Nachmittags Idylle im Jardin du Luxembourg. Abends zeigt der Kellner ein Handy-Video von einem Anschlag. Wie viele Gegensätze kann eine Stadt aushalten?
L. denkt, wir könnten diesen Sommer wieder nach Paris fahren. Irgendwann im August, wenn sich die Stadt leert, um sich vorübergehend ganz den Blicken und Phantasmen seiner Besucher auszuliefern. „Wir wissen gar nicht, ob Paris im Sommer überhaupt noch existiert“, entgegnen wir, „und ob Europa dann überhaupt noch da ist.“ Mit L. über Europa zu diskutieren hat keinen Sinn. Obwohl L. behauptet, Paris sei die Stadt, in die sich das Beirut seiner Jugend transformiert hat. Paris als Tagtraum. Beirut, das sich immerfort nach Paris sehnt, obwohl Paris gar nichts mehr mit Beirut zu tun haben will.
Letztes Jahr im Sommer hatten wir gleich mehrere Aufträge. Zum Beispiel: „Bringt mir Lippenstift von Guerlain mit. Die beste Filiale ist auf den Champs-Élysées.“ Aber versteht L. denn nicht, welcher Gefahr wir ausgesetzt sind? Gerade jetzt würden wir natürlich auf keinen Fall auf die Champs-Élysées fahren. Schon mal gar nicht, um Lippenstift zu besorgen. L. wollte schon immer in Paris sein, dort leben und Karriere machen. Schließlich haben wir ihn solange bearbeitet, bis er seine Meinung geändert hat. K. hat ihm einen Job in München besorgt und von dort fliegt er jetzt mit Eurowings nach Paris. Im Sommer letzten Jahres aber hatte er keine Zeit und es war klar, dass wir die Sache für ihn übernehmen würden. „Aber warum soll Paris denn untergehen?“, fragt L. lachend. „Paris kann doch gar nicht untergehen.“
Natürlich werden wir im Sommer nicht noch mal nach Paris fahren. Unabhängig davon, wie die Wahlen ausgehen. Man kann nicht jedes Jahr nach Paris fahren. Man kann nicht so tun, als sei jetzt alles ein großer, zusammenhängender, schön eingerichteter urbaner Raum, in dem alles möglich ist. Im Jardin du Luxembourg kann man die Stühle verschieben. Das ist das Tollste an Paris. Man kann in einen Park gehen und sich einen Stuhl suchen und mit diesem Stuhl theoretisch unendlich oft den Platz wechseln. Mal im Schatten sitzen, mal wieder in der Sonne, mal an dem kleinen Wasserbecken, nicht weit von dem Pavillon de la Fontaine.
Nach unserer kleinen Shopping-Tour haben wir uns erstmal ausgeruht. Wir haben zugeschaut wie ein kleines Schiff zu Wasser gelassen wird. Im Nachhinein haben wir es (aber wir haben L. nichts davon erzählt) „MS Europa“ getauft. Das Schiff, ausgestattet mit allem möglichen Klunker, Playmobilfiguren, kleinen Volieren, Plastikperlen und einem unendlichen Gewirr von Kabeln und Schnüren, wird auf einem mehrfach reparierten und ausgemusterten Kinderwagen antransportiert. (Kurzes Interview mit dem Besitzer des Kinderwagens: „Was soll ich machen? Meine Kinder sind aus dem Haus. Meine Frau hat sich von mir scheiden lassen. Das ist jetzt mein Leben.“) Er hat einen Assistenten. Gemeinsam heben sie das Gefährt aus dem Kinderbett und lassen es zu Wasser. Die Aufgabe des Schiffes steht von vornherein fest und ist klar umgrenzt. Von einer Seite zur anderen Seite des Teichs. Das sind vielleicht zehn Meter. Die MS Europa, in der Sonne kryptisch, mysteriös mit der Aura eines mondänen Piratenschiffs, sieht aus der Nähe betrachtet wie eine Bastelarbeit aus, die auf charmante Weise schief gegangen ist.
Ich habe Byung-Chul Hans Buch Psychopolitik dabei, das man auch als Tourist ohne Weiteres mitnehmen kann, weil es so klein und handlich ist. Ich lese darin, während wir die Parkatmosphäre und die Sonne genießen. „Du brauchst aber nicht zu denken, dass man nur als Intellektueller in Paris glücklich sein kann“, erklären wir L. „Du kannst auch so glücklich sein.“ Wir schauen uns das Schiff an, das vor aller Augen bei leichtem Wind über den Teich treibt. Der Mann, der von seiner Frau verlassen worden ist, und sein Assistent haben einen weißen Stock dabei, der wie ein Blindenstock aussieht. Damit steuern sie das Schiff. Und das müssen sie auch. Es kommt zwar auf der anderen Seite an, will dann aber partout nicht zurücksegeln. Dorthin, wo der ausgemusterte Kinderwagen wartet. Natürlich ist das Schiff eine Parodie. Auch wenn die beiden Männer es später, nachdem sie es aus dem Wasser gehoben haben, mit Wet-Wipe-Tüchern abreiben. Ein kleiner Junge mit mutmaßlich algerischen Wurzeln hilft ihnen. Er hat seine batteriebetriebene Yacht aufgegeben, um eine Weile den „Blindenstock“ benutzen zu dürfen und die MS Europa wieder in Fahrt zu bringen. Es ist eigentlich weniger ein Piratenschiff als ein Geisterschiff. Geisterschiff schon allein deswegen, weil es unbemannt ist, nicht mehr von der Stelle kommt und unter unser aller Augen wie in einer unendlichen Flaute erstarrt. Der Junge, höchst elegant gekleidet mit einer Art Tropenhut, legt die Fernbedienung seiner schnittigen Yacht zur Seite und übernimmt jetzt das Kommando. Er stolziert etwas, wirft sich in eine kolonialen Pose, hebt den Stock, tippt das Geisterschiff an, setzt es in Bewegung. Ich versuche mehrere Fotos von dem Schiff zu machen, aber seine morbide Schönheit, die Ekstase seiner Regression (die Playmobil-Figuren hängen kopfüber an spinnenartig gespannten Netzen, das Schiff hat Schlagseite) kann man nicht in Szene setzen. Alle Bilder gehen schief und man erkennt eigentlich überhaupt gar nichts mehr.
Der Junge tippt das Schiff nochmal an. Er versucht es ein bisschen in Schwung zu bringen. Die beiden Männer eskortieren ihn. Alle die auf der Steinmauer sitzen, die den Teich umfasst, müssen ihren Platz verlassen, damit das Schiff zu seinem Ausgangspunkt zurück gebracht werden kann. Von dort soll es noch mal „in See“ stechen. Das Schiff erhebt einen gewissen Anspruch. Schwerfällig, aber um Grandiosität bemüht, die Erinnerungen an eine gescheiterte Ehe in seinem Schiffsbauch verborgen, verweigert es sich. Es widersteht dem Wind und ignoriert die Natur. „Die primäre intrinsische Überwachung ist noch problematischer als die sekundäre extrinsische Überwachung“, heißt es bei Byung-Chul Han. Es ist ein wunderbarer Nachmittag. Das Geisterschiff, die gnädige Sonne, die aufgescheuchten Franzosen, die für die MS Europa Platz machen müssen, die chinesischen Touristen, die später orientierungslos um den Teich herumlaufen, der Junge mit den mutmaßlich algerischen Wurzeln, der seine Yacht im Stich läßt und der verwaiste Kinderwagen. Ich rücke mit dem Stuhl etwas vor, um besser sehen zu können.
Dieser kleine absurde Mikrokosmos überstrahlt alles andere an diesem Tag. Auch die Geschichte eines fernen Verwandten von L., den wir später im Pavillon de la Fontaine treffen und der sagt: „Manche meiner Kollegen haben jetzt ein Messer im Rucksack.“ Oder: „Viele trauen sich nicht mehr in die Innenstadt.“ Er ist Elektriker und arbeitet für eine große Firma, kommt viel in der Stadt herum, aber auch er hält sich nicht mehr so gerne in der Innenstadt auf. Seine Frau macht so etwas ähnliches wie Change Management, spricht aber so gut wie kein Wort Englisch.
„Wie geht es L.?“, fragt der Cousin.
„Großartig“, sagen wir. Wir erzählen nicht, dass wir Lippenstift für ihn gekauft haben, da wir nicht wissen, was der eine Libanese in der Diaspora so über den anderen Libanesen denkt.
„Marine Le Pen ist selbst ein Opfer“, erklärt die Frau des Cousins. „Ihre Mutter hat als Putzfrau im Playboy posiert.“
„Wirklich?“
„Ja, weil der alte Le Pen der Mutter von Marine keinen Unterhalt mehr zahlen wollte und ihr gesagt hat, sie soll doch putzen gehen.“
Wir unterhalten uns über die Sicherheitslage und was sich in der Stadt alles so verändert hat. In diesem Sommer waren die Terroranschläge noch nicht ganz so alltäglich wie jetzt und unser Umgang damit ist noch etwas unbeholfen. Der Cousin zeigt uns auf der Karte wo das Bataclan liegt, das Casa Nostra, das Le Carillon.
„Wir wollen nur mal kurz schauen“, erklären wir ihm. „Liegt ja alles ganz eng beinander.“ Das zu Wasser gelassene Gespensterschiff kann ja nicht alles gewesen sein an diesem Tag. Der Anschlag an der Gedächtniskirche in Berlin liegt noch in weiter Ferne, obwohl es gerade zu diesem Zeitpunkt sogar noch wahrscheinlicher erscheint, dass in Deutschland irgendwann auch mal die AfD an der Regierung beteiligt sein wird.
„Es ist sehr kläglich“, sagt der Cousin noch. Seine Frau erzählt noch ein bisschen mehr von Marine Le Pen, die eine furchtbare Jugend gehabt haben muss. (Natürlich sind alle Rechten auch traumatisiert.) Der Pfarrer verweigert ihr den Handschlag. In der Schule wird sie gezwungen, das Gerichtsurteil, das gegen ihren Vater verhängt worden ist, zu studieren. Und ihre Mutter zieht sich für den Playboy aus.
„Aber es gibt wirklich Schlimmeres“, sagt K.
Wir stellen die Stühle wieder zurück. Wir wissen allerdings nicht genau, wo wir sie hinstellen sollen. Nur, dass wir etwas zu nahe am Teich gesessen hatten und das Gefühl haben, wir müssten sie zurückstellen. Obwohl das doch das Tolle ist: Man stellt sie nirgendwo hin, geht dann einfach und verlässt den Park. Die Sonne ist untergegangen. Wir fahren in das 10. Arrondissement. Im Casa Nostra zeigt mir der Kellner ein Video auf seinem Telefon. Es zeigt die schattenhafte Gestalt eines der Terroristen wie er einen der Gäste des Restaurants zu erschießen versucht, aber seine Waffe nicht funktioniert. Vorher sieht man noch wie die Fensterscheibe der Bar unter den Schüssen zersplittert. Im winzigen Bildschirm, im Zwielicht des vollkommen leeren Restaurants, erscheint der Glassplitter-Regen wie ein sanftes Lichtgeflimmer, ein Glockenspiel. Das Zittern der Hand des Kellners lässt das Bild pulsieren, als habe er selbst mit dem Telefon auf die Fensterscheibe gezielt. Phantasmagorien. Psychopolitik. Traumatisierungen. Es ist ein warmer, schöner Abend. Wir spazieren noch ein bisschen weiter. Halten uns aber mit der Besichtigung der Schauplätze zurück.
Der Lippenstift heißt Yves Saint Laurent Lipgloss „with a transparent shine, so as not to be too flagrant“, wie L. in seiner Nachricht schreibt. Per Whatsapp stimmen wir uns mit ihm ab, ob der Preis OK ist. Ob man das in München nicht billiger bekommt. Wir fragen uns außerdem: Geht L. jetzt in seinem Exhibitionismus, der sympathisch ist und den wir durchaus unterstützen, so weit, dass er geschminkt zur Arbeit fährt? Mit Lippenstift am U-Bahnhof Sendlinger Tor? Oder ist das nur eine private Inszenierung? Ein paar Monate später, es ist schon mitten im Winter, bekommen wir ein Bild von L. geschickt, auf dem er in einem dampfenden Outdoor-Pool eines Wellness-Hotels in Oberbayern zu sehen ist. Er taucht aus dem Wasser auf und schafft es irgendwie ein Selfie zu machen. „Seht ihr“, schreibt L. „Wie ein Phönix aus der Asche…“
Die MS Europa wird derweil wieder zu Wasser gelassen. Jetzt wo es wieder etwas wärmer wird. Täglich, wöchentlich, einmal im Monat, jeden zweiten Sonntag. Wer weiß das schon? Sie segelt in die immer gleiche Richtung. Vielleicht ist es ja auch gar kein Ritual, sondern irgendetwas Masochistisches. Etwas, was man tut, um seine Erinnerungen in Schach zu halten. Ein Akt der Verdrängung, so wie der Lippenstift von L., den man auf seinen Lippen aber gar nicht erkennen kann. Lippgloss eben, „with a transparent shine„.
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