mit Es und Über-Ich durch Sigmund Freud kommt einem da schon vor wie kleines Einmaleins. In der Gegenwart rotiert das Ich als buntes „Patchwork“, dem nur noch mit permanentem „Identitätsmanagement“ beizukommen ist. Im Vergleich zu früher ist das Leben in deutlich vielfältigere Optionen, Rollen und Erwartungen segmentiert; dafür hat sich der Begriff der Pluralisierung etabliert. Im Gespann mit der Globalisierung hat sie die soziale Welt auf eine Weise beschleunigt und dereguliert, dass das einzig Verlässliche an unserer Identität noch ihre Wandelbarkeit ist. Alte Gewissheiten wie Stand, Religion, Beruf oder Geschlechterverhältnis sind brüchig geworden. Die aktuelle Peergroup ist inzwischen die prägendere Familie, die Eltern sind die lässigeren Jugendlichen. Tradition und Kontinuität war gestern, heute ist die Welterfahrung von Zerstreuung, von Zersplitterung geprägt. Im Kaleidoskop sozialer Erfahrungen können und sollen wir viele sein und noch mächtig Spaß dabei haben.

Und das Individuum, um dessen Entfesselung es doch eigentlich geht? Fühlt sich verunsichert, beliebig, wie ein Fremder im eigenen Haus. Vor lauter Bäumen sieht es den Wald nicht mehr – und zieht sich immer mehr auf die eigenen Belange zurück, in der Hoffnung zwischen all den Gesten der Selbstmodellierung, der medialen und körperlichen Inszenierung etwas zu finden, das sich echt anfühlt. Das Ich wird zum Gegenstand ängstlichen Forschens und flexiblen Planens, die Gemeinschaft zum Risikofaktor mit ewig neuen Erwartungen, Bewertungen und Möglichkeiten des Scheiterns. Man reibt sich nicht mehr an den gesellschaftlichen Verhältnissen und gewinnt dabei an Profil, sondern arbeitet an den eigenen Schwächen, passt sich ein. Der Marktwert zersetzt den Wertehimmel. Die Rechnung zahlt am Ende die Gesellschaft, denn mit lauter wabernden Ichlingen ist kein verantwortungsbewusster Staat zu machen.

Sinnkrisen, Singlehaushalte, Depression

Die Beschwörung der fluiden Identität ist längst zu einem soziophilosophischen Grundrauschen geworden. Für den Philosophen Hartmut Rosa kreieren die permanenten Selbstentwürfe des Individuums den neuen Sozialtypus des Drifters, der immer schneller von Welle zu Welle springt und doch im Zustand rasenden Stillstands verharrt; denn er kennt weder Grund noch Ziel seiner dauernden Richtungswechsel, er will nur nicht untergehen in der Flut der Impulse. Er strampelt, findet aber keine Resonanz, keinen Halt eines eigenen Standorts mehr unter den Füßen.

Dieser „flexible Mensch“, wie ihn ähnlich auch Richard Sennett beschrieben hat, geistert durch sein Dasein wie durch ein undurchsichtiges Netzwerk, das keine Lebensgeschichte mehr erzählt. Keine biografischen Spuren machen ihm die Vergangenheit plausibel und weisen ihm die Zukunft an. Er vermeidet jeden Schmerz, jedes Scheitern und damit auch langfristige Bindungen – zu anderen und zu sich selbst, zu der anpassungsfähigen, gesichtslosen Collage seines Ichs. Dass das auf Dauer ziemlich ermüdend ist, kann man sich denken. Entsprechend lauten die Diagnosen über die Folgen nie rastender Identitätsarbeit. Das Selbst ist „erschöpft“ (Alain Ehrenberg) und „übersättigt“ (Kenneth J. Gergen). Die Stichworte sind uns inzwischen aus den Talkshows bestens vertraut – Sinnkrisen, Singlehaushalte, Depression.

Natürlich ist all das ein Zerrbild der Wirklichkeit, es gibt immer auch Ausnahmen und Gegenstrategien. Es ist nicht mehr und nicht weniger als eine Möglichkeit unseres Daseins, aber eine mit empirischer Plausibilität, eine Möglichkeit höherer Potenz. Eine Wahrscheinlichkeit.

Und doch fällt etwas auf: Wenn immer wieder nur eine Identität vermisst wird, die nicht mehr da ist, und angesichts ihrer Zersplitterung zugleich mit Konzepten und Begriffen operiert wird, die ihrerseits aus der Postmoderne stammen – Eigentlichkeit, Ambivalenz, Diskurs, Kontingenz etc. –, dann beißt sich die Katze irgendwann in den eigenen Schwanz. Dann wird die Analyse tendenziös, denn sie klammert sich an den statischen Habitus einer Klage, die nur das eingefallene, nicht-mehr-mögliche Kartenhaus sieht, aber nicht die schöne Form seiner Trümmer. Kurzum, ausgerechnet der Möglichkeitsbegriff wird seiner eigenen Art beraubt, der Vielfalt seiner Möglichkeiten.

Das freie Ich als Illusion

Dabei relativiert sich die Besorgnis schon, wenn man den Stachel dringlicher Aktualität ein wenig lockert. Ein Blick in die Ideengeschichte vermittelt gar den Eindruck, als sei das Plurale schon immer der eigentliche Kern der Identität gewesen und die Vorstellung eines ganzheitlichen Ichs von jeher nur eine gedankliche Spielart ihrer Möglichkeiten. Und eben nicht umgekehrt.

Bereits im Gastmahl Platons ist Sokrates jedenfalls recht skeptisch gegenüber der Idee eines selbstidentischen Menschen, denn „obgleich er denselben Namen führt, bleibt er doch niemals in sich selbst gleich“. Auch für Michel de Montaigne bestehen wir „alle nur aus buntscheckigen Fetzen, die so locker und lose aneinander hängen, dass jeder von ihnen jeden Augenblick flattert, wie er will“, und dass einer wie Friedrich Nietzsche mehrere sterbliche Seelen für sich veranschlagt und sein Subjekt als Vielheit denkt, versteht sich ja fast von selbst. Spätestens seit der Mensch der Renaissance seine sozialen Radien erweitert und verstärkt über sich als Individuum nachgrübelt, ist er sich seiner Zerrissenheit bewusst; zwischen Freiheit und Zwang, Ich und Gesellschaft, Ich und Ich.

Heute machen die Naturwissenschaften die Sache noch zusätzlich kompliziert. Die Hirnforschung etwa hat die Macht der Gefühle wiederentdeckt. Unsere Kindheitserfahrungen und das emotionale Gedächtnis haben für sie deutlich mehr Einfluss auf unser Tun und Lassen als jede rationale Entscheidungskraft. Wenn das freie Ich aber eine Illusion ist, dann erst recht das beschriebene Identitätsmanagement. Unser willentliches Veränderungspotenzial liegt demnach gerade einmal bei zwanzig Prozent, alles andere sind Affekte. Also was jetzt, haben wir real nun zu viele Möglichkeiten oder zu wenige?

Eine einfache Antwort kann es auf diese Frage nicht geben, denn sie ist unscharf gestellt. Man wird dem Möglichen gerechter, wenn man es nicht nur als Komplement des Wirklichen begreift, als etwas Niederes, das darauf wartet, in den höheren Seinsrang der Realität gehoben zu werden, sondern als etwas Eigenes. Denn wenn die Möglichkeit nur Hebamme der Wirklichkeit wäre, jede Wirklichkeit also zunächst aus einer Möglichkeit hervorgeht, was steht dann am Anfang dieser Kette? Die reine Wirklichkeit eines unbewegten Bewegers? Gott? Und schon schwitzt man in des Teufels Küche, der Metaphysik.

Schöpferische Improvisation

Oder man gibt doch der Möglichkeit den Vorrang gegenüber der Wirklichkeit, wie es Teile der Existenzphilosophie entworfen haben, schließlich bestimmt sich das Dasein als Seiendes je aus einer Möglichkeit, die es ist und in seinem Sein versteht. Ach, Heidegger …

Muskelspiele mit dem Wirklichen verhelfen dem Möglichkeitsbegriff also kaum zu einer eigenen Identität. Dafür müssen wir noch einmal dorthin, wo alle seine Möglichkeiten offen und frei da liegen, zum Anfang reiner Logik. Dort darf das Mögliche alles sein, was widerspruchsfrei gedacht werden kann. Dass ich jetzt gleich ein rundes Quadrat zeichne, hat demnach keinen Möglichkeitsanspruch; dass ich heute Abend von Außerirdischen zum Mars entführt werde aber durchaus. Denn logisch möglich sind alle Dinge, deren Eigenschaften nicht prinzipiell unvereinbar sind – womit das Mögliche jedoch erneut wieder nur ex negativo bestimmt wäre. Dreht man den Spieß aber einmal um, ohne das Mögliche positivistisch – durch schnöden Weltbezug – zu sehr einzuschränken, wird es wieder sachlicher und anschaulicher. Dann erscheint die Möglichkeit als eine Kategorie der Modalität, also der Art und Weise, wie etwas getan oder gedacht wird. Anders gesagt: Möglich ist, was durch korrespondierende Anschauungen belegt werden kann. Oder noch anders: Ein wunderschöner Raum öffnet sich.

Dieser Raum des Möglichen, wie Pierre Bourdieu ihn nennt, ist luftig und weit, aber nicht leer. Er ist mit den gegebenen Regeln und Rahmenbedingungen seiner jeweiligen Zeit eingerichtet, mit den gesellschaftlichen Zwängen und unseren persönlichen Prägungen. Der Raum des Möglichen ist damit in Teilen schon zugestellt, wenn wir ihn betreten, jedoch beileibe nicht ganz. Es ist buchstäblich ein Spielraum (für das Spiel namens Gesellschaft) und gewährt Spielräume für Anschauungen, die über das bereits Verwirklichte hinausgehen, für schöpferische Improvisationen, für widerständige Wertanschauungen, aber auch für Wünsche und Utopien. Es ist ein unruhiger Raum, doch in dieser Unruhe steckt große Kraft.

Das Kraftzentrum bildet ein einfacher Gedanke: Es ist möglich, unsere eigene Geschichte zu machen, im Guten wie im Schlechten. Dies nicht als Bedrohung, sondern als historische Errungenschaft zu vermitteln, ist Aufgabe der praktischen Philosophie. Denn das Denken in Möglichkeiten ist eine demokratische Grundvoraussetzung. (Auch deshalb ist die beliebte Rede unserer Kanzlerin von „alternativloser“ Politik so fragwürdig.)

Adornos Brille

Erst durch die Idee der Möglichkeit konstituiert sich nämlich die bürgerliche Gesellschaft. Das zeigt Gösta Gantner auf, der unter anderem am berühmten Frankfurter Institut für Sozialforschung über den philosophischen Möglichkeitsbegriff arbeitet. Von hier aus machten die Frankfurter einst Schule, allen voran Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, denen sich auch Gantners Ansatz verpflichtet fühlt.

Seit etwa 300 Jahren gehen soziale Möglichkeit und neuzeitliches Geschichtsbewusstsein Hand in Hand. Aus der langsamen Erschütterung der Theodizee-Lehre, wonach wir in der besten aller möglichen Welten leben, hat sich allmählich eine dynamische Zukunftsvorstellung geformt: Der Mensch ist seines Glückes Schmied, er hat die Möglichkeit, sich und seine Lebenswelt vernünftig zum Besseren zu entwickeln. Was heute etwas putzig klingt, hob einst die Welt aus den Angeln. Ein neues Sozialbewusstsein, die Ideale der Französischen Revolution und ein rasender Optimismus waren die Folge – bis mit den nationalsozialistischen Verbrechen das böse Erwachen kam. Die Barbarei war in den Möglichkeitsraum eingezogen, oder mit Adorno: Das Unmögliche war nicht nur möglich, sondern es vollzog sich längst.

Das Möglichkeitsdenken teilte sich; auch das Schlechte war möglich, ja sogar wahrscheinlich – und damit eine Philosophie nötig, die Defizite und Widersprüche in den bestehenden Verhältnissen freilegt und anprangert, aber auch über den Tellerrand des Realen hinausblickt, alternative Entwürfe antizipiert, Zukunft gestaltet – bis an den Rand des Utopischen. Die Kritische Theorie war geboren.

Mit Adornos Brille auf der Nase entpuppt es sich als gar nicht so schlimm, dass sich heute viele von den Möglichkeiten des pluralen Lebens überfordert und bedroht fühlen. Der Pluralismus geht aus unserer spezifischen Fähigkeit, in Möglichkeiten zu denken, vielmehr unmittelbar hervor. Und unser Gemeinwesen braucht diese Unruhe. Erst aus ihr erwachsen neue produktive Möglichkeiten, jene von Widerstand und Kritik, und Adornos Gedankenspiele des Anders-sein-könnens. Damit ist keine schwammige Träumerei gemeint, sondern ein sehr greifbarer Erkenntnis- und Handlungshorizont. Den „Ausbruch aus dem Gegebenen als ein innerweltliches Transzendieren“, nennt es Gantner – das Entwerfen von Möglichkeiten, die unter der Oberfläche unserer Beunruhigung schlummern, also im Wirklichen bereits latent vorhanden sind. Bourdieu nennt sie deshalb auch objektive Potenzialitäten.

Ich-Wir-Balance

Wenn man einmal hinhört, steigert sich die Unruhe vieler angeblich so selbstsüchtiger Individuen schon seit längerer Zeit zu einem vernehmlichen Brodeln, das kritische Fragen nach Veränderung stellt: nach den gesellschaftlichen Ermöglichungsbedingungen, nach Bildung und Transparenz. Scheinbare Selbstverständlichkeiten kommen wieder auf den Prüfstand. Wenn Politik doch die Kunst des Möglichen ist, wie es immer heißt, warum unterwirft sie sich dann blind der Macht der „Märkte“? Warum müssen Ärzte Unternehmer sein? Ist die repräsentative Demokratie wirklich die beste aller möglichen Regierungsformen, wenn sie immer häufiger Horrorclowns an die Macht bringt?

Manchmal scheint in dieser Unruhe ein revolutionärer Geist mitzuschwingen, eine Ahnung von Idealen mit dem Drang nach Befreiung. Das allein meint natürlich noch keine Wertung. Eine Pervertierung ins Ungute ist immer möglich. Aber es geht eben wieder um Werte; darum, dass sich persönliche Autonomie und gesellschaftliches Engagement nicht ausschließen müssen.

Occupy, WikiLeaks, digitale Bohème oder aktuellere Aktionsbündnisse wie Wir machen das – das sind, bei allen Unterschieden, neue Identitätsfigurationen, die vor dem Hintergrund starker Wertungen nach einer Ich-Wir-Balance streben; nach Resonanz, nach Beziehungen „des wechselseitigen Antwortens“, wie Rosa es nennt. Letztlich nach veränderbaren Identitätsrollen, die als Ensemble Haltungen stabilisieren. Dies geschieht durch neue Interaktionskulturen, oder genauer: indem Normen der Interaktion hinterfragt, verändert und mit Bedürfnissen verknüpft werden, die über das verabsolutierte Private hinausgehen oder es in einen größeren Rahmen integrieren, etwa nach Gerechtigkeit oder Anerkennung. So entstehen Charaktere, keine postmodern verzettelten Individuen; denn die Bereitschaft zur Identifikation mit werte- (statt rein zweck-)bestimmten Gefühlen bildet jene stabile Prägung, mit der sich auf der Klaviatur der Identität souverän improvisieren lässt.

Die Unruhe ist eine schöpferische Kraft. Für Nietzsche ist sie eine existenzielle Grundbestimmung, die auf die Instabilität des Menschen als krisenhaftes Wesen antwortet; für Hegel ist sie sogar der natürliche Zustand jeden Anfangs. Und dass wir sie überhaupt spüren können, dass wir unsere Leben als Geschichten wahrnehmen, die immer wieder neue Anfänge finden, erst das macht uns für Hannah Arendt zu Menschen. Ich zu sagen, bedeutet, eine unruhige Geschichte von sich zu erzählen.

Bewusster Utopismus

Die Steigerung der Unruhe ist die Angst. Die Vorstellung eines von Möglichkeiten fragmentierten Selbst mag uns Angst machen. Doch ein Fragment ist nie nur defizitär. Es weist immer auch implizit über seine eigene Wirklichkeit hinaus, auf das, was es nicht ist, aber sein könnte. Gerade das flüchtige Bruchstück ist sprechend für das Amorphe und Flüchtige, das wir unsere Geschichte nennen, ist sie doch ihrerseits immer nur Fragment des Zeitlaufs. Im Stückwerk scheint der Zusammenhang des Ganzen als eigene utopische Möglichkeit auf. Seine Form ist die Offenheit, seine Laune die Neugier (die schöne Zwillingsschwester der Angst), seine Gattung der Essay.

Die Postmoderne hat das Ende der großen Erzählungen verkündet. Aber die Identität war eben nie eine geschlossene Erzählung, sie war schon immer ein Essay, im französischen Sinne des Wortes, ein Versuch, ein Kreisen in Möglichkeiten, das niemals ankommt; bei keinem Kern, keiner letzten Gewissheit. Und so bleibt es, wie Robert Musil in seinem epochalen Essayroman Der Mann ohne Eigenschaften schreibt, letztlich dem „Möglichkeitsmenschen“ vorbehalten, in „einem feineren Gespinst“ als der bloßen Wirklichkeit zu leben. Er strebt, indem er das, was ist, nicht wichtiger nimmt als das Mögliche, jenem „anderen Zustand“ entgegen, in dem das unabgeschlossene Ich sich als solches endlich wahr fühlen kann. Der Möglichkeitsmensch hat ein Feuer in sich, „einen Flug, einen Bauwillen und bewussten Utopismus, der die Wirklichkeit nicht scheut, wohl aber als Aufgabe und Erfindung behandelt“.

Ohne die Unruhe der Möglichkeit kann nichts entstehen, nichts erzählt werden, am wenigsten die Geschichte unseres Selbst – der Essay, dessen Titel unser Name ist.

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