Hamburg, das bedeutet: Alster, Hafen, Strandperle. Das ist große Liebe und Schicksal zugleich. Aber was, wenn man wegziehen muss? Und das ausgerechnet nach Osnabrück?
Mein Geburtsdorf ist meine erste große, kindliche Liebe. Meine erste große erwachsene Liebe aber ist Hamburg. Mehr noch, Hamburg ist mein Schicksal. Unabhängig davon ist Hamburg eine wirklich unglaublich schöne Stadt. Auch wenn sie Gefahr läuft, zu einem einzigen großen Business Improvement District zu verkommen. Auch wenn man nur noch selten hört, wie einer übern s’pitzen S’tein s’tolpert. Auch wenn man sie sich als Heimatstadt kaum noch leisten kann. Wer als Normalverdiener einmal raus ist aus zum Beispiel Eimsbüttel, kommt nie wieder rein. Man möchte, mit Verlaub, Labskaus kotzen.
Nichtsdestoweniger bleibt Hamburg eine sagenhaft schöne Stadt. Wird wohl an den viel zitierten Attributen liegen, viel Hafen, viel Grün, viel Alster etc. pp. An diesen unvergleichlichen Blickachsen, die sich auftun, wenn man kreuz über die ein oder andere Straße und quer durch die Lücke im ein oder anderen Häuserblock plötzlich diese ätherische Luftigkeit erahnt, wie sie sich über dem ein oder anderen Kanal … ach, kurzum: Ich vermisse Hamburg. Sehr.
Nach vierzig Jahren bin ich unlängst – aus guten Gründen, die hier nichts zur Sache tun – weggezogen. (Vorübergehend; sonst hätte ich’s nicht getan.) Nun bin ich wieder Niedersachse. Ich lebe in einer bezahlbaren Wohnung innerhalb einer ehemaligen Zigarrenfabrik mit runtergerocktem Wabi-Sabi-Charme, idyllischem Innenhof und Parkplatz in zwei Metern Entfernung, in der ich mich sehr wohl fühle. Bloß, sobald ich vor die Wohnungstür trete, ist da eben Osnabrück.
Nichts gegen Osnabrück. (Sportlich schon mal gar nicht. Nachdem bereits das benachbarte Lotte mit seinem VfL Sportfreunde Lotte unlängst spektakuläre Siege gegen Bundesligavereine wie Werder Bremen und Bayer 04 Leverkusen eingefahren hatte, schlug neulich Drittligist VfL Osnabrück Erstligist Hamburger SV. Und zwar nicht 1:0 oder 2:1, sondern 3:1. Und zwar in Unterzahl. Und zwar über siebzig Minuten lang.) Nein, nichts gegen Osnabrück, aber selbst wenn man vierzig Jahre lang bloß tot über einem Hamburger Zaun gehangen hätte, fiele es einem nicht leicht, Osnabrück mit offenen Armen zu empfangen.
Umgekehrt tut das aber durchaus Osnabrück.
Na gut, in nächster Nähe einen Gemüsetürken zu finden, wie es ihn in Hamburg an jeder Straßenecke gibt – vergiss es. Musst du eben in einen anderen Stadtteil fahren oder bis Samstag warten, wenn Altstadt-Markt ist. Da kriegst du dann aber fast alles fast so schön wie auf’m Isemarkt (um es ein drittes Mal zu sagen: fast). Und wenn du dann mit überraschend schrill quietschenden Fahrradbremsen ein Pärchen in mittlerem Alter von hinten erschreckst, fährt es zwar zusammen, wie es sich gehört, lacht sich aber umgehend eins und bleibt überaus freundlich.
Überhaupt sind die Leute hier einfach noch Leute – freundliche Leute. Als zehrten sie immer noch von dem fünfzehn Jahre alten Umfrageergebnis, demzufolge die glücklichsten Deutschen in Osnabrück leben. Die Bedienung in der Bäckereifiliale am Altstadt-Bahnhof rennt einem sogar bis auf den Bahnsteig eine Treppe höher nach, wenn man seinen Kaffee mitzunehmen vergessen hat.
Apropos einkaufen: Wer nicht vollkommen stumpf oder gesund ist, wird den Teufel tun und am Freitag Nachmittag gegen fünf einen Eimsbütteler Supermarkt betreten. Ich jedenfalls hatte es mir schon vor rund fünfundzwanzig Jahren abgewöhnt. In Osnabrück flöte ich währenddessen sogar ein Liedchen.
Einigermaßen einmalig dürfte auch der Plan von Lennart Neuffer sein, seine Buchhandlung am 31. August des Jahres für einen ganzen Geschäftstag der Kundschaft zu überlassen. Dann nahm die komplette Belegschaft im hannoverschen Schloss Herrenhausen nämlich den „Deutschen Buchhandlungspreis“ entgegen, und zwar das dritte Jahr in Folge. Ich warnte ihn: „Bücherkunden sind nicht sonderlich vertrauenswürdig!“ „Ach, die Klau-mich-Zeiten sind doch längst vorbei, es gibt ja kaum noch Linke …“ „Ja, aber Büchermenschen sind Suchtmenschen!“ Neuffer jedoch blieb gelassen.
Keine Ahnung, warum ich so auf dem Thema Einkaufen herumreite – aber in dem Zusammenhang darf nicht unerwähnt bleiben der so genannte Westfalentag. (Im hiesigen Sprachgebrauch: „Vandalentag“). Jedes Jahr an Fronleichnam überfallen die Nachbarn aus NRW die niedersächsische Großstadt, die jenes Feiertags entbehrt. (O ja: Mit 156.897 Einwohnern – äh, 156.898 – nimmt Osnabrück locker die Hürde von 100.000, die eine Großstadt mindestens aufweisen muss, um sich Großstadt nennen zu dürfen.) Dann sollte man, so man nicht stumpf oder gesund ist (oder eben die Nachbarn aus NRW von Berufs wegen bedienen muss), besser zu Hause bleiben.
Gut, die Katholizitätsdichte in Osnabrück ist klaustrisch. Dieses ohrenbetäubende und nervenzerdengelnde Gebammel zu jeder möglichen und vor allem unmöglichen Tageszeit … Sonntagmorgens um acht eine Viertelstunde lang! Unverfrorenheit sondergleichen. Andererseits bekommt man – wie meine Lebensgefährtin – allen Ernstes Antwort, wenn man den Klerus ganz gerade heraus fragt, warum zum Teufel das eigentlich sein muss. In Person eines Pressesprechers des Bistums Osnabrück mit dem schönen Namen Hermann Haarmann nämlich: „… wie versprochen, melde ich mich noch mal, weil ich das Thema inzwischen auf einer Konferenz der Bistumsleitung thematisiert habe. Dabei gab es durchaus Verständnis dafür, dass es Menschen gibt, die sich durch ein Glockengeläut (vor allem nachts und am frühen Morgen) gestört fühlen, insbesondere dann, wenn sie in der Nähe einer Kirche wohnen. Da muss man im Einzelfall sehen, was machbar ist. Denkbar ist zum Beispiel, den viertelstündigen Glockenschlag einzuschränken (oder in einem bestimmten Zeitfenster ganz darauf zu verzichten) oder die Dauer des Geläutes zum Gottesdienst zu verkürzen. Einen gänzlichen Verzicht auf ein Geläut wird es wohl nicht geben. Am Osnabrücker Dom dauert das reguläre Geläut zum Gottesdienst übrigens in der Regel 5 bis 7 Minuten, habe ich erfahren. Bei anderen Kirchen sind es z.T. 15 Minuten.“ Na also! Bzw. eben nicht … aber immerhin!
Und überhaupt: ein Snob, wer nicht in einer „Friedensstadt“ leben möchte, die sich zwar aus Vierteln mit Namen wie Fledder und Wüste zusammensetzt, aber eben auch wie Sonnenhügel (meiner); deren Bevölkerung ganz offensichtlich überwiegend aus netten, unprätentiösen Normalos besteht (Hipster-Anteil gefühlt im Promille-Bereich); die ein Rennen von Quietscheentchen auf dem stadteigenen Flüsschen veranstaltet, dessen Name Hase ist; die ihre jährliche Remmidemmi-„Maiwoche“ dieses Jahr mit dem „lustigen Treffen von Kuschelplüschis krönt(e)“ (Zitat Osnabrücker Nachrichten, Anzeigenblatt), darunter very important Plüschis wie Paffi, Zappeltier, Bummelfee, Kirschmonster sowie Blütenbert aus Bad Essen; die mit Erich Maria Remarque und Felix Nussbaum und der zum Zitatenschatz jeder Presseschau, die was auf sich hält, zählenden Neuen Osnabrücker Zeitung aufwarten kann, mit dem EMAF (European Media Art Festival) und dem umtriebigen Veranstaltungszentrum „Lagerhalle“ u.v.a.m. – sowie nicht zuletzt mit einer Presseabteilung der Polizei, wie man sie sich selbst als Anarcho gefallen lassen dürfte:
Um die Jahreswende ging der Fall jenes Parkverstoßes vor den Schranken der Polizeidienststelle in der Osnabrücker Augustenburger Straße bundesweit durch die Medien. Auf Facebook fahndete man nach einem flüchtigen Verkehrsteilnehmer, der ein rotes Bobbycar ordnungswidrig abgestellt hatte. Etliche Tage später vermeldete die Pressestelle, er sei gefunden worden: „Offenbar war der dreijährige Jim dem immensen Fahndungsdruck nicht mehr gewachsen.“ Als Verwarnung gab es eine Tafel Schokolade und ein Malbuch.
Gut, zugegebenermaßen verspüre ich manchmal eine selbsthassenswerte, dekadente Sehnsucht nach dem Anblick von Jorge González oder Sylvie Meis, wie sie inkognito durch Eppendorf streunen. Dann mache ich zur Buße einen kleinen Spaziergang, indem ich ums Eck eine wunderschöne Allee von uralten Platanen aufwärts steige und den Bürgerpark besuche, der botanisch und in puncto Kontemplationskompetenz durchaus mit dem ein oder anderen hamburgischen Park mithalten kann. Und wenn ich den Anblick von einem der riesigen Pötte vermisse, die an der Strandperle in Oevelgönne vorbeigeschleppt werden, mache ich rasch einen Abstecher zur Angers-Brücke, die vom Erich-Maria-Remarque-Ring in die Innenstadt leitet, lehne mich aufs Geländer und schaue mir den zusehends versandenden Kaffeepott an, den ein Unbekannter in die dahinplätschernde Hase geworfen hat, übe mich in Osnabrücker Bescheidenheit und träume vom Tag der dickhosigen Rückkehr.
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