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Home is where the Tod is

 

Nach 23 Jahren besuchte ich zum ersten Mal meine Heimatstadt Sarajevo. Ich fand Geschichten über Explosionen, Wunden, Hunger und Tumore. War das schön.

© Dado Ruvic/Reuters Pictures

Mich darf man alles Mögliche fragen, auch woher ich komme. Ich komme aus Sarajevo, Bosnien-Herzegowina, das Zuhause des FK Željezničar! Es gibt Menschen mit Migrationshintergrund, die diese Frage kränkt, meistens sind sie in Deutschland zur Welt gekommen und haben darum keine Antwort außer: Hamburg. Oder Rastatt, oder so. Ich bin aber erst seit meinem dreizehnten Lebensjahr hier und habe über die Jahre einen regelrechten Aufsatz über meine einstige Heimatstadt einstudiert, mit dem ich alle Fragenden für sie zu gewinnen hoffe:

Sarajevo gleicht einer Schichttorte. An den osmanischen Stadtkern schließt sich ein Ring aus Gebäuden österreichisch-ungarischer Zeit an, und nach ihnen erstrecken sich die Weiten sozialistischer Großwohnsiedlungen, Reihen von Hochhäusern, deren enorme Ausmaße selbst auf Satellitenaufnahmen der Stadt deutlich werden, wo sie Hunderte von quadratkilometergroßen, rechteckigen Schatten werfen.

Es gibt kaum Übergänge zwischen den Architekturen dieser drei Epochen, nur einige Streifen, in denen sie über wenige Meter ineinander bluten; das sieht aus wie die Achsel eines günstigen Hemds, wo die Schnittkante des Ärmels unter der Naht hinausragt. Im Gegensatz zur ehemaligen DDR, wo nach der Wiedervereinigung eine Massenflucht aus Großraumsiedlungen stattfand, kauft man in Bosnien immer noch Wohnungen in den Platten. Man tut es, um in der Nähe alternder Eltern und der Freunde, mit denen man aufgewachsen ist, bleiben zu können. Menschen in Sarajevo bleiben den Vierteln, in denen sie aufgewachsen sind, verpflichtet.

Die Plattenbauten tragen immer noch die Pockennarben der Einschüsse von Granaten und Kugeln, von Bränden; die Wohnungsinhaber haben in der Regel jene Schäden gekittet, die ihre Immobilie unmittelbar betrafen, aber Einigungen zu gesamtheitlichen Instandsetzungen der Fassaden sind selten. Die Spuren der Treffer ändern nichts an der Wirkung dieser überdimensionierten Monolithe – sie sind so groß, dass es oft schwierig ist, sie ganz im Sichtfeld zu haben. Zusätzlich sind ihre Silhouetten nicht bloß quadratisch, sondern von der Unruhe einer Vielzahl von Auskragungen bestimmt; es ist regelrechte Arbeit sie anzuschauen. Die größten von ihnen tragen Spitznamen: der Papagei, der Hundertmeter, der Gepanzerte, die Waffel. Ich bin in einem der kleineren, nur sechsstöckigen und darum namenlosen aufgewachsen.

Da komme ich also her.

***

Als der Muezzin in der Nacht das Ischa-Gebet ankündigte, war ich mit einem Kindheitsfreund zwischen den Platten unseres Viertels unterwegs. Wir hatten uns als Jugendliche verabschiedet, jetzt waren unsere Brust- und Barthaare grau. Wir hatten Krähenfüße in den Augenwinkeln, Stirnfalten, eben all die Merkmale verfrühten Alterns, die zum Dasein von Kriegsüberlebenden ebenso gehören wie paralysierende Existenzängste. Stress ist Gift, mein Gesicht bezeugt das. Wer ergraut denn bitte mit Mitte dreißig? Ist es nicht ungerecht?

Mein Freund fragte, wie Deutschland sei; ich sagte, es sei cool, meine Frau sei eine Deutsche, die meisten meiner engen Freunde seien Deutsche – bis auf einen Luxemburger eigentlich alle, vervollständigte ich.

Fragen dich die Deutschen nach Bosnien?

Klar, oft.

Was sagst du ihnen dann?

Kommt darauf an, was sie fragen.

Cool-cool, sagte er.

Jawohl, sagte ich, alles gediegen.

Ich verschwieg die Hamburger G20-Krawalle, die zu diesem Zeitpunkt stattfanden, aber sie hätten ihn ohnehin nicht beeindruckt: Jedes Stadtderby zwischen dem FK Željezničar (mein Verein) und dem FK Sarajevo (nicht mein Verein) richtet zwei Mal jährlich vergleichbares Tohuwabohu an. Ich verschwieg sie auch, weil wir über den Krieg sprachen.

Intimität setzt geteilte Erfahrungen voraus, daher fiel es mir nicht schwer, in Sarajevo anzuknüpfen, obwohl ich seit dreiundzwanzig Jahren in Deutschland lebte und meine Geburtsstadt in dieser Zeit nie besucht hatte. Der Anlass meines Besuchs war ein Literaturfestival, aber die geteilte Erfahrung waren keineswegs Romane, sondern der Krieg. Unser Krieg. Wir tauschten Geschichten über Explosionen, Wunden, Hunger und Tumore. War das schön! Im Ernst. Diese Erfahrungen haben in Deutschland niemanden interessiert (was ich von Beginn an begrüßt habe, ich wollte nicht als geschädigt gelten), sodass ich mir nun wie ein Märklin-Enthusiast auf der Fachmesse vorkam: Hier befremdete ich niemanden.

Um zwei Uhr morgens saßen wir in einer zur Wirtschaft ausgebauten Garage, eine Hochzeitsgesellschaft feierte laut in der Nähe, und der Besitzer überlegte, wann jemand aus den Hochhäusern der Nachbarschaft die Polizei rufen würde. Jugendliche auf frisierten Motocross-Maschinen donnerten über den leeren Bürgersteig. Aus der Finsternis einer zehn Meter entfernten Unterführung wehte der Wind Marihuanageruch und das leise Gurgeln einer Bong zu uns. Es war seltsam, wie wenig sich seit den Achtzigerjahren verändert hatte.

Wir sprachen über zwei Freunde, die im Krieg ums Leben gekommen waren. Wir sprachen über zwei Freunde, die nach dem Krieg durch Heroin ums Leben gekommen waren. Wir sprachen über zwei Erwachsene, die sich während des Kriegs von einem der Hochhäuser des Viertels gestürzt hatten. Wir sprachen über tote Großeltern. Wir sprachen darüber, wessen Eltern noch lebten.

***

In ihrem Kern ist Migration ein Tausch von Privilegien: Besondere Formen der Nähe, die es nur in der alten Heimat gibt, werden gegen die Bequemlichkeit und Sicherheit eines Landes wie Deutschland getauscht. Normal, wenn ihr mich fragt. Dass diese Nähe sich in meinem Fall jedoch nur über Themen des Kriegs und des Todes herstellen ließ, verdeutlichte mir, wie lange ich bereits in Deutschland lebte, wo Dialoge über den Tod anders verlaufen als in Bosnien. Meine deutschen Freunde kommen dem Tod mit protestantischen Formeln bei. Sie hoffen, dass ein Rückblick auf ein gut geführtes Leben – eines, in dem man etwas erreicht hat – sie mit dem Tod versöhnen wird, wenn es soweit ist. Bosnier glauben hingegen, dass der Tod den Höhepunkt eines fortgesetzten Skandals von Ungerechtigkeiten darstellt. Für Deutsche ist der Tod das Ende eines Videospiels, für Bosnier das Ende einer jahrzehntelangen Schlammlawine.

Dies könnte geschichtlich begründet sein, aber ich bin mir nicht sicher. Vielleicht irre ich mich auch insgesamt. Jedenfalls – wer mich fragt, woher ich komme, bekommt die Antwort, es sei der Ort mit dem interessanten Tod.

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