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Der zuverlässigste unter den Hippies

 

Harry Rowohlt war ein Paganini der Abschweifung. Auf neuen Hörbüchern kann man ihm noch einmal lauschen. Erinnerungen an einen Schriftstellerfreund. Und viele Getränke.

© Rolf Vennenbernd/dpa

15 Jahre ist es nun auch schon wieder her, dass in der Edition Tiamat In Schlucken-zwei-Spechte erschien; Untertitel: Harry Rowohlt erzählt Ralf Sotscheck sein Leben von der Wiege bis zur Biege. Connaisseuren muss man weder sagen, dass der Titel eine Anspielung auf Harrys Lieblingsbuch In-Schwimmen-zwei-Vögel des unvergessenen irischen Romanciers Flann O’Brien, noch dass Ralf Sotscheck Irland-Korrespondent der taz ist und mit Harry befreundet war. Bei ihm daheim in Ballyvaughan an der irischen Westküste quatschte Harry im Juli 2001 sage und schreibe acht Tonbandkassetten voll, um die Grundlage für das im Jahr darauf erschienene obige Buch zu schaffen.

Dieser Tage hat Tiamat vier CDs mit insgesamt rund vier ein viertel Stunden dieser Grundlage herausgebracht (Harry Rowohlt erzählt sein Leben von der Wiege bis zur Biege). Eine wunderbare Neuigkeit nicht nur für die Connaisseure, sondern für alle, die dem „Paganini der Abschweifung“ nach seinem viel zu frühen Tod am 15. Juni vorletzten Jahres noch einmal lauschen möchten, wie er leibte und lebte. Denn für Harry gab es wohl keinen behaglicheren Zustand, als – möglichst eine Schachtel filterloser Gauloises sowie eine Pulle Paddy in Reichweite – zu erzählen, in verschiedenen Graden abzuschweifen und sodann weiterzuerzählen, geneigte Ohren vorausgesetzt, seien es nur Ralfs, seien es die von gezählten tausend Besuchern (am 5. Mai 2013 in Recklinghausen).

Von den Tonbandmitschnitten ist „aufgrund von Qualitätsschwankungen eine Auswahl vorgenommen“ worden. Im Verlagsprospekt heißt es zutreffender- und fairerweise: „Die Aufnahmen haben zwar keine Tonstudioqualität, aber Harry Rowohlts unverwechselbare Brummbär­stimme lässt sich mit großem Vergnügen anhören.“ Das kann man wohl sagen, gilt jedoch hauptsächlich für unbefangenes Publikum. Wer ihn kannte, gar schätzte oder liebte, der sieht sich – kaum hat er die erste CD eingeschoben – auch noch anderen Gefühlszuständen ausgesetzt als bloßem großem Vergnügen: Sehnsucht, Melancholie, Sentimentalität, Trauer, Dankbarkeit und „was denn sonst noch alles“ (H.R.).

Wie Ralf Sotscheck, so war auch ich mit Harry Rowohlt befreundet. Dankbar, dass ich kurz vor seinem Tod privatimen Abschied nehmen konnte, lässt doch mein Gefühl nicht nach, ihm auch einen öffentlichen schuldig zu sein. Dank der Öffentlichkeit waren wir befreundet. Auch ohne sie wäre ich ihm einst vielleicht begegnet, in unserer Stammkneipe zum Beispiel. Ich bin mir aber bei Weitem nicht sicher, ob er mich nicht kurzerhand als Langweiler verbucht hätte. Das ging mitunter schnell.

Daraus folgt ein Dilemma, weil dieser öffentliche Abschied als Eigenreklame für meine Veröffentlichungen gelesen werden könnte.

Drauf gepfiffen. Hätte Harry auch getan. Also los.

Neben vielen ideellen Dingen verdanke ich ihm zwei materielle: eine Familienflasche Maggi (zum 5x-ten Geburtstag) und einen großformatigen, gerahmten Foto-Cartoon. Wann immer ich ihn betrachte – und das tue ich oft, hängt er doch neben dem Kühlschrank –, mischt sich in meine vielfältigen Empfindungen durchaus eitel Stolz drein. Andererseits: Warum sollte unsereins auf so etwas nicht stolz sein, wenn Harry selbst doch stets mit seinen Alfred-Polgar-Briefen zu prahlen beliebte?

Auf der Stelle verknallt

Das Motiv: eine Tankstelle; im Vordergrund zwei Männer im Gespräch. Zuhörer der Künstler Stephan Storp (der das Objekt auch hergestellt hat), der andere jener Kerl mit Wollmütze, Zauselbart und Jeansjacke unterm Mantel, der die Idee hatte. Er deutet mit dem Daumen über die Schulter und sagt laut Sprechblase: „Hier wåå ich mit Schulzi schommå tängkng dœ.“ (Hier war ich mit Schulzi schon mal tanken, du. Übers.: F.S.) Unten links eingeklinkt die Zeile „Streifzüge durch das literarische Hamburg“.

Nicht nur das Prinzip der lautmalerischen Umschrift hamburgischen Zungenschlags stellt eine Reminiszenz an meinen ersten Roman dar, sondern auch die dörfliche, puerile Koseform der Anrede. Dass ich 23 Jahre lang in deren Genuss kommen würde, war bei unserem Kennenlernen beileibe nicht vorgezeichnet gewesen.

Ein Auszug meines Debüts war vorab in Haffmans‘ Hauspostille Der Rabe erschienen. Den Harry offenbar überflogen hatte, denn als ich im Herbst 1991 die aller­erste Buchmesse meines Lebens bestritt (in einem – ich sag’s nicht gern – Kordjackett), verhöhnte der schon damals längst berühmt-berüchtigte, verehrt-gefürchtete Berserker unverhohlen meinen „Kunstgriff“, seine Stammkneipe „Die Glocke“ im Buch als „Die Glucke“ zu fiktionalisieren. Und ließ kaum Zweifel darüber zu, was er in toto vom Autor zu halten geneigt war.

Im Jahr darauf wurde das zehnjährige Jubiläum des Haffmans Verlags gefeiert. Aus heiterem Himmel setzte Harry sich neben mich, und ohne etwa ein „Auf ein Wort, Gevatter!“ oder auch nur per Wimpernzucken zu erkennen zu geben, dass er sich an unsere erste Begegnung erinnerte, sagte er: „Das erste Mal lachen beim Lesen von Kolks blonden Bräuten musste ich, als …“ Und verdammt noch eins, man zeige mir den unnarzisstischsten Debütanten der Literaturgeschichte, der sich nicht auf der Stelle in ihn verknallt hätte.

Lyrisch timbrierter Kavaliersbariton

Bis 2008 sollte er bei jeder sich bietenden Gelegenheit für diesen meinen Erstling werben, indem er Stellen nacherzählte. Gern in meinem Beisein. Allmählich lernte ich, nicht jedes Mal zu erröten, aber auch, die zunehmenden Abwandlungen hinzunehmen. Im bewussten Jahr dann erschien eine Taschenbuchausgabe meiner Trilogie, anlässlich welcher Harry mich auf eine kleine Tournee begleitete, und als er nun mit dem Urtext konfrontiert wurde, beklagte er sich, er kenne „seinen Kolki“ nicht wieder … Hauck & Bauer haben schon recht: Man muss Bücher in der Nachdichtung von Harry Rowohlt lesen. „Im Original geht da viel verloren.“

Unsere allererste gemeinsame Lesung hatten wir anno 1992 in Essen, und das anschließende Bochumer Besäufnis setzte Maßstäbe – selbst mir, der in derlei Kulturtechniken von frühester Dorfjugend an auch nicht gerade ungeübt war. Meine anschließende Initiation am Eppendorfer Stammtisch verpasste ich zwar um exakt 12 Stunden, weil ich meinte, dass bei einem samstäglichen 12-Uhr-Termin mit Harry Rowohlt 12 Uhr nachts gemeint sein müsse. Fortan aber starteten die Zechgelage in Eppendorf, Eimsbüttel und sonstwo pünktlich. Sowieso war Harry der fleißigste, zuverlässigste und pünktlichste Hippie, den man sich denken kann. Wann immer ich ihn zwecks Autofahrt zu einer Lesung im Umland abholte, stand er bereits am Straßenrand – und zwar, wie zuvor am Telefon versprochen, „mit blitzblanken Bubenaugen“.

Ich vermisse seine Anrufe. Erst jene kryptische Anzeige auf dem Display, die sein oller Bakelit-Fernsprecher auslöste, und dann: „Hallo Schulzi, hier ist Harry“ – als wäre seine Stimmlage nicht unverwechselbar (wer sie als Bass bezeichnete, den korrigierte er auf „lyrisch timbrierten Kavaliersbariton“), und selbst wenn wir uns monatelang nicht gesprochen hatten, ging er ohne Umschweife zu seinen Abschweifungen über.

Nicht, dass es nicht bisweilen anstrengend gewesen wäre. Wer Erzähler war, wer Zuhörer, war naturgemäß definiert. Harry trug seine kunstgepunzten Schnurren und Anekdoten, die seine Welt- und Menschenliebe verdichteten, nicht nur bei Auftritten vor, er kommunizierte damit; als Gesprächspartner vermochte unsereins ihm kaum Kompensation zu bieten. Warteten wir backstage auf unseren Auftritt, war ich froh, wenn Harry noch vor die Tür ging, um „eine zu rauchen und Passanten den Arm umzudrehen“ – durfte ich mich dann doch endlich autistisch in meinem Lampenfieber suhlen. (Das psychotische Höhen erreichen konnte, weswegen Harry erwog, mich „für den Iffland-Ring vorzuschlagen“.)

Für Handys nicht doof genug

Nicht, dass nicht auch Harry unser sonderbares Verhältnis durchschaute. Einmal hat er mir erzählt, er habe auf die angelegentliche Frage an ihn, worüber wir uns eigentlich immer so unterhielten, entgegnet: „Gar nicht. Wir sind uns einig.“

Worüber bitte hätte ich mich beklagen sollen? Über seine Treue zu einer Trantüte? Hatte er doch eines Tages sogar den abtrünnigen Saufkumpan zu verschmerzen!

Ja, um es mit dem paraphrasierten Titel der Festschrift zu seinem Sechzigsten zu sagen: Der Große Bär hielt seinen Gestirnen die Treue. Und zwar in selbstbewusster Bescheidenheit. (Als Widmung steht in meiner Ausgabe: „Ich kann nichts für dieses Buch; ich kann schon gar nichts für diesen Titel. H.R., 7.5.05“) Sein Traumberuf war nichtsdestoweniger „milder Despot“. Sehr viel präziser als manch anderer Mitbewerber auf diesen Posten aber wusste Harry, wie, wer und was er wirklich war.

Es brauchte schon einen Charakterkopf von seinem Kaliber, um ein Erbe namens Rowohlt zu tragen. (Auf den CDs sagt er auch dazu einiges, auch wenn er es beileibe nicht so ausdrückt.) Dem Materiellen begegnete er mit einer schwer durchschau­baren Mischung aus offensiver Ignoranz und persönlicher Genügsamkeit, unternehmerischem Geiz und kollegialer Großzügigkeit; dem Geistigen mit Respekt samt Eigensinn und dem Seelischen mit – tja, letztlich Liebe. Jawohl, er war monumental, genial usw. und mitunter ein „arrogantes Arschloch“ (dass.), aber eben im tiefsten Grunde vielmehr ein zutiefst seelenvoller, ein lieber Mensch.

Ein altmodischer sowieso. „Für Computer bin ich zu doof und für Handys nicht doof genug.“ Einmal hatte er die Paginierung seiner jüngsten Übersetzungsarbeit bis Seite 128 mit Tipp-Ex flüssig korrigieren müssen. Ich lachte ihn aus. Und schäme mich heut ein bisschen dafür. Insbesondere, wenn ich das oben beschriebene Geschenk betrachte, das er mir zu Beginn einer unserer letzten Duette im Hamburger Magazin-Kino gemacht hat: Streifzüge durch das literarische Hamburg. Die f-Type ist beschädigt, und man muss genau hinschauen, um zu erkennen, dass die Punkte über dem jeweiligen skandinavischen å per Filzstift gesetzt wurden. Desgleichen händisch kontrahiert vermutlich die Typen o und e. Die plastische Vorstellung von dieser Bastelarbeit rührt mich zutiefst. Dass ich sie hier hinausposaune, bitte ich als lässliche Sünde einzustufen – denn in diesem Fall ehrt das Geschenk mehr als den Beschenkten den Schenkenden. Hat er doch nichts Geringeres angestrebt und fertiggebracht, als aus Stroh Gold zu spinnen.

Ja, ich glaube, das ist es, was jene spezielle Kunstform elementar ausmacht, zu der Harry das anekdotische Erzählen erhoben hat. Als weiteres Beispiel möge nur eine der zahllosen Anekdoten dienen, mit denen das neue Hörbuch (4 CDs im ausklappbaren Digifile, 25,99 Euro) vollgestopft ist: Als Anna Mikula, enge Freundin Harrys und Herausgeberin seiner Briefe (Und tschüs. Nicht weggeschmissene Briefe), sich einmal über einen Zeitgenossen ereiferte, der nicht wusste, wer Gregor Samsa ist, konnte sie nicht umhin, sich zu vergewissern: „Gell Harry, du weißt aber schon, wer Gregor Samsa ist?“ Und Harry wie aus der Pistole geschossen: „Klar! Gregor Samsa, staatenlos. Hab ich selbst noch in der Hasenheide kämpfen sehen.“

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