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Berlin, Babylondon

 

Das Verschwinden der deutschen Sprache in der Berliner Gastronomie gehört zu den luxuriöseren Problemen der Stadt. Vielleicht liegt es auch an der großen Ehrfurcht vor unserer komplexen und unergründlich funkelnden Muttersprache.

© Tim Wright/unsplash.com

Wenn man dich anderswo auf der Welt fragt, ob du Deutsch sprichst, sagst du: ja. Als du hierherkamst, hat dich niemand gefragt, was du sonst noch so sprichst. Man schien begeistert, ja buchstäblich besessen davon zu sein, Englisch mit dir zu reden. Du warst auf Partys und Abendessen, bei denen sich alle nach dir, der englischen Muttersprachlerin richteten, das hat dich anfangs gerührt, weil du dich als ziemlich weltgewandt einstufen würdest, aber niemals und nirgendwo davon gehört hattest, dass die Deutschen als ausnehmend gastfreundlich gelten. Nun, in deinem Fall waren sie es. Bis hin zur Selbstaufgabe. Oder gibt es sonst ein Land, in dem alle ihre Gespräche vereinfachen und verlangsamen, indem sie für einen Gast auf ihre Muttersprache verzichten? Dir fällt keins ein. Frankreich ganz bestimmt nicht, hahaha. Aus Frankreich kommt deine derzeitige Mitbewohnerin in deiner abwechslungsreichen AirBnB-WG in Berlin. Auch sie spricht Englisch. Sichtlich ungern, aber lieber als Deutsch.

Dein Deutschwortschatz ist in etwa so groß wie der deiner türkischen Nachbarin, auch wenn eure Vokabeln sicher aus unterschiedlichen Themenkreisen kommen. Denn während die alte Dame sich vorrangig auf ihre Familie konzentriert, stürzt du dich enthusiastisch in dein Leben als Neu-Neuköllnerin. Der Job im Restaurant sollte nur vorübergehend sein. Eigentlich spekulierst du auf einen Job im Team von Ólafur Elíasson. Der kann garantiert Deutsch, weil Skandinavier irgendwie immer alles können, aber seine Arbeitssprache wird Englisch sein. Leider braucht Ólafur dich im Moment nicht, weshalb du in der Zwischenzeit an einem Bildungsroman schreibst. Den Titel hast du schon: Götterschaden. Ein deutsches Wort, das du aus Götterdämmerung und Schadenfreude zusammenmontiert hast, deinen beiden Lieblingswörtern.

Überhaupt ist der Vorwurf, du würdest dich nicht für Deutsch interessieren, total unfair. Du magst Deutsch. Du liebst es, deutsche Wörter in deine Sätze einzuflechten. Das sollte die eigentliche Bestimmung dieser Sprache sein: Dekoration.

Fünf achtzisch!

So angewendet kommt sie fast so gelehrt und elitär daher wie Latein oder Sanskrit. Im Alltag ist sie leider so gut wie unbrauchbar, schon aufgrund ihrer unzumutbaren Grammatik und ihres nicht allzu anziehenden Klangs. Deine Freunde aus aller Welt sind in diesem Punkt einhellig deiner Meinung. Deine Deutschquellen waren Nietzsche, Wagner, ein Kurs am Goethe-Institut und die DVD-Sammelboxen deines Vaters über den Blitzkrieg. Ebenfalls ein sensationelles Wort, das die Deutschen jedoch so gut wie nie verwenden. Genauso wenig wie die anderen großartigen Begriffe, mit denen du hier fest gerechnet hast. Wanderlust zum Beispiel, oder Fahrvergnügen. Aber nein. Stattdessen sagen die Leute dauernd Ach so! und Tschuldigung. Mal ehrlich: Sind derart dumpfe Laute exportfähig? Eher nicht. Und auch der ständige Hinweis der Deutschen, ihnen falle Englisch so leicht und demzufolge dir auch Deutsch, weil unsere Sprachen ja verwandt miteinander seien, hilft dir nicht wirklich weiter.

Die einzigen Leute hier, die Deutsch mit dir sprechen, sind der Inhaber deines Lieblingsspätkaufs, der dir praktisch im Alleingang die Zahlen beigebracht hat – fünf achtzisch, drei siebzisch, sechs neunzisch – danke, Herr Yildiz. Und dann wäre da noch dein Hausmeister, der statt Englisch einfach laut mit dir redet. „Montach nach acht?“, brüllte er letztens mehrmals ins Telefon, als dein Bad unter Wasser stand – und wieder einmal konntest du keinerlei Verwandtschaft mit dem Englischen erkennen. Hätte man dich gefragt, welcher Sprachfamilie du dieses Geschrei zuordnen würdest, du hättest auf Arabisch getippt.

Und dennoch bist du ernsthaft bereit, endlich Deutsch zu lernen. Die Barrieren, die sich dir bisher in den Weg stellten, trafen dich genauso unerwartet wie die unverhoffte Gastfreundschaft der Deutschen.

Du hättest einfach Gastrosprech lernen müssen

Deine Bemühungen, deine Kenntnisse mithilfe eines Muttersprachlers auszubauen, scheiterten am Muttersprachler, der, wie alle Männer deines Alters, immer wieder ins Englische verfiel, und mit dem du schließlich im Bett landetest, was erst zum Erlahmen eures Sprachkurses und schließlich zum Abbruch eures Kontakts führte. Deine Bemühungen, deutsches Fernsehen zu schauen, scheiterten am deutschen Fernsehen. Deine Bemühungen, deutsche Zeitungen zu lesen, scheiterten an deiner Aufmerksamkeitsspanne, die nicht einmal für englische Zeitungen ausreicht. Stichwort Zeitungen: Schon letztes Jahr stand ein Artikel über Leute wie dich in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, hast du gehört, denn selbstredend liest du diese Zeitung nicht, deren Name jedoch dein Problem ganz gut illustriert: sperriges, sperriges Deutsch.

Und dieses Jahr schrieb sogar der Guardian über die deutschfreien Zonen in Berlin. Cool, dachtest du, und hattest das Gefühl, Teil einer Bewegung zu sein. Vergleichbar mit Grunge oder Ghosting oder so. Doch dann äußerte sich ein deutscher Politiker zu dieser Entwicklung, und zwar, so hast du dir sagen lassen, eher ärgerlich, und schließlich griff das Phänomen direkt in dein Leben ein – leider auf unerfreuliche Weise. Dein Boss im Restaurant, ein Australier, dessen Deutsch auch nicht wirklich Thomas-Mann-like ist, hat dich gefeuert. Sein Personal sollte nach Möglichkeit international sein, sagte der Aussie, und stellte eine polyglotte Belgierin ein. Das war das Unfairste, was dir bisher in Berlin passiert ist.

Doch dein Beschluss, dich umgehend auf der anderen Seite des Kanals, in Kreuzberg, nach einem neuen Job umzuschauen und dich nebenher gnadenlos zu betrinken, brachte die sofortige Lösung. Den ganzen Abend hingst du an diversen Tresen herum und beobachtetest deine Kollegen bei der Arbeit. Vitello Tonnato, Sashimi Moriawase, Moules Frittes, Moscow Mule, die Achtzehn und die Hundertsiebenundreißig bitte, wo sind die Toiletten, nehmt ihr Mastercard? Ja, ja, nein, ja, danke, ciao.

Du fühltest dich, als hätte dir endlich jemand deinen zu langen Pony aus dem Gesicht geblasen. Vergiss Nietzsche. Spar dir schöne deutsche Worte wie Allumwandlung. Fuck you Goethe-Institut. Die Lösung lag die ganze Zeit vor deinen Augen. Du hättest einfach Gastrosprech lernen müssen. Man muss es nicht einmal sprechen, man muss es nur verstehen und zu neunundneunzig Prozent steht es sogar in der Karte!

Doch du bist geheilt von der Gastronomie. Siehe: Kunstkarriere. Siehe: Bildungsroman. Stattdessen hast du, du blitzgescheites britisches Fräuleinwunder, eine neue Geschäftsidee: Du entwickelst eine Übersetzungs-App für nichtdeutschsprachige Kellner in Deutschland. Kaffee, Tee, Cappuccino, Bier, Campari Soda? Nie wieder muss eine junge Frau diese Fragen mit einem hysterischen English, please! beantworten müssen, so wie du noch bis vor Kurzem. Deine App wird jede Sprachbarriere einreißen, wie damals die Berliner Mauer. Du bist praktisch Millionärin.