Lesezeichen
‹ Alle Einträge

Unsere Träume werden in Erfüllung gehen

 

Wieder mal zum Zahnarzt, eine Festanstellung bei Google, oder doch lieber auf Lehrer umschulen? Bis Mitternacht darf vorgeträumt werden, damit das neue Jahr besser wird.

Silvester: Unsere Träume werden in Erfüllung gehen
© Jakob Owens/Unsplash

Bei meinem Zahnarzt gibt es ein Hinterzimmer, das sich zu einem riesigen Open-Space-Büro vergrößert, wenn man an der Rezeption, wo man sein Bonusheft abgegeben hat, vorbeiläuft, nach links abbiegt, den Gang hinunter und an den Behandlungszimmern vorbei bis zu dem Raum, wo normalerweise geröntgt wird. Es ist noch unklar, warum sich meine Zahnarztpraxis in meinem Traum so ausweitet. Suche ich nach einer festen Anstellung? Nach einem Fluchtweg vor den Bedrohungen, die ein Arztbesuch so mit sich bringt? Nach einer Parallelerfahrung im Sinne von Phillip K. Dick? Oder hatten diese Raum-Fantasien am Ende etwas mit dem weltweiten Geschehen zu tun, zum Beispiel, dass der Google-Konzern als wertvollstes Unternehmen der Welt jetzt eine Art Campus für Start-ups in Berlin aufmachen wollte und jeden dazu einlud, vorbeizukommen, um seine Ideen vorzustellen?

Meine Zahnärztin, eine energische und sehr bodenständige Frau, die ihren Patienten gerne den Spiegel vorhält und in aller Bescheidenheit Fahrradwandern zu ihren Urlaubsbetätigungen zählt, würde das vielleicht für irrelevant halten. Keine Sache, über die man sich weiter Gedanken machen muss. Aber meine Zahnärztin will ja auch kein Start-up gründen oder einen neuen allumfassenden Algorithmus finden, mit dem man die Welt komplett erfassen kann.

Das kreative Kapital

In seiner Tiefenstruktur scheint der Traum zum Google Emea Engineering Hub in Zürich zu führen. Ein Ort, wo sich in den Gemeinschaftsbereichen auf „einzigartige emotionale und visuelle Weise“ Sport und Freizeit assoziieren, zum Beispiel in der Water Lounge, wo Rutschen und Feuerwehr-Stangen für „schnelle vertikale Bewegungen“ sorgen. Auf dem Belegfoto in Sylvia Leydeckers Corporate interiors kommt mir eine enthemmte blonde Google-Mitarbeiterin aus der S-Kurve einer Metallrutsche entgegen, als wollte sie all unsere Sorgen, die sich zu einem lodernden Feuer der Angst und Ambivalenz auszubreiten drohen, allein mit ihrer bei Google antrainierten Zuversicht löschen.

Der Open Space bei meiner Zahnärztin führt in Räume, in Großraumbüros, die sich im Alltag als viel weniger grandios erweisen als in meinen Fantasien oder in den Abbildungen der Architekturbücher, in denen ich so gerne lese. Von den energievollen und inspirierenden Arbeitsplätzen bei Google hat mir damals schon Rafik, der Ex-Mann von Joelle, in dem Restaurant in Beirut erzählt, wo wir Silvester zusammen verbracht haben. Er erzählte mir von der Mischung aus Euphorie und Beklemmung, die für solche Arbeitswelten wie Google und Facebook typisch seien. Dass dort für alles gesorgt sei und dass er es so empfunden habe, dass der Konzern größer sei als das, was sein Gehirn „denken“ könne. Damit sei auch das kollektive kreative Kapital gemeint, erklärte er.

Ich erinnere mich nicht mehr, ob Rafik jemals in der europäischen Google-Zentrale in Dublin gearbeitet hat oder ob er nur ganz knapp in der letzten Bewerberrunde gescheitert und sowieso deswegen in Beirut geblieben ist. In der Erinnerung verschwimmen seine kaltschnäuzigen und lässigen Analysen zu Google mit dem irgendwie bizarren Silvesteressen, für das wir uns entschieden hatten. Steak auf erhitztem Vulkangestein, das im The Rock so serviert wird, dass man den Eindruck hat, das Fleisch würde schon allein durch den energischen und gierigen Blick, den man auf es wirft, gar werden und auf der schwarzen Vulkanplatte immer mehr schrumpfen, je nachdem wie man es haben wollte, gut durchgebraten oder eher medium.

Vertikaler denken

Rafik und Joelle waren damals noch ein Paar. Sie arbeiteten beide für eine Agentur in Beirut und sie erschienen mir wie ein Traumpaar des digitalen Nomadentums, das schon bald besser dotierte Jobs in Dubai oder Dublin annehmen würde. Ihre Liebe war gleichfalls „open space“. Sie posteten Liebesbeweise, dokumentierten ihre Beziehung so detailliert, dass man später nur noch auf Facebook erkennen konnte, ob und wie sie zueinander standen. Wenn man sie sah, war alles unklar und offen. Auch an diesem Abend erinnere ich mich an keine besonders intimen Momente zwischen ihnen, was vielleicht auch an The Rock, dem Vulkangestein und den Masken gelegen haben mochte, die wir später aufsetzen mussten. Mit den Masken, die man in Beirut an Silvester trägt, kann man kaum irgendwelche intimen Momente kreieren und sich schon mal gar nicht küssen.

Während des Essens sprachen wir über Google. „Ein Arbeitsplatz, der Spaß macht“ und einen trotzdem gefangen nimmt, wie Rafik mir erklärte. „Das hört sich alles irgendwie auch schrecklich an“, stimmte ich ihm zu, obwohl wir beide wahrscheinlich in diesem Moment noch davon träumten, bei Google fest angestellt zu sein, in Irland durch staubfeinen Nieselregen zu laufen, Meeresluft einzuatmen und einfach nur darauf zu warten, als Pensionäre unseren Enkelkindern von unserer Zeit als digitale Nomaden vorschwärmen zu können. Unser Arbeitgeber würde dann natürlich schon Alphabet heißen und ich würde vielleicht Rafik an einem ruhigen Nachmittag bei Scones und Tee aus Italo Calvino vorlesen, der in seinem Buch über das Schreiben von der Schnelligkeit des Denkens schwärmt. Und davon, dass das blitzschnelle Denken ohne Übergänge genau die Art und Weise sei, wie Gott denkt. Und dann würden wir beide in ein wehmütiges Lachen ausbrechen, weil wir mittlerweile natürlich noch schneller und raumgreifender, vertikaler und horizontaler denken konnten als jemals zuvor.

Spaßfabrik

Deswegen MUSS der Gang links von der Rezeption in der Praxis meiner Zahnärztin zu einem Großraumbüro führen. Dort, wo man vielleicht in aller Ruhe sein Start-up gründen und in irrsinniger Geschwindigkeit unglaublich reich werden kann. Auch wenn in dem Traum diese Räume vollkommen leer sind, wage ich es trotzdem nicht, weiterzugehen oder auch nur um die Ecke zu biegen. Ich versuche, mich zu erinnern, ob Rafik und Joelle sich an diesem Abend in The Rock auch nur ein einziges Mal umarmt haben oder ob ihre Liebe schon durch die Tausenden und Zehntausenden Jahre getrennt war, von denen Calvino in seinem Buch über die Schnelligkeit der Literatur spricht. Von dem Wunder, dass Menschen noch im übernächsten Jahrtausend nachvollziehen können, was wir heute schreiben und denken. Dem Alphabet sei Dank. Und ich denke an die Feuerwehrstangen und die Rutschen für die schnellen vertikalen Bewegungen, die Beziehungen unterbrechen, Stromkreise kurzschließen und Schicksale miteinander zum Verschmelzen bringen oder aber endgültig und unwiederbringlich zerstören. Ich würde gerne mit meiner Zahnärztin darüber sprechen. Aber noch habe ich keinen Termin im neuen Jahr mit ihr vereinbart. „Wissen Sie eigentlich was bei Ihnen los ist?“, würde ich sie fragen. „Also hier … Gleich um die Ecke, wenn man den Gang weiter geht bis zu dem kleinen Zimmer wo der Röntgenapparat steht?“

Ich erinnere mich mit Wehmut an die kalte Herrlichkeit des sterilen Interieurs von The Rock, die sanfte Luft der mediterranen Nächte, selbst am Ende, als die Zeit zum Stillstand gekommen war und plötzlich ein neues Jahr begann und wir unsere Masken abnahmen und ich immerhin, wenn auch zaghaft, Rafik und danach Joelle umarmte.

„Weißt du was?“, sagte Rafik. „Ich habe überlegt, ob ich mal was ganz anderes machen sollte.“

„Ja und was?“, fragte ich.

Hölle der Freude

Zu diesem Zeitpunkt war Rafik noch vollkommen ahnungslos. Dabei war die Trennung von Joelle für ihn eine viel größere Gefahr als für sie. Durch die Trennung von der energetischen und gut vernetzten Joelle, konnte Rafik leicht aus dem Orbit des schnellen Denkens und des höheren Nomadentums herausgeschleudert werden. Denn sie war es, die die treibende Kraft in ihrer Beziehung gewesen war. Man konnte ihr Doppelkinn sehen, wenn sie sich zurücklehnte, um genüsslich auf ihr Steak zu schauen. Joelle hatte schon immer ein Doppelkinn gehabt, aber Rafik schien das egal zu sein. Er mochte diese Art von Üppigkeit, die aber nur scheinbar Ausdruck einer gewissen Lebensfreude war. Denn eigentlich war Joelle ein sehr getriebener und ehrgeiziger Mensch. Alle meinten, das habe man auch in ihren Posts auf Facebook gesehen. Rafik dagegen zeigte eine gewisse Melancholie und erwies sich vielleicht auch deswegen den Anforderungen der Spaßfabrik Google nicht gewachsen. Später gingen wir noch nach draußen, wir trugen die albernen Masken und Goldhütchen, die uns das Restaurant zur Verfügung gestellt hatte. Dort draußen, in der Wirklichkeit, in der Nacht von Beirut, war die Hölle los. (Es war eine Hölle der Freude und nicht der Gewalt und Terroranschläge, die damals der Syrienkrieg in die Stadt gebracht hatte.)

„Was willst du denn werden?“, fragte ich Rafik.

„Ich würde gerne Lehrer werden“, sagte er und schaute mich traurig an. Die Liebe war zu Ende. Die große Liebe zwischen Rafik und Joelle, wie sie sie auf Facebook öffentlich gemacht hatten. Sie hatte ihre Kraft verloren, obwohl Rafik das in diesem Moment noch nicht wahrhaben wollte.

„Ich glaube, ich will das wirklich … Ich stelle mir immer vor, wie die Kinder auf mich zukommen und ich sage ihnen dann, was ich weiß. Ich ERKLÄRE ihnen dann alles.“

„Aber was denn?“, fragte ich, während ich mir den albernen goldenen Plastikhut vom Kopf nahm und an dem Halsgummi zog, das erstaunlich nachgiebig war.

Mein Gott. Lehrer.

„Ja, alles eben“, sagte er. „Alles, was wichtig ist. Ich glaube ich hab ein ganz gutes Gefühl dafür, was die Kids so brauchen, was man denen vermitteln muss.“ Er lächelte selbstgewiss und nickte mir zu. Er sah wieder wie ein richtiger „Googler“ aus, kraftvoll, dynamisch und von einer fast unbesiegbaren Fröhlichkeit. Jemand, der nachts vom Klo aus noch schnell etwas in die Welt twittert oder im Wartezimmer seines Zahnarztes eine bahnbrechende Erkenntnis hat, während ich im Traum noch nicht mal den Mut aufbrachte, um die Ecke zu biegen, um nachzuschauen, was sich eigentlich in den anderen Räumen befand. (Ein Ort des Schmerzes? Der Leidenschaft? Ein Ort, den man durch bloßes Nachdenken und Recherchieren niemals finden kann?)

„Mein Gott. Lehrer“, sagte ich leise zu Rafik, während ein lautes Hupkonzert begann und der Verkehr so stark wurde, dass wir keinen Schritt mehr weiter kamen. „Wie kann man denn bloß Lehrer werden wollen?“

Ich dachte an eine Freundin, die sich auch von der glitzernden Welt der Start-ups abgewandt hatte. Erst wollte sie Minensucherin werden und helfen, die Bomben in den Krisengebieten zu entschärfen, dann entschied sie sich wieder um und wurde auf einmal Grundschullehrerin.

„Und du glaubst wirklich, du könntest den Kindern helfen?“, fragte ich.

Happy new year!“, unterbrach uns in diesem Moment Joelle. Sie hatte sich wieder ihre Maske über das Gesicht gezogen und ein Strahlen aufgesetzt, als wollte sie die ganze Welt umarmen. „Guckt doch nicht so traurig. Unsere Träume werden schon in Erfüllungen gehen! Keine Sorge!“ Und dann prostete sie jemandem neben uns zu, irgendeinem Fremden, den weder Rafik noch ich jemals zuvor gesehen hatten.

_________________

Sie möchten keinen Freitext verpassen? Es gibt einen Newsletter. Hier können Sie ihn abonnieren.