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Immer diese Löffeldiebe

 

In Italien wimmelt es bekanntlich von Verbrechern. Die 97-jährige Tante unserer Autorin hat sich deshalb eine Überwachungskamera installieren lassen. Was die Videos nicht alles zeigen!

© Alex Harvey/Unsplash.com

Meine Tante lebt in Italien und hat schreckliche Angst vor Dieben. Sie ist felsenfest davon überzeugt, dass sie bei ihr ein- und ausgehen, Dokumente stehlen und gelegentlich auch die Milch austrinken. Manchmal nehmen sie auch kleine Löffel mit. Wenn ich Tantchen frage, wer denn kleine Löffel mitnimmt statt echter Kostbarkeiten, antwortet sie selbstsicher: „Na, wer kleine Löffel braucht!“

Was soll man dazu sagen? Sie ist 97 Jahre alt, und wahrscheinlich hat sie alles Recht der Welt, an Diebe zu glauben. Man hat sie als Jüdin aller möglichen Dinge beraubt, jetzt im Alter spielt sie das Thema nochmals durch.

Mir fällt es zugegebenermaßen schwer, an die Diebe zu glauben. Ich versuche, die Tante eines Besseren zu belehren, sie reagiert empört. Das führt regelmäßig zu Streitereien, obwohl mir meine Therapeutin schon vor Langem beigebracht hat, dass man gegen einen Wahn nichts machen könne. Wahn sei irreparabel, ich solle mich in Gleichmut üben. Gleichmut, ich?

Die Situation ist vertrackt.

Nun hat die Tante ohne mein Wissen eine Überwachungskamera einbauen lassen. Ich würde dann schon sehen, wer alles bei ihr einbricht und sie bestiehlt. Dann würde ich ihr endlich glauben müssen! Ich war sofort alarmiert. Eine Kamera? Wo? Und seit wann? Das eben sei das Problem, beichtete die Tante, sie wisse nicht mehr so genau, wann sie die Kamera habe einbauen lassen, nur dass sie 30 Euro am Tag kosten würde, wisse sie noch. „30 Euro am Tag? Dafür kann man einen Maserati mieten!“, schrie ich.

Gestern Nachmittag marschierten wir in der prallen Hitze zu dem Detektiv, den sie beauftragt hatte. Investigazioni Venete. Signor Antonio war früher Maresciallo dei Carabinieri, so etwas wie Polizeiwachtmeister, und ist jetzt mit 57 Jahren in Pension. Polizeiarbeit sei in Italien sehr aufreibend, erklärte er uns, deshalb die frühe Rente.

Auf dem Überwachungsvideo war nichts zu sehen, außer der Tante, die hin- und herspazierte, den Hund fütterte oder zur Toilette ging. Trotzdem waren beide der festen Überzeugung, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis die ersten Verbrecher auf dem Bild erscheinen würden. Italien sei voller Verbrechen, die Wahrscheinlichkeit also sehr, sehr groß. Und Verbrecher lassen sich gerne filmen, fügte der Ex-Carabinieri hinzu, man müsse nur in die Politik schauen oder zur Camorra. Sei nicht Der Pate von Francis Ford Coppola sogar ein Dreiteiler? Man müsse die Kamera noch ein paar Wochen installiert lassen …

Tante, Don Vito Corleone, Dreiteiler …, ich hatte den Eindruck, dass hier mächtig was durcheinanderging. Und der einzige Verbrecher in der Runde war ja wohl Antonio, der über Wochen eine alte ängstliche Dame mit 30 Euro pro Tag abzockte.

Wir stritten. Tante hielt sich raus, aber ich warf Antonio alles Mögliche vor, er verteidigte sich vehement. Die Tante habe ihn eingestellt, was könne er da machen?

Währenddessen lief im Hintergrund das aufgenommene Videomaterial weiter. Die Tante machte ein Nickerchen, sie spielte mit dem Hund, schaute die Nachrichten.

Irritiert hörten wir auf zu streiten und schauten fasziniert zu. Ewig hatte ich keinen so schönen Film gesehen. Ruhe und Einfachheit, das pure, reine Leben. Mal kochte sie Pasta, dann gab es Fisch. An manchen Tagen schaute sie aus dem Fenster, als würde sie sich verabschieden aus diesem Jahrhundert. Sie hatte fast 100 Jahre lang die Welt gesehen. Krieg und Verwüstungen, die Mondlandung und den Mauerfall. Und die 64. Nachkriegsregierung Italiens. Wenn sie die Nachrichten hörte, wurde es laut, der Ton wurde auf die maximale Lautstärke gestellt. Ein Weilchen ging es um Attentate, Überschwemmungen, Korruption. Dann war wieder Stille. Die Nachrichten waren zu Ende, Tante hatte den Fernseher ausgeschaltet. Ein Meisterwerk.

Marcel Proust wäre glücklich, diese Langzeitstudie hatte viel von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit.

Stundenlang schauten Antonio und ich dem Leben zu. Alltag in seiner reinsten Form. Die Tante war inzwischen auf dem Stuhl eingeschlafen.

Antonio hat mir das Video geschenkt, ich habe ihm ein bisschen Geld gegeben, und am späten Abend haben wir uns verabschiedet.

Ich bin mir unsicher, ob ich das Material bei einem Filmfestival einreichen möchte. Tante aber ist sich sicher, dass wir weiter hätten filmen sollen, die Verbrecher wären sicher noch gekommen. Vielleicht machen wir das ja noch. Das gäbe einen wirklich schönen Dreiteiler.

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