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Und plötzlich steht da Eva

 

Die Sehnsucht nach dem Paradies ist groß. Aber wo soll man es in unserer vollends vermessenen Welt noch finden? Das Geheimnis: Manchmal liegt es näher, als man denkt.

[M] ZEIT ONLINE/Bengelsdorf/photocase (https://www.photocase.de/Bengelsdorf)
Bei Dante, nicht dem sympathischen brasilianischen Fußballspieler, sondern beim größten italienischen Dichter, liegt das irdische Paradies auf dem Gipfel des Läuterungsberges. Dieser besteht aus der Erdmasse, die beim Höllensturz Luzifers auf der anderen Seite des Kraters herausgedrückt wurde. Der Krater geht von der Erdoberfläche bis zum Erdmittelpunkt, wo Luzifer kopfüber feststeckt. Nachdem Dante auf seiner beschwerlichen Reise zunächst die Höllenkreise hinabgestiegen ist und anschließend den Läuterungsberg erklommen und das irdische Paradies erreicht hat, geht es weiter durch die neun himmlischen Sphären, immer näher zu Gott, der sich im Empyreum befindet, wo Dante die himmlische Rose erblickt, eine etwas unklare Erscheinung.

Der dritte Teil der Göttlichen Komödie, Paradiso, gilt gemeinhin als langweiliger als die anderen, in Inferno und Purgtorio ist „mehr los“, z.B. trifft Dante dort einen Mann, der seinen eigenen Kopf in der Hand trägt und als Laterne benutzt, damals ging man ja noch davon aus, dass die Augen tatsächlich leuchteten. Aber die Reise führt nun mal zum Paradies und zu Gott und damit auch vom Anschaulichen zum Abstrakten, vom Horrorfilm zur Sphärenmusik, da verliert man als Autor unterwegs schon mal ein paar Leser.

Früher war man ja durchaus der Meinung, das Paradies irgendwo auf der Erde noch finden zu können, auf mittelalterlichen Karten ist es manchmal eingezeichnet, z.B. zwischen Euphrat und Tigris. Der Begriff Paradies kommt aus dem Avestischen, einer altiranischen Sprache, und steht für von einem Wall umgebenes Land, also das Gegenteil von Wildnis. Die Griechen bezogen sich mit diesem Wort auf Gärten mit Wildtieren, die sich persische Könige leisteten.

Wie müssen wir uns heute das Paradies vorstellen? Wie wir aus der Bibel wissen, ist der Garten Eden, wie das Paradies auf Hebräisch heißt, ein Ort für junge, kinderlose Paare, die keine Äpfel essen dürfen. Wenn man ein älteres Paar mit Kindern ist, das sich jeden Morgen einen faden Supermarkt-Apfel in die pampigen Haferflocken schnippelt, kommt einem das schon plausibel vor. Wir wüssten heute gar nicht mehr, wo wir auf der vollständig erkundeten Erde noch nach dem irdischen Paradies suchen sollten, aber wir sehnen uns natürlich danach. Frühere Generationen waren am Baum des Lebens interessiert, der dort wächst und jedem, der von ihm isst, ewiges Leben verschafft. Heute kann die Sehnsucht nach dem Paradies ganz unterschiedlichen Ausdruck finden, wie mir bewusst wurde, als ich anfing, auf Reisen irdische Paradiese zu fotografieren.

© Jochen Schmidt

Eine schnelle Annäherung an das Leben kinderloser Paare im Paradies verspricht natürlich die Kneipe. Hier haben Minderjährige keinen Zutritt, der Mann ist meist ohne Frau und muss nicht arbeiten, geschweige denn „das Kraut auf dem Felde essen“, wie Adam nach seiner Vertreibung aus dem Paradies. Und die Gefahr, aus Versehen vom Baum der Erkenntnis zu speisen, besteht hier auch nicht unbedingt.

 

© Jochen Schmidt

An sich kann man im Paradies barfuß und unbekleidet herumlaufen, weil einem ja niemand etwas abguckt, und weil man sich seiner Nacktheit nicht schämt, trotzdem sieht man immer wieder Schuhparadiese.

 

© Jochen Schmiddt

Eine Erklärung könnte sein, dass man, solange man sich im Laden aufhält, alle Schuhe als sein Eigentum betrachten kann, man darf sie anziehen, es wird einem sogar dabei geholfen. Man darf sie nur leider nicht mitnehmen, ohne sie zu bezahlen. Aber solange man im Laden bleibt, darf man sich als Besitzer unzähliger Schuhe fühlen.

 

© Jochen Schmidt

Genauso oft wie Schuhparadiese sieht man Modeparadiese, wie dieses hier in Budapest.

© Jochen Schmidt

Ein Paradies ist offenbar ein Geschäft, in dem man ein großes Sortiment vorfindet, vielleicht sogar alles, was es gibt und dazu noch unerwartete Überraschungen. Ein Ort der Überfülle. Wenn man das auf Schuhe und Mode bezieht, haben wir es natürlich streng genommen schon mit einem erweiterten Paradiesbegriff zu tun, denn von solchen Dingen ist in der Bibel nicht die Rede.

© Jochen Schmidt

Ein Nagelparadies wirkt da schon realistischer, schließlich waren Adam und Eva barfuß. Trotzdem, wenn ich mich nicht täusche, haben eher solche Geschäfte die Tendenz, sich Paradies zu nennen, die einen Anflug von Schnäppchenbude haben. Vielleicht hat es damit zu tun, dass der Mensch im Paradies vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen nicht essen darf? Woher soll er also wissen, was hässlich ist und was schön? Das Paradies ist ein Ort, wo die Menschen noch unschuldig und blind für geschmackliche Feinheiten sind und einfach alles schön finden.

© Jochen Schmidt

Dieser Laden hier, in dem es frisches Obst gibt, hat natürlich jedes Recht, sich Paradies zu nennen.

© Jochen Schmidt

Oder befindet das Paradies sich in einem Plattenbaugebiet? Tatsächlich hat Gott den Garten Eden ja „gen Osten hin“ gepflanzt, wo die „Großplattenbauweise“, wie es korrekt heißen muss, besonders verbreitet war. In dieses Videoparadies ist sogar versucht worden einzubrechen, eine Scheibe ist verklebt. Oder sind Adam und Eva durch diese Scheibe rausgeschmissen worden? Aber wo sind dann die Cherubim, die vor dem Paradies lagern „mit dem flammenden, blitzenden Schwert“, um es zu bewachen?

© Jochen Schmidt

 

Und was haben Adam und Eva wohl gedacht, als sie in diesem bulgarischen „Viersternehotel“ geschlafen haben? Die Sterne werden in Bulgarien ja sehr großzügig vergeben. Hat das Hotel sie ans Paradies erinnert? (In vielen slawischen Sprachen und im Rumänischen heißt Paradies Rai, die Etymologie ist umstritten.)

© Jochen Schmidt

 

dm ist im Einzelhandel wahrscheinlich die größte Annäherung ans Paradies. Die Waren sind preiswert, Feuchttücher gibt es im Dreierpack, Küchenrollen sogar im Sechserpack, was noch einmal billiger ist. Die Mitarbeiter sind freundlich. Viele Waren schneiden bei Öko-Test gut ab und der Besitzer der Kette ist für das bedingungslose Grundeinkommen. Kein Wunder, dass man eine eigene Untermarke für Produkte rund ums Fotografieren hat, die Paradies heißt („Für ganz besondere Erinnerungsstücke“). Einen herzförmigen, mit Edelsteinen besetzten Schlüsselanhänger und eine Fotoschneekugel bekommt man hier.

© Jochen Schmidt

Tiere gibt es natürlich auch im Paradies und anders als wir Menschen sind sie eigentlich nie von dort vertrieben worden. Vermutlich würden Hunde im Paradies aber keine Hundeleinen und Katzenposter kaufen.

© Jochen Schmidt

Einmal ist mir auf meinen Reisen sogar Eva selbst begegnet. Sie trug einen Rucksack, auf dem stand: „Woke up in paradise„. Und am Nachmittag atmete sie schon Autoabgase ein! So schnell kann es gehen.

 

© Paripé Books

Autoabgase, die ja bekanntlich beim Verbrennen von Benzin entstehen, das sich im Erdinneren befindet, wie auch ein anderer prominenter Ort, womit sich der Kreis schließt.

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