Lesezeichen
‹ Alle Einträge

Es brennt

 

Wenn es knistert, raucht und qualmt, gerät unsere Autorin in Panik. Sie hat schreckliche Angst vor Feuer. Das hat auch mit Enid Blyton zu tun.

Copyright: chuttersnap/unsplash.com

Ich muss noch sehr klein gewesen sein, als ich einmal von den meiner Meinung nach nettesten Freunden meiner Eltern eine Hörspielkassette geschenkt bekam. Sie hieß Geheimnis um einen nächtlichen Brand und war eine Adaption des gleichnamigen ersten Romans der Geheimnis um…-Serie von Enid Blyton. Ich konnte den Titel auf der Kassette noch nicht lesen, erfuhr aber beim Hören schnell worum es ging. Die fünf Spürnasen von Peterswalde klären als ihren ersten Fall den nächtlichen Brand im Gartenhaus von ihrem Nachbarn Herrn Schluck auf. Beim Hören dieser Kassette manifestierten sich gleich zwei Dinge in mir, die mich bis heute begleiten. Erstens meine Liebe zu Enid Blyton und zweitens meine Arsonphobie: die krankhafte Angst vor Feuer.

Dabei hatte ich im echten Leben bis dahin noch nie Feuer erlebt, höchstens die kleine Flamme an den Streichhölzern, die mein Vater von seinen China-Reisen mitbrachte. Der leichte Geruch nach Schwefel, die Flamme, die er an seine Zigarette hielt – sie verglomm zu schnell, um mir Angst zu machen. Doch dann. Es passierte in der Küche meiner spanischen Großmutter. Ich saß am Fenster und schaute selbstvergessen raus auf die Avenida del Cid, ich hatte Hunger und freute mich auf etwas Frittiertes – in Spanien isst man fast alles frittiert –, da hörte ich plötzlich ein seltsames Geräusch. So als würde ein Riese etwas auspusten, dabei war genau das Gegenteil der Fall. Puffff! Die Pfanne mit dem heißen Olivenöl hatte Feuer gefangen. Hektisch rannte meine Abuelita ihrer Küche herum, die Flammen stiegen höher, bis meine Mutter schließlich einen großen Topfdeckel über der Pfanne ausbreitete. Das Feuer erlosch, aber ich kann noch noch heute die gelben Flammen in der Pfanne züngeln sehen, den schwarze Ruß, wie er über dem Herd an den Küchenschränken hoch kriecht, und die verschwitzten Gesichter meiner Abuelita und meiner Mutter, wie sie sich mit ihren Schürzen die Stirn abwischen.

Mir erschien es als Kind von vornherein gefährlich, wie man in Spanien kochte, mit echtem Feuer. Gasherde waren in meiner Heimat – einer Reihenhaussiedlung im Rheinland – nicht üblich. Ich verstand nicht, warum die Gasflamme blau war, ich hasste den eigentümlichen Geruch, der vom Gas ausging, er war mir fremd und erschien mir deshalb umso gefährlicher. Auch dass das Haus keinen Blitzableiter besaß, alarmierte mich zusätzlich, denn ein Blitz konnte zu Bränden führen, das hatte ich im Kindergarten aufgeschnappt, doch statt Feuer gab es in Spanien bei Gewitter immer nur Stromausfälle. Oft wurde es nach einem hellen Blitz plötzlich stockdunkel. Se ha cortado la luz, das Licht hat sich geschnitten. Was bedeutet das genau, fragte ich mich. Zitternd, auf den nächsten Donner wartend, lag ich im Bett und versuchte mir die Gestalt des Lichts vorzustellen, den Teil, an dem es sich geschnitten haben musste, so etwas wie ein Daumen oder eine Fußsohle. Die Engel spielen im Himmel Fußball, sagte meine Abuelita und deckte mich fest zu, der Donner kommt immer dann, wenn ein Engel ein Tor geschossen hat. Ich verstand nicht, wieso die Engel alle an ihrem Fußballspiel teilhaben lassen mussten und warum es so laut donnerte musste, wenn einer dieser Fußbälle gegen ein Tor aus Wolken schlug, die waren doch ganz weich.

Vor Gewitter habe ich keine Angst mehr, das hat sich zum Glück gelegt, aber die Angst vor Feuer ist geblieben. Wenn der Proteinfreak aus dem Erdgeschoss mal wieder seine Steaks zu heiß grillt, werde ich nervös. In meinem Flur hängt ein Rauchmelder und neben meiner Wohnungstür ist ein Ausgang auf ein Notdach. Ich habe das Schloss mit einem Bolzenschneider aufgeknackt, damit ich bei Ausbruch eines Feuers sofort auf das Notdach steigen kann. Ich fand das lange übertrieben, aber seit vor einigen Wochen ein Mann sich bei einem Brand in Kreuzberg genau auf solch ein Notdach rettete, finde ich es wieder gar nicht übertrieben.

Hustend auf die Straße

Nun mag man denken, dass es neurotisch ist, vor Feuer eine solch übertriebene Angst zu haben, doch 2011 wurden meine Ängste Realität. Ich erlebte selbst einen Brand. Es war an einem Montag. Ich lag auf der Couch im Wohnzimmer und schaute Aktenzeichen XY. Plötzlich hörte ich laute Stimmen vor dem Haus. Ich lief zum Fenster, konnte aber nichts erkennen. Ich öffnete die Tür zu meinem Wohnungsflur. Dicker Rauch kam mir entgegen und hatte bereits den gesamten Türrahmen angeschmaucht. Ich musste husten, mir brannten die Augen. Ich rannte zurück ins Wohnzimmer und öffnete reflexartig ein Fenster, was alles nur noch schlimmer machte. Der Rauch breitete sich immer weiter in der Wohnung aus. Eine Panik, wie ich sie vorher nicht gekannt hatte, kroch in mir hoch, da hörte ich zum Glück die Feuerwehr. Zwei Feuerwehmänner sprangen vom fahrenden Wagen, nur wenige Sekunden später schleuderten die beiden einen lichterloh brennenden Kinderwagen auf die Straße. Währenddessen hatten andere Hilfskräfte bereits eine Art Riesenventilator zusammenmontiert, den sie in den Hausflur stellten. Ich hielt mir ein feuchtes Geschirrtuch ins Gesicht, hängte mich aus dem Fenster und sah dabei zu, wie die Feuerwehr die alleinerziehende Mutter mit ihren beiden Kinder aus dem 4. Stock retteten. Hustend stolperten sie auf die Straße.

Ich musste an Herrn Schluck denken, an die Kassette von Enid Blyton. Wie er vor seinem brennenden Garten Haus steht und „Meine Schriftstücke, meine Schriftstücke“ schreit. Meine Tagebücher, dachte ich, meine Tagebücher! 22 Jahre Text. Draußen rannten die Feuerwehrleute hektisch herum. Wir lüften aus, rief der Mann nach oben, bleiben Sie in Ihrer Wohnung! Ich hoffte, er meinte mich, ich konnte nicht erkennen wohin er schaute. Tatsächlich hörten kurz darauf meine Augen auf zu brennen. Vorsichtig nahm ich das Geschirrtuch vom Mund und trat in den Flur. Durch den Türschlitz drang kein Rauch mehr. Ich öffnete alle Fenster. Draußen hockte die Mutter mit ihren zwei Kindern, in Notfalldecken gewickelt, auf dem Bürgersteig. Sie hätten in ihrer Wohnung bleiben sollen, schimpfte ein Feuerwehrmann. Dann hätten Sie auch keinen Rauch abbekommen. Ich glaube, die Mutter verstand ihn nicht. Ich blieb noch lange am Fenster stehen und beobachtete, wie die Feuerwehr ein- und ausging, wie der Rettungswagen kam und die Mutter mit ihren Kindern ins Krankenhaus fuhr. Erst als die Feuerwehr auch sicher war, dass nirgendwo Glutnester übrig waren, zog sie wieder ab.

In der Nacht schlief ich kaum, traute mich aber auch nicht in den Hausflur. Erst am nächsten Morgen sah ich das ganze Ausmaß. Das Treppenhaus war schwarz. Ein echter Höllenort, an dem man eine SIGNA-Performance hätte installieren können. Die Hadesfraktur. Der beißende Geruch von kaltem Rauch hing in der Luft, vor der Tür sammelten sich Journalisten mit geschulterten Kameras und tranken den schlechten Kaffee vom Späti nebenan. Nur eine Woche zuvor war auf der Sonnenallee eine Familie mit einem zehn Tage alten Säugling ums Leben gekommen, bei einem Kinderwagenbrand. Man ging von Brandstiftung aus, genau wie bei uns im Haus. Ich bin von der BILD, sagte einer von den Reportern und sprach meine Nachbarin an, die ihm freundlich Auskunft gab. Sie schilderte die Vorfälle der letzten Nacht. Kurz darauf brannte es wieder. In unserem Haus. Diesmal im Hinterhaus, wieder im ersten Stock. Eine Heizdecke war in Flammen aufgegangen, die Familie sprang vom Balkon und kam mit schweren Rauchvergiftungen ins Krankenhaus. Dass ich nicht da war, beruhigte mich nur mäßig.

Wovor sollte man mehr Angst haben

Als vor einigen Wochen das Feuer im Grennfell-Tower ausbrach, saß ich mal wieder stundenlang vorm Computer und verfolgte die Zahlen der Toten und Vermissten, so wie ich es immer tue, wenn es irgendwo brennt. Ich sah die Bilder vom Feuer in dem Hochhaus, das mitten in der Nacht ausbrach und London erleuchtete wie die Fackel eines Außerirdischen. Ich sah die Videos und Nachrichten, die die Eingeschlossenen an ihre Liebsten sandten. Obwohl mir vom vielen Medienkonsum übel wurde, konnte ich nicht aufhören. Ich klickte so lange, bis ich mich überfressen hatte an den Bildern und mir von den blauen Wellenlängen, die meine elektronischen Geräte aussenden, schlecht wurde. Ich riss mich los und ging ins Fitness-Studio. Dort las ich mich in der BZ fest, ein Artikel über den „Helden vom Grenfell Tower“, einen Familienvater, der seine ganze Familie 21 Stockwerke durchs Treppenhaus nach unten geführt hatte und noch einmal zurückkehrte, um seine im Treppenhaus verlorengegangen Tochter rauszuholen. Zu Hause suchte ich Fritz Kochers Aufsätze von Robert Walser heraus, die Episode mit der Feuersbrunst. Auch dort rettet ein Mann ein kleines Mädchen aus den Flammen. Starker Mann und kleines Mädchen – das Narrativ geht immer, doch eigentlich dachte ich, dass ein Feuer heute nicht mehr so gefährlich ist wie früher. Man müsste meinen, dass man sich über die vielen Jahrhunderte inzwischen besser davor schützen kann, so wie man sich inzwischen besser vor Krankheiten schützen kann als früher.

Ein paar Tage später ging ich zu Hellweg, um einen zweiten Rauchmelder zu kaufen, aber an den Kassen legte ich ihn gleich neben den Schleich-Figuren wieder ab. Wo wollte ich denn diesen zweiten Rauchmelder montieren? Zwei helfen auch nicht mehr als einer, zumindest nicht in meiner Wohnung. Wenn’s brennt, dann geht der eine an und fertig. Dann muss ich schnell aufs Notdach. Und der Hund? Dem lege ich die Leine an, dann kommt er mit. Auf dem Dach muss ich aber noch einen Hammer bunkern, damit ich schnell die Fensterscheibe gegenüber einschlagen kann. Die Nachbarn werden schlafen, wenn das Feuer in der Nacht kommt. Sie werden meine Hilferufe sicher nicht gleich hören können, deswegen brauche ich den Hammer.

Noch ein paar Tage später hörte ich davon, dass das Feuer im Grenfell Tower auf nicht umgesetzte Brandbestimmungen zurückzuführen sei und bei der kürzlichen Sanierung des Gebäudes verbotene Dämmmaterialien und brennbare Gebäudeverkleidungen benutzt wurden. Bauunternehmer hätten an den Brandschutzbestimmungen vorbei gebaut. Plötzlich interessierten sich in meinem Freundeskreis viele Menschen für das Feuer. Plötzlich bekamen sie auch Angst. Was wenn wenn es brennt? Werden sie auch in Deutschland Feuerwehrstationen schließen, so wie in den vergangenen Jahren in London? Dort wurden Dutzend Feuerwehrstationen im Zuge von Sparmaßnahmen und Privatisierung geschlossen. Ich fragte mich, ob meine Arsonphobie vielleicht doch mehr mit Privatisierung als mit Psychoanalyse zu tun hat, denn auch in Deutschland kommen Menschen bei Bränden ums Leben, weil die billige Wärmedämmung Feuer fängt, auch in Deutschland wird privatisiert und gespart. Rückt die Feuerwehr in naher Zukunft erst dann aus, wenn man flüssig genug ist, und muss ich den Einsatz vorher schnell noch per Kreditkarte bezahlen? Vielleicht sollte man eher davor Angst haben, als vor dem Feuer selbst.

Die letzten Tage hat es viel geregnet. Regen ist so was wie das Gegenteil von Feuer. Berlin stand unter Wasser, an den Yorckbrücken fuhren die Leute Schlauchboot, manche zogen sich ihre Badesachen an und kraulten zu den Klängen der Martinshörner die Yorckstraße runter. Das Martinshorn der Feuerwehr, es legte sich tagelang wie ein Grundton über die ganze Stadt. Große und kleine Feuerwehrautos bahnten sich ihren Weg durch die überfluteten Straßen, manche von ihnen sahen aus wie Oldtimer. Alles rückte aus. Aus der Tür zu meinem Notdach floss das Wasser, eine große Pfütze bildete sich darunter, ich musste im ganzen Flur Handtücher auslegen. Nägelkauend saß ich anschließend auf der Couch und fragte mich: Werde ich jetzt ertrinken? Habe ich die ganze Zeit über die falsche Phobie kultiviert? Wird mir mein Notdach jetzt noch zum Verhängnis? Ich musste an die Engel denken, dass Gewitter Fußballspiel bedeutet und daran, was meine Abuelita wohl gesagt hätte, woher der ganze Regen kommt, für was für eine Art von Engelssport sie ihn gehalten hätte. Mir fiel keiner ein.