In den vergangenen Monaten wurde der Sinn für apokalyptische Szenarien geschärft. Ist Auswandern die Lösung? Wenn ja, nach Hintersibirien oder lieber in die Schweiz?
Der Text verwendet Auszüge aus dem Buch Hinter Sibirien – Eine Reise nach Russisch-Fernost von Katerina Poladjan und Henning Fritsch, erschienen im Herbst 2016 im Rowohlt Berlin Verlag.
Zur heiligen Quelle Molokanka fährt eine Marschrutka. Der Begriff Marschrutka stammt vom deutschen Wort Marschroute ab. Das Ding selbst ist ein Kleinbus, ein Linientaxi. Mit drei weiteren Fahrgästen, die alle leere Plastikflaschen bei sich tragen, spekulieren wir, wo der Fahrer geblieben sein könnte. Katerina und ich glauben, er gönnt sich vielleicht noch ein Schaschlik auf die Hand, die anderen Fahrgäste aber sind misstrauischer und wollen die Miliz rufen. Heutzutage müsse man auf das Schlimmste gefasst sein. Was das Schlimmste sein könnte, wollen wir wissen, und alle schweigen, denken nach. Gute Frage, damals in Hintersibirien im März 2015.
Eineinhalb Jahre später steigen wir im feinen dichten Nieselregen über kolossale Steinquader, die aussehen, als machten sie nur eine kurze Pause, weil Gott – auf diesem Berg heißt er Zeus – gerade die Zeit angehalten hat. Gleich werden die Brocken weiter purzeln, die steilen Hänge hinunter, unten im nebligen Tal krachend zur Ruhe kommen. Unser Sohn sammelt dicke Schnecken, denen das feuchte Wetter lieber ist als uns, und denen die Geschichte dieses Ortes offenbar ziemlich egal ist. Wir sind in Mykene, Griechenland.
Wenige Wochen danach, der dünne Sonnenlack des kurzen Griechenlandurlaubs ist längst von unseren Gesichtern geblättert, sieht man auf dem Titel des Spiegel einen kolossalen Kopf mit wehenden gelben Haaren im rasenden Flug auf eine kleine blaue Erde zusteuern. Donald Trump hat die Wahl gewonnen. Er könnte die kleine blaue Erde verschlucken, suggeriert das Bild.
Ich reiche Katerina das Heft. „Dekapitiert“, sagt sie, und wir denken an einen anderen dicken Kopf ohne Rumpf: In Transbaikalien, in der russischen Stadt Ulan-Ude, nicht weit von der Grenze zur Mongolei, steht die größte Porträtbüste der Welt. Der alte Lenin schielt dort – ziemlich unvorteilhaft beleuchtet und mit einem sauberen Schnitt im Nacken – in die postsozialistische Nacht.
In unsere Küche trödelt die Uhr der Zeit in Ulan-Ude neun Stunden hinterher. Wir beenden unser Mittagessen schweigend, jeder hängt seinen Gedanken nach: Was ist denn das Schlimmste? Ist das jetzt das Schlimmste? Oder ist es ein Vorzeichen auf das Schlimmste?
Was wird, wenn es nicht bleibt, wie es ist? Der Möglichkeitssinn für apokalyptische Szenarien ist geschärft.
Und wohin fliehen?
Aufs Land?
Aber wäre man auf dem kleinen Bauernhof im Brandenburgischen oder in der Mecklenburgischen Seenplatte sicher vor dem Zugriff und den Zumutungen eines neuen Ungeistes?
Nach Griechenland?
Aber das idyllisch-arme Arkadien, in dem mutmaßlich glückliche Alte zwei Säcke Oliven auf einem Esel ins nächste Dorf bringen, ist längst untergegangen. Leonard Cohen hat es noch erlebt, dort schrieb er Suzanne, jetzt ist er tot. Ach, ach.
In die Schweiz?
Die Schweiz ist zu teuer und – so hört man – sowieso schon voll.
Katerina bringt die Wildnis am Baikalsee als Auswanderungsziel ins Spiel.
***
Henning will nicht in der Wildnis leben. Jetzt sitzen wir im vorweihnachtlichen Berlin fest, und ich blicke auf meinen Schreibtisch. Ich wünschte, ich hätte einen aufgeräumten Schreibtisch. Ein Blatt Papier, ein Bleistift, ein Glas und eine Karaffe mit stillem Wasser, mehr sollte nicht darauf zu sehen sein. Vielleicht noch etwas Hübsches, Nutzloses – ein antiker Briefbeschwerer zum Beispiel, ein Stein aus Mykene.
Leider liegen auf meinem Schreibtisch viele andere Dinge, und weil dort so viele Dinge liegen, legen andere Mitbewohner ihre Dinge zu meinen Dingen. Deswegen ist mein Schreibtisch eine Welt von Dingen.
Unter diesen Dingen befindet sich auch ein winziges Fläschchen, es ist gefüllt mit heiligem Wasser.
Meine Großmutter Ljudmila hat gesagt: „Wenn du in die Nähe einer russischen Heilwasserquelle kommst, mein Schwälbchen, bring mir etwas mit. Nur russisches Heilwasser kann mich retten.“
Kann das Wasser auch mich retten?
Gut, dass damals in Hintersibirien der Fahrer der Marschrutka schließlich kam und sehr langsam den Bus zum Einsteigen öffnete.
„Nun, Väterchen, wo bist du denn gewesen?“, wollte eine Dame mit Nerzhut wissen.
„Und du bist des Präsidenten Sekretärin, oder warum muss ich dir das sagen?“, entgegnete er.
„Nimm mal den Mund nicht zu voll, schau dir lieber an, mit wem du sprichst, ich könnte deine Mutter sein.“
„Bist du aber nicht, Mütterchen, bist du nicht. Und nun alle einsteigen miteinander!“
Wir wollten eine Fahrkarte kaufen, aber der Fahrer winkte ab, er habe sein Wechselgeld vergessen. Henning zog die Schiebetür mit einem gewaltigen Rumms zu, sie sprang sofort wieder auf. „Die Tür soll man mit Seele schließen, nicht mit Leidenschaft“, erklärte der Fahrer. Henning scheiterte ein weiteres Mal an der Tür, der Fahrer stieg wieder aus, umrundete den Wagen und schloss die Tür mit Seele.
Dann ging es los. Unterdessen telefonierte die Dame mit dem Nerzhut, erzählte einer Tanja am anderen Ende lautstark von der unglaublichen Unverschämtheit, die sich der Fahrer mit seiner Verspätung geleistet habe. Schon bald rasten wir über leere Waldstraßen. Lauter Zirbelkiefern, die Königinnen der Bäume. Birken und Bären wollte die Dame mit dem Nerzhut hier schon gesehen haben. Die Birken sahen wir auch.
Wir hielten auf einem großen Parkplatz mitten im Wald. Am Rand des Platzes duckten sich Verschläge unter den Bäumen, Schaschlik war mit abblätternder Farbe auf die geschlossenen Läden gemalt. An der Stirnseite öffnete sich der Platz zu einer Lichtung, dort war die Quelle, überbaut mit einer Hütte, deren Form vage an eine Kirche erinnerte. Die Dame mit dem Nerzhut bekreuzigte sich dreimal. „Kommt, ich zeige euch alles“, sagte sie zu uns und schob uns aus dem Bus.
Wir waren nicht die Einzigen, die an heiligem Quellwasser interessiert waren, vor dem Häuschen hatte sich eine Schlange gebildet. Alle hatten leere Behälter mitgebracht, Flaschen, Eimer, Kanister. Jene, die mit gefüllten Gefäßen wieder herauskamen, nahmen entweder schon einen Schluck oder betupften mit dem Wasser die Stirn und die Stirn ihrer Kinder. Wir stellten uns hinter die Dame mit dem Nerzhut, hinter uns wartete der Mann mit der Zeitung. Er zwinkerte uns zu. Henning trank seine Cola-Flasche leer, später würden wir das heilige Wasser in würdigere Gefäße abfüllen. Alle schwiegen und warteten.
Wenn ich mit meiner Großmutter früher in Moskau in der Schlange stand für Strumpfhosen, Kalbfleisch, Petersilie, gab es immer jemanden, der die Nerven verlor und kurz vor dem Ziel laut schimpfend auf die Welt und den Staat aufgab. „Recht hat er, mein Schwälbchen, aber bringen tut es ihm nichts, der eine kriegt die Brezel und der andere das Loch in der Brezel“.
Die Dame mit dem Nerzhut drehte sich zu uns um und flüsterte: „Gleich seid ihr dran. Wenn ihr hineingeht, bekreuzigt euch.“
„Wir sind nicht gläubig.“
„Trotzdem. Jeder ist gläubig.“
„Wer hat entschieden, dass das Wasser heilig ist, ist es nicht einfach gesund, weil es sehr mineralstoffhaltig ist?“
„Wenn ihr euch das fragt, dürft ihr nicht hier sein.“
In der Hütte gab es einen riesigen Eisblock, aus dem ein kleiner Hahn herauslugte und in einem dünnen Strahl etwas trübes Wasser ausspuckte. Wir befüllten unsere Flaschen und nahmen einen Schluck aus dem Hahn. Es schmeckte salzig und ein wenig nach Schwefel. Ich spürte die Wirkung sofort. Mein Kopf wurde klar, die Haut weich und glatt, negative Gedanken, Erinnerungen und Verspannungen im unteren Rücken lösten sich in nichts auf. Ich nahm noch einen Schluck, und alles war wie vorher. Wir machten dem Mann mit der Zeitung Platz und verließen die heilige Stätte.
Auf der Rückfahrt nach Tschita trafen wir in der Marschrutka wieder die Dame mit dem Nerzhut. Eine der vielen Flaschen der Dame hatte ein Loch und das heilige Wasser sickerte leise auf den Boden. Sie winkte ab, „was soll’s, ist nur heiliges Wasser“.
Dann erzählte sie, dass sie gleich auf den Markt führe, sie wolle Gurken einlegen, ihre Tochter werde heiraten, und sie freue sich auf viele Enkelkinder, aber sie frage sich, ob man heutzutage Kinder in die Welt setzen dürfe, es seien ja Kriegszeiten. In jeder Zeitung lese sie nun eine andere Wahrheit. „Früher gab es nur eine Wahrheit, sie stand in der Prawda, auch wenn es nicht die Wahrheit war.“ Sie machte eine Pause und sah aus dem Fenster. Auf ihrer Brille spiegelten sich die vorüberfliegenden Bäume.
„Und wie es bei euch so?“, fragte sie und lächelte. „Ist bei euch alles fein?“
„Nein, bei uns ist nicht alles fein.“
„Seht ihr. Jetzt ist es bei uns ein wenig wie bei euch, aber ich weiß nicht, wie es bei euch ist. Ich habe meine Schwester einmal in Holland besucht. Es geht ihr gut. Und ich bin hier geblieben. Mich können die bunten Papierchen nicht beeindrucken. Ich bin eine andere Generation. Ich habe an die Idee geglaubt. Wenn auch nicht mit ganzer Seele. Kann man an etwas mit ganzer Seele glauben? Geht das? Vielleicht an das Wasser. Das geht. Das beruhigt die Seele. Gleich steigen wir aus. Wohin fahrt ihr?“
„Wir bringen diese Flasche heiliges Wasser meiner Großmutter in Berlin. Und vorher fahren wir noch nach Ulan-Ude.“
Gestern ist meine Großmutter vierundneunzig Jahre alt geworden, und sie erfreut sich bester Gesundheit. Ein wenig von dem Wasser habe ich für alle Fälle für mich behalten. Auf meinem Schreibtisch ist das Fläschchen Teil der Unordnung. Ich bin gerettet.