Soll mal einer sagen, in der Provinz würde man nichts erleben! Unsere Autorin trifft im Zug auf die Misere der Bundeswehr und den späten Swing einer deutschen Vita.
„Wenn der Osten an einem Samstag einmarschiert wäre, sie hätten die ganze Republik erobert, alle waren ja im Wochenende.“
Ich habe den kleinen untersetzten Mann nichts gefragt, aber er will erzählen, was kann ich da machen?
Ich bin wieder auf Lesereise, also ungeschützt im „Raum Deutschland“ unterwegs, jetzt liegt die Strecke Regensburg-Nürnberg vor mir, eine Stunde wird der Herr Zeit haben, mir sein Leben zu erzählen, und ich bin sicher, er wird es tun.
Er zeigt auf seinen Instrumentenkoffer. „Oboe?“, frage ich. „Nein, Saxophon!“, sagt er pikiert, Oboe sei doch viel kleiner, sein ganzer Stolz, das Instrument, müsse zur Reparatur, wie schön Musik sei, ein echtes Weltwunder, die von Count Basie sei die beste, aber eine Bigband kriege man in dem kleinen niederbayrischen Ort nicht hin, schade, schade.
Er ist in Pension, hat sein Leben lang gedient, „und dort ist man halt mit 58 Jahren hinüber!“ Afghanistan, Syrien, Libyen, auch Guantanamo habe er gesehen. Alles sei gleichermaßen schrecklich gewesen, und es bringe überhaupt nichts, dort stationiert zu sein. „Wir konnten nichts ausrichten!“, sagt er und lächelt verlegen.
„Ein Selmer aus Paris, schöner, weicher Klang wie Stan Getz, nicht ganz leicht zu spielen.“ Er hat das Saxophon ausgepackt und streichelt es behutsam.
„Ich hatte mal eine Selmer-Trompete“, sage ich, bei Musik kann ich etwas besser mitreden als bei der Bundeswehr, „die spielt jetzt mein Sohn.“
Kurze Stille. Nur die bayrische Landschaft, die am Zugfenster vorbeifliegt, es wird allmählich Frühling.
„Stimmt es, dass die Waffen nicht funktionieren?“, frage ich mit Blick auf das frische Grün der Weiden.
„Ja, das stimmt“, antwortet der Pensionär. „Aber die Panzer tun es auch nicht, und die Marineflotte ist auch im Eimer. Billige Antriebe aus der Schweiz, was weiß schon die Schweiz vom Meer? Müssen nach Kurzem ersetzt werden, die neuen passen nicht rein, das Boot wird aufgeflext, so geht das in einem fort!“ Wenn man glaube, der Schönefelder Flughafen koste viel – die Bundeswehr habe noch ganz andere Summen versenkt.
Der Mann schaut auf sein geliebtes Selmer, ich auf ihn, er wirkt nicht wie ein Spinner. Wenn er nicht lügt, nicht übertreibt, macht er da gerade interessante Aussagen. Alle Gerüchte scheinen mehr als wahr zu sein. Oh, là là, Frau von der Leyen, denke ich; der Mann neben mir sagt, die könne er auch nicht leiden. Habe ich mal wieder zu laut gedacht?
„Kohlhaas, kennen Sie den?“, macht er munter weiter. „Ich habe immer meine Meinung gesagt, wenn’s um Ungerechtigkeit ging, auch nach oben hin, bin deshalb auch kein hohes Tier geworden, aber genug, um alles kennenzulernen. War Fallschirmspringer. Im Norden oben. Da war so ein Typ, der fiel mir immer wieder auf. Sehr überdurchschnittlich eloquent, scharfe Urteile, das fällt halt auf bei dem Haufen. Und bekam immer viel Post. Hab ich gemeldet. Die von der Inneren Führung meinten, das gehe mich nichts an. Sie hätten alles unter Kontrolle. Soll ich Ihnen mal was sagen? Sehe ich den letztens im Fernsehen bei der AfD, und ziemlich weit oben. Hab ich doch gespürt, der Typ ist mies! Haben die den kontrolliert oder befördert, was meinen Sie?“ Ich lächele beflissen, keine Ahnung, Watergate oder so. Und da soll mir mal einer sagen, in der Provinz würde man nichts erleben.
Das Selmer-Sax wird liebevoll wieder eingepackt. Ich frage höflich, wie man auf die Idee käme, sich auf Lebenszeit zu verpflichten. Er schaut hoch, aber doch irgendwie durch mich durch: „Klosterinternat in der Eifel, kein Missbrauch, aber Ohrfeigen und Züchtigungen aller Art. Mich bringt nichts mehr aus dem Lot.“
Mich schon, denke ich, vor allem diese deutsche Vita, und dass wir gerade zwei Jahre auseinander sind. Ich mag diesen ältlichen Herren mit seinem Saxophon, bin froh, dass er den Swing gefunden hat auf seine alten Tage, nach einem Leben voller Drill und Unterordnung.
Am Nachmittag müsse er zurück sein in Regensburg, er sei Lesepate, kaum deutsche Kinder, alle von irgendwoher, sehr motiviert, lernten schnell. Das sei mit das Sinnvollste, was er bisher in seinem Leben gemacht habe. „Und Sie?“, fragt er, aber da sind wir kurz vor Nürnberg, müssen aussteigen, hastig verabschieden wir uns, und ich steige in den ICE nach Berlin.
Ungefähr bei Fürth kommt mir wieder Frau von der Leyen in den Sinn, und ich sehe ihre Amtszeit plötzlich in einem völlig neuen Licht: Das ist alles kein Zufall, dass bei der Bundeswehr nichts funktioniert, unsere Verteidigungsministerin ist dabei abzurüsten, nur wir haben es bisher nicht verstanden! Frau von der Leyen als Friedensbewegte und Abrüsterin! Ich bin begeistert!