Lesezeichen
‹ Alle Einträge

Schleimspur zur Auferstehung

 

Der wahre Osterhase ist die Schnecke: Sie schleppt ihr Schicksal, ihr Kreuz, ergeben auf dem Rücken mit sich herum. Das ist ihre österliche Lehre!

Schnecke: Schleimspur zur Auferstehung
Copyright: Alberto Pizzoli/Getty Images

Gelobt seist Du, Schnecke, Du Königin unter den Schalenweichtieren! Meine Zunge ist nur eine unvollkommene Nachbildung Deines Kriechfußes, mein Geist ist gebrechlicher als die Kalkwand Deines Gehäuses. Dennoch will ich ein Lied auf Dich singen und erklären, weshalb Du die einzig legitime Nachfolgerin Christi auf Erden bist.

Zu den Mysterien der Ostermythologie gehört bekanntlich die biologisch unplausible Kombination aus Hase und Ei. Dass geschlechtsreife männliche Hasen Testikel haben, sei unbestritten. Aber erstens haben diese keinerlei Ähnlichkeit mit den Kalkschalen aus Hühnergedärm, die wir zu Ostern bemalen. Zweitens verstecken die Rammler ihre Klöten nicht im Unterholz. Und würden sie dies, aus welchen bizarren psychopathologischen Gründen auch immer, doch einmal tun, dann würde man, drittens, wohl kaum seine Kinder ermuntern, nach ihnen zu suchen. „Guck mal, Papa, was ich gefunden habe!“ „Äh … leg die Dinger bitte schnell zurück, Schatz. Meister Lampe kommt bestimmt gleich wieder, um sie zu holen.“

Würden meine Kinder aber beim Eiersuchen auf ein Gelege der Knoblauch-Glanzschnecke, der Schwarzmündigen Bänderschnecke oder gar des majestätischen Tigerschnegels stoßen, würde ich sie sofort ermuntern, vor der Eierpracht niederzuknien und sie eingehend zu betrachten. Mit der gebotenen Andacht, natürlich. Schließlich steckt in jedem der wunderweißen Eier ein Aufersteher.

Der Tigerschnegel (dessen Musterung, nebenbei bemerkt, eher dem Fell des Leoparden gleich) ist zwar eine Nacktschnecke, bringt aber im Gegensatz zu anderen unbehausten Schneckenarten dem Gärtner nur Erbauung und Segen. Er ernährt sich nämlich bevorzugt vom Gelege der Spanischen Wegschnecke – die zwar, wie wir inzwischen wissen, gar nicht in Spanien heimisch, aber unzweifelhaft eine Inkarnation des Antichristen ist. Daneben befleißigt sich der Tigerschnegel einer Liebeskunst, gegen die sich die Stellungen des Kamasutra züchtig und bieder ausnehmen. Bei der Paarung seilen sich beide Partner an einem knapp halbmeterlangen Schleimfaden ab und vereinigen sich dann kopfüber in der Luft schwebend wie zwei notgeile Hochseilartisten. Kein Frühlingstag, an dem ich nicht hoffe, beim Betreten des Gartens ein Tigerschnegelpärchen beim Liebesakt zu überraschen (auch wenn ich befürchte, beim Anblick dieses Spektakels, wie einst der mythische Teiresias beim Anblick zweier kopulierender Schlangen, umgehend zu erblinden).

Auch die Knoblauch-Glanzschnecke ist von erhabener Schönheit, spricht jedoch eher den Freund olfaktorischer Genüsse an. Berührt man sie, strömt die Schnecke ein angenehm lauchiges Aroma aus, und ich kann an keinem Exemplar dieser Art vorbeigehen, ohne mich durch kurzes Reiben und Schnuppern ihres Wohlgeruchs zu versichern.

Die Herrlichste unter den landlebenden Mollusken ist aber ohne Frage die Schwarzmündige Bänderschnecke. Ihr Weichkörper schimmert so luzide, als wäre er sich der Flüchtigkeit des irdischen Daseins allzeit bewusst. Das Gehäuse darüber wölbt und windet sich in allen Farben der Naturpalette, von Zitronengelb bis Waldhonigbraun. Darauf, so fein, dass selbst der Pinsel eines flämischen Barockmeisters sie nicht besser malen könnte: bis zu fünf schmale Bänder, die der Art ihren Namen geben. Kein Wunder, dass schon Immanuel Kant mutmaßte, die „so wohlgefällige Mannigfaltigkeit und harmonische Zusammensetzung der Farben“ dieser Gehäuse hätten keinen praktischen Mehrwert, sondern seien „gänzlich auf äußere Beschauung abgezweckt.“

Diese Schneckentrinität, meine persönliche top three, mag stellvertretend stehen für die mehr als 100.000 Arten umfassende Klasse der Bauchfüßer. Wenn ich diese drei Schnecken in meinem Garten angetroffen habe, weiß ich, dass Frühling ist. Und dass das Osterfest vor der Tür steht. Womit wir – mit angemessener Langsamkeit – beim Thema Auferstehung wären.

Gibt es ein passenderes Bild?

Die Schnecke, ich erwähnte es bereits, ist das Resurrektions-Tier par excellence. Schließlich ziehen sich zahlreiche Arten im Winter in ihr Gehäuse zurück, versehen dieses von Innen mit einer kalkhaltigen Grabplatte (dem sogenannten Epiphragma) und verfallen dann in einen todähnlichen Ruhezustand. Die Vitalfunktionen sind auf ein Minimum zurückgefahren, das Herz schlägt nur wenige Male pro Minute … doch dann, kaum dass die Osterglocken bimmeln, sprengen sie den Deckel wieder auf und springen ans Licht wie ehedem Christus aus dem österlichen Grab. Gibt es ein passenderes Bild für Tod und Auferstehung?

Der Vergleich mag an den Fühlern herbeigezogen wirken, ist allerdings schon sehr alt. Wegen ihrer Symbolkraft als Auferstehungstiere waren Schnecken bereits in karolingischer Zeit eine beliebte Grabbeigabe, und sie haben auch in der christlichen Kunst ihre Schleimspuren hinterlassen. In der evangelischen Stadtkirche St. Sebald in Nürnberg ruht das Grabmal des Namenspatrons auf zwölf steinernen Schneckenskulpturen. Auf dem sogenannten Angst-Altar, ebenfalls aus Nürnberg, sehen wir neben den Füßen des auferstandenen Christus zwei Schnecken kriechen (das Gehäuse der dritten ist, wie das dahinter liegende Grab, bereits leer). Und auf dem Sassenberger Altar − er befindet sich im Westfälischen Landesmuseum in Münster − sitzt neben dem Kopf des gegeißelten Heilands, in Höhe seines Glorienscheins, eine Schwarzmündige Bänderschnecke (wer sonst?) als Zeichen der Überwindung des Todes. In all diesen Darstellungen stehen die Schnecken in bemerkenswerter Analogie zum christlichen Erlöser: Sie schleppen ihr Schicksal, ihr Kreuz, ihren Grabstein ergeben auf dem Rücken mit sich herum. Und: Wie für Christus stellt der Rückzug ins Gehäuse für sie nicht das Ende, sondern einen neuen Anfang dar.

Im Lichte dieser Erkenntnisse ist das Osterfest vollkommen neu zu organisieren. Erstens: Das Osterei ist m.E. nur ein kläglicher Ersatz für die von Schöpferhand bemalte Gehäuseschnecke; der Brauch des Eiersuchens geht vermutlich auf die Schneckenjagd zurück. Im Zuge der Rückbesinnung auf vergessene Werte und Traditionen sollten aufgeklärte Eltern ihre Kinder beim Osterspaziergang also lieber Schalenweichtiere suchen lassen.

Zweitens: Darstellungen des Osterhasen in Wort, Bild und Schokolade sind strikt zu unterlassen. Ist die Darstellung eines Hasenartigen unvermeidlich, soll das Tier statt Löffeln Schneckenfühler tragen.

Drittens: Sämtliche Schnecken (mit Ausnahme der Spanischen Wegschnecke) sind fortan mit Respekt und Hochachtung zu behandeln, schließlich handelt es sich um Wiedergänger Christi. Sie sind der Auferstandene und das Grab. Sie sind der Fels, der sich selbst zur Seite wälzt. Sie sind der Stein, der sich vom Steinsein befreit, der sich in einem Akt der Transsubstantiation aus Kalk zu Fleisch verwandelt. Und vielleicht können sie besser als jede andere Tierklasse versinnbildlichen, weshalb sich der Erlöser, fast 2000 Jahre nach seiner Auferstehung, mit seiner Zweiten Wiederkehr so viel Zeit lässt. Weshalb er am Ende des Neuen Testaments verkündet: „Ja, ich komme bald“ (Apk 22,20) – und trotzdem bis heute nicht zurück ist.

Vielleicht ist dies die österliche Lehre der Schalenweichtiere: Die Heilsgeschichte vollzieht sich, wenn überhaupt, mit der Gemächlichkeit einer Schnecke.