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„Wir haben euch was mitgebracht: Hass, Hass, Hass.“

 

Fankurven im Fußballstadion sind ein Spiegel der Gesellschaft. Wenn die Minderheit zu toben beginnt, erstarren die Friedfertigen in hilfloser Bestürzung.

Szene aus dem Championsleague-Endspiel Bayern München gegen Chelsea im Mai 2012, © Alex Livesey/Getty Images

Ich bin leidenschaftlicher Anhänger des 1. FC Kaiserslautern und fahre gelegentlich zu Auswärtsspielen, wo ich über mein Lieblingsthema nachdenke – die Barbarei. Mein letztes Auswärtsspiel ist eine Weile her; ich ging mit Freunden zum Spiel gegen Ingolstadt und zwar in der Saison, bevor „die Schanzer“ in die erste Bundesliga aufstiegen. Unwichtig. Es zählt einzig, dass ich viel über Barbarei nachgedacht habe.

Ich weiß nicht, was wir für die Menschen in Ingolstadt waren. Am Anfang, als wir singend zum Stadion liefen, vielleicht charmant, später dann, in der zweiten Halbzeit, eher bedrohlich. Überhaupt, diese Halbzeit: Es war, als stellten wir, die Fans des 1. FC Kaiserslautern, eins der Triptycha nach, die den Fortschritt des Jüngsten Gerichts abbilden.

Zu Beginn kletterte ein seltsamer junger Mann – er trug eine dieser Lesebrillen, die Augäpfel groß erscheinen lassen – auf den Zaun, der den Gästeblock vom Spielfeld trennte, und beschimpfte abwechselnd alle Spieler, die in seine Nähe kamen, Polizisten, die Fans des eigenen wie des anderen Vereins. Drei gepanzerte Beamte zogen vor dem Zaun auf und forderten, dass er herunterklettere, aber er zeigte ihnen den Mittelfinger und tat so, als wollte er seine Jeans aufknöpfen, wieso auch immer. Schließlich wurde er von seinen Freunden heruntergezogen, fiel von halber Zaunhöhe schmerzhaft auf die Seite und fing deswegen eine Prügelei mit Fremden an, die bedeutend größer und eindeutig gewalterfahrener waren als er. Daher verbrachte er den Rest des Spiels mit einer schief sitzenden Brille, der nun ein Bügel fehlte, und einem vom Blut eingefärbten Rollkragen. Nackte Angst hatte ihn in Adrenalinschweiß gebadet, und er roch wie eine vor Stunden benutzte Knoblauchpresse. Er hatte ein erstes, verunsichertes Abrücken der Ingolstädter Familien vom Gästeblock veranlasst, denn er war wirklich furchtbar laut und vulgär gewesen – seine liebsten Schmährufe waren das harmlose, dialektale „Voch’l“ (Vogel), und – weit garstiger – eine fiese Bezeichnung für die Vagina.

Kurz nachdem er verprügelt worden war, entdeckte jemand aus der Gruppe jener, die auf ihn eingeschlagen hatten, im benachbarten Block unter Ingolstädter Fans eine einsame Gestalt im Trikot des FC Bayern München; dieser Mann trug sogar einen Strohhut mit dem Logo dieses Vereins. Keine Ahnung, was ihn zu diesem Spiel gebracht hatte. Es war sicherlich nicht das feingliedrige Spiel des 1. FCK; nein, nein – bei uns versuchen Trainer, Teams und Vorstände seit einigen Jahren und mit vereinten Kräften, Fans bis zur Unerträglichkeit zu enttäuschen und zu langweilen. Jedenfalls wurde dieser Mann so lange mit Bier-Bechern beworfen – in manche war angeblich zuvor uriniert worden – und beschimpft, bis er unter Johlen den Block verließ. Daraufhin rückten die Ingolstädter Familien noch weiter von uns ab.

Spieler streckt Polizisten nieder

Anschließend gab es eine größere Prügelei unter Fans, die diesen semi-uniformisierten Ultra-Gruppierungen angehörten. Sie waren zum größten Teil Teenager und sie diskutierten so viel wie sie schlugen. Am Anfang standen sie sich in zwei Reihen gegenüber, aber im Zuge des Streits verwirbelten sich diese ineinander, und es war bald nicht mehr zu erkennen, ob noch Gruppen gegeneinander kämpften oder jeder gegen jeden.

Ausschreitungen bei Fußballspielen vermehren sich in Zeiten der Verunsicherung. Den endgültigen Kollaps meiner einstigen Heimat Jugoslawien löste eine Reihe von Spielen aus, die fürchterlich ausarteten. Während nahezu jedes Match jener Jahre von großen Unruhen begleitet war, überragen in meiner Erinnerung zwei Spiele alle anderen an Ausmaß, Intensität und Spektakel der Enthemmung und Gewalt: Das Spiel zwischen Dinamo Zagreb und Roter Stern Belgrad am 13. Mai 1990 sowie jenes zwischen Hajduk Split und Partizan Belgrad am 26.September 1990. Beide Spiele mussten abgebrochen werden (das erste wurde nicht einmal angepfiffen), da Fans übereinander herfielen – im Rückblick ist es natürlich leicht, die schrille Erregung, mit der sie aufs Spielfeld eilten, um sich zu prügeln, als eine Vorschau der bevorstehenden Jahre zu deuten – des Chaos, des Genozids, des Hasses. Doch Erwachsene reagierten damals mit erschöpftem Unglauben: Was ist aus unserem Land geworden?

Jedes der zwei Spiele besitzt übrigens einen Moment, dessen Symbolik sogar für einen Roman zu krude wäre: Beim ersten Spiel streckte der Dinamo-Spieler Zvonimir Boban einen Polizisten durch einen Kniestoß nieder, und zwar aus „nationalem Stolz“, wie er später sagte, denn der Polizist versuchte, Dinamo-Fans – also Kroaten – durch Schläge zurückzudrängen. Der Beamte war übrigens ein Bosnier, dem kurz nach dem Spiel ein Versetzungsantrag nahegelegt wurde.

Der Moment des zweiten Spiels ist (noch) weniger komplex: Hajduk-Fans zündeten nach ihrem Platzsturm (ihr Verein lag mit 0:2 hinten, außerdem war Rage für einen bedeutenden Teil jugoslawischer Jugendlicher damals der grundlegende Gemütszustand) die jugoslawische Fahne an. In meiner Erinnerung war der Kommentator außerordentlich bestürzt, doch als ich mir die Aufnahmen des Spiels vor Kurzem bei YouTube angeschaut habe, stellte ich fest, dass meine Erinnerungen von einem Wunschdenken gefärbt waren – er war höchstens ein wenig betroffen, so als hätte sein Kind vor Nachbarn in den Sandkasten gekackt. Jugoslawen waren zu diesem Zeitpunkt schon einiges gewohnt.

Soldatische Träume

Bei YouTube kann man sich auch Interviews mit Anführern der an den Ausschreitungen beteiligten Fan-Gruppierungen anschauen und es ist erstaunlich, mit welcher Nostalgie sie von ihren Erlebnissen berichten – ganz seltsam finde ich das. Diese freikorpsige Wehmut nach den Freuden des Männerbunds und der Kriegslust.

Der junge Mann, von dem ich zu Beginn berichtet habe – jener, der auf den Zaun geklettert und von ihm gestürzt war –, besaß auch diese Wehmut. Als er nach dem Zwischenruf „Schiri, du Jude“ erneut mit anderen FCK-Fans in Streit geriet, empörte er sich. Was man von ihm wolle? Früher, klagte er energisch, sei „so was“ normal gewesen, man habe der gegnerischen Mannschaft den Tod gewünscht. „Wir haben euch was mitgebracht: Hass, Hass, Hass. Das haben wir gesungen“, sagte er und tat dann so, als würde er das Spiel verfolgen. (Doch später lauerte er mit Freunden einem von jenen auf, die ihn nach seinem Zwischenruf zurechtgewiesen hatten – unter allen hatte er sich den einzigen ausgesucht, der alleine gekommen war und daher von Passanten gerettet werden musste.)

Mit dem „früher“ meinte er die Neunzigerjahre, als Ausschreitungen bei Fußballspielen gewöhnlicher waren – und somit meinte er auch eine Praxis der Männlichkeit, die sich bedrängt fühlt; er meinte Wege des Spannungsabbaus, die zunehmend Repressionen ausgesetzt seien, obwohl sie sich natürlich anfühlten. Sogar gesund. „Sind wir Männer keine Krieger mehr?“, hatte er gefragt.

Die Frage ist keineswegs unberechtigt. Zu Beginn des Bosnienkriegs wurden Mitglieder paramilitärischer Einheiten intensiv aus den Hooligan-Gruppen der Stadtvereine rekrutiert. Die Kriegsfolklore ist voller Geschichten über ihre Groß- und Schandtaten. Und was ist mit all jenen Fans der SG Dynamo Dresden, die am Ende dieser Saison zum Spiel gegen den Karlsruher SC in Tarnfarben kamen (manche, vielleicht Paintball-Enthusiasten, trotz der Hitze sogar in zotteligen Ghillie-Anzügen) und später für sechsunddreißig Verletzte sorgten? Sie hatten es nicht einmal geschafft, ihre soldatischen Träume im üblichen Nylon von „Stone Island“- und „Alpha Industries“-Jacken zu verpacken; es konnte ihnen nicht sprichwörtlich genug sein.

Die Beschwerden von Dynamo-Fans, die sich in der Berichterstattung zu Unrecht inkriminiert fühlten, da sie schließlich nicht verkleidet zum Spiel gekommen waren und auch mit Gewalt nichts anfangen konnten, erinnerten mich an die Konsternation meiner Eltern, als sie anerkennen mussten, dass sie machtlos gegen all jene waren, die sich Völkermord wünschten – und das, obwohl sie sich als Mitglieder einer Mehrheit der Friedfertigen sahen. So stimmt es auch im Fußball, dass es neben der barbarischen Minderheit eine Mehrheit jener Menschen gibt, die sich bewusst gegen Gewalt entscheiden – doch wenn sie zu toben beginnt, erstarren sie in hilfloser Bestürzung.

Und warten auf die Flammen.

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