Der FC Bayern suhlt sich in Selbstmitleid. Der Ungar ist schuld! Prima Ausrede auch für kommende Bundesliga-Miseren. Da kann man selbst als Fan die Krise bekommen.
Logisch ist der Ungar schuld. Der Ungar, der schon gesamteuropäisch im Zwielicht der Zivilisation steht, weil das Land seinen Beitrag zur Integration von Kriegsflüchtlingen eher mit Vidal-mäßigen Grätschen leistet. Der Ungar hat das Spiel verpfiffen, sagte der Vorstandschef des FC Bayern, Karl-Heinz Rummenigge, und der Subtext seiner Aussage leuchtete wie ein Flutlichtscheinwerfer in der iberischen Nacht: Beim nächsten entscheidenden Spiel wollen wir gefälligst einen Referee aus Katar, da wissen wir nämlich, dass alles mit rechten Dingen zugeht und wir auch noch Geschenke kriegen.
Beschissen, das alles, vermeldete der FC Bayern nach dem Viertelfinale gegen Real Madrid, so was von total beschissen, dass nicht einmal Präsident Uli Hoeneß Worte für die galaktischen Ungerechtigkeiten fand, die im Estadio Santiago Bernabéu die Münchner ins Nirwana der Champions League katapultierten. 2:4 verloren – unglaublich. Das hätte nie passieren dürfen. Und es wäre auch nie passiert, wäre der Ungar nicht gewesen, und nicht nur Viktor Kassai mit seiner Pfeife und seinen Karten, da waren auch noch vier weitere Ungarn am Spielfeldrand, die in Regelkunde offensichtlich keine Sekunde aufgepasst haben oder von Haus aus farbenblind sind. Muss man doch sehen, wenn einer im weißen Trikot vor einem im roten Trikot steht, den Ball kriegt und im Tor versenkt. So was heißt gewöhnlich Abseits.
Les auf Ungarisch. Sprich: lesch.
CR7 war lesch. Zweimal lesch.
Lewandowski war auch lesch, aber nur einmal. Hat auch kein Ungar bemerkt.
Und: Abseitstore zählen nicht.
Außer in Ungarn.
Das war dem Vorstandschef des FC Bayern bisher nicht klar. Wer könnte es ihm verübeln? Er fühle, bekannte Rummenigge all night long in Madrid, eine „wahnsinnige Wut“ in sich. Weil? „Weil wir beschissen worden sind.“ Und zwar nicht im übertragenen Sinn oder einfach so. Sondern: „Wir sind beschissen worden heute Abend, im wahrsten Sinn des Wortes.“ Ja, gut. Im wahrsten Sinn des Wortes. Schon heftig. Doch musste die Mannschaft deshalb gleich aus dem Turnier ausscheiden? Nur eine Frage, im wahrsten Sinn des Wortes.
Meiner Wahrnehmung nach hat der FC Bayern das Viertelfinale im Hinspiel daheim vergeigt, und zwar im wahrsten Sinn des Wortes. Man verliert nicht 1:2 im eigenen Stadion, wenn man die erste Halbzeit fundamental dominiert und eigentlich mit 2:0 in die Pause gehen müsste. Wieso müsste? Weil unser Lieblingschilene möglicherweise etwas verwechselt hat. In der Aufregung dachte Vidal vielleicht, er müsse elf Meter drüber schießen, statt elf Meter Abstand nehmen, damit das Tor, falls er trifft, überhaupt zählt. Kann passieren. In der zweiten Hälfte wurde dann Martínez wegen Foulspiels vom Platz gestellt, allerdings nicht von einem Ungarn (ein Italiener war’s). Dann schoss ausgerechnet der portugiesische Ferenc Puskás der Madrilenen den Ausgleich und zu allem Übel auch noch den Siegtreffer. Cristiano Ronaldo, der Überirdische, setzte die Bayern auf den Hosenboden und im Rückspiel erst recht mit weiteren drei Toren. Der Typ schoss also fünf Tore in zwei Spielen gegen den FC Bayern. Kein Wunder, dass Rummenigge eine wahnsinnige Wut in sich wahrnahm, zumal, wie gesagt, fünf Landsmänner des unsterblichen Puskás‘ dermaßen beschissen an dem Match teilnahmen, dass es im wahrsten Sinn des Wortes zum Himmel stank.
Abgesehen davon, dass ein Fernsehzuschauer, der neunzig oder schlimmer noch hundertzwanzig Minuten lang auf Sky den grotesk abseitigen Kommentaren eines Wolff-Christoph Fuss ausgeliefert ist und eine immer wahnsinnigere Wut in sich aufsteigen fühlt, die im wahrsten Sinn des Wortes in der Vorstellung einer verbalen Blutgrätsche in der Sprecherkabine mündet – abgesehen davon, stellt sich demselben Zuschauer die Frage, was genau eigentlich Carlo Ancelotti beruflich so macht? Er, der Kaugummikauen mit offenem Mund endlich wieder salonfähig gemacht hat, nahm gediegene Spielerwechsel vor, ließ andererseits den von der 46. Minute an weiter munter foulenden, Gelb vorbelasteten Vidal auf dem Platz und musste wohl beim Hinspiel in der Halbzeitpause eine Ansprache gehalten haben, die im wahrsten Sinn des Wortes wirkungslos blieb oder von den Spielern irgendwie missverstanden wurde.
Egal, weil: Der Ungar war schuld. Sollte in Zukunft beim FC Bayern etwas schiefgehen – Niederlage gegen Hoffenheim, Aus in der ersten Runde des DFB-Pokals gegen Heidenheim, Vizemeisterschaft –, kocht in Karl-Heinz Rummenigge garantiert wieder diese wahnsinnige ungarische Wut hoch, und es wird im wahrsten Sinn des Wortes ein großer Regen kommen und all die Fehler und Versäumnisse in die Isar spülen und weiter bis ins Schwarze Meer. Nein, der FC Bayern ist im Viertelfinale der Champions League nicht ausgeschieden, weil er zweimal verloren hat, sondern weil er von Leuten beschissen wurde, die das Wort „lesch“ aus ihrem Wortschatz verbannt und noch nicht mal einen Videobeweis zur Hand hatten.
Videobeweis? Den gibt’s doch noch gar nicht. Freilich! Im Halbfinale der Klub-WM im Dezember letzten Jahres zwischen der japanischen Mannschaft Kashima Antlers und Atlético Nacional aus Kolumbien nutzte der Schiedsrichter den von der Fifa am Spielfeldrand zu Testzwecken eingesetzten Bildschirm, um sich nach einem Foul im Strafraum Klarheit zu verschaffen. Nach einer halben Minute, in der er intensiv die Zeitlupeneinstellungen studierte, entschied er auf Elfmeter. Am Ende gewannen die Japaner mit 3:0.
Der Name des Referees: Viktor Kassai.
Womöglich läuft auch der Ungar seit dem Abend in Madrid mit einer brutalen Wut im Bauch durch die Gegend und weiß nicht, wohin damit. In seinen Augen ist irgendjemand in der Uefa schuld, der ihm diesmal den Videobeweis verweigerte. Doch Uefa und Fifa sind sakrosankt, den beiden Organisationen darf niemals ein Vorwurf gemacht werden. Vielleicht könnte sein Herzenspremier ein gutes Wort für ihn einlegen, immerhin ist Viktor Orbán Gründer der nationalen Fußballakademie (Puskás Akadémia) und unterhält die besten Beziehungen zu einflussreichen Persönlichkeiten wie Putin und Stoiber. Aber auch wir, die wir den Fußball lieben, dürfen Kassai in dieser schweren Zeit im wahrsten Sinn des Wortes nicht im Regen stehen lassen. Er hat getan, was er konnte, mehr war halt nicht drin, das gilt für ihn ebenso wie für Arturo Vidal oder Thomas Müller. In Zeiten europäischer Zerfaserung wollen wir, gerade in beschissenen Nächten, zusammenstehen und rufen: Wir schaffen das – Kassai die Prüfung mit dem „lesch“ und der FCB das Triple – im nächsten Jahr oder im übernächsten – und derweil nehmen wir uns ein Beispiel am großen Präsidenten Hoeneß, dem im Leben schon übelst mitgespielt wurde und der nach jener beschämenden Niederlage in Madrid als Einziger eine höchst ungewohnte Ruhe ausstrahlte. Man konnte fast meinen, der Ungar und seine Mitungarn gingen ihm am Arsch vorbei.
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