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Wenn Bäume Manga-Augen hätten

 

Das Leben der einen bedroht das Leben der anderen. Die Welt wäre eine bessere, wenn wir mehr von „Bambi“ und „Prinzessin Mononoke“ lernen würden.

Animes: Wenn Bäume Manga-Augen hätten
Eine Szene aus „Bambi“ von 1942 (© Wikimedia Commons)

Im April 2001 ging ich mit meinen Eltern ins Kino. Ich war zwölf und ein großer Manga- und Anime-Fan. An der Volkshochschule nahm ich damals Japanisch-Unterricht und mit den anderen dort Japanisch lernenden Manga- und Anime-Fans schickte ich mir Zeichnungen unserer Lieblingscharaktere via Fax hin und her. Der Zusammenhalt, der zwischen den Schutzsuchenden von Comics am Raschplatz oder Orten wie dem Fantasy-In herrschte, überwand interessanterweise diverse soziale und ökonomische Gräben zwischen jungen Menschen. Zumindest war das in meiner Erfahrung so. Also auch beim Magic-Kartenspielen oder in Warhammer-Zusammenhängen. Ein Hoch also – natürlich – auf alle Freaks und Geeks. Dieser Text handelt aber vorwiegend von zwei Hirschen.

Auch mein Bruder kam mit ins Kino, doch er und meine Eltern wollten, soweit ich mich erinnern kann, Gladiator von Ridley Scott schauen, während ich einer Vorstellung des von mir lang ersehnten Hayao-Miyazaki-Streifens Prinzessin Mononoke entgegenfieberte. Dass dieser Film im Cinemaxx lief, war für mich eine Sensation. Denn normalerweise musste ich entweder teure VHS-Kassetten kaufen oder spätnächtliche Sendungen auf Vox aufnehmen, um überhaupt an Animes zu gelangen. Nur wenn alle zusammenhielten, war es möglich, sämtliche Folgen von Record of Lodoss War oder Neon Genesis Evangelion zu schauen.

Nach dem Film war ich komplett aus dem Häuschen. Es war einer der tollsten Kinomomente überhaupt. Mit solch einer Freude und solch einem Vergnügen habe ich das Geschehen verfolgt, dass ich meinen Eltern und meinem Bruder auf der Heimfahrt von Hannover nach Barsinghausen die 133 Minuten Paradies, derer ich gerade beigewohnt hatte, en détail nacherzählte: Es gibt also diesen Prinzen Ashitaka, und der wird von einem Waldgott, der zu einem Dämon geworden ist, mit so einer Seuche infiziert, und dann macht er sich mit seinem Reittier Yakul auf die Suche nach dem Obergott des Waldes, der so eine Art Hirsch mit menschlichem Gesicht ist, denn der kann ihn heilen, aber dann trifft er auf diese Frau, der ein Eisenwerk gehört, denn genau, dieser Waldgott, also der erste, der wurde zu einem Dämon, weil eine Gewehrkugel in seiner Flanke steckte, aber diese Frau mit dem Eisenwerk ist eigentlich voll lieb und Ashitaka versteht sich gut mit allen dort, doch dann trifft er San, also Prinzessin Mononoke, die wurde von so Wolfswaldgöttern mit drei Schwänzen aufgezogen und will die Frau mit dem Eisenwerk töten, und dann stirbt Ashitaka fast und dann trifft er den Obergott des Waldes, doch der heilt nur seine Wunden und nicht den Fluch, also er wurde auch von nem Gewehr getroffen, und dann sind da all diese Wildschweine, die wie so eine Armee sind, und die greifen die Frau mit dem Eisenwerk an, und außerdem macht der Shogun Jagd auf den Obergott des Waldes, denn er will die Unsterblichkeit und außerdem will er das Eisenwerk übernehmen und dann gibt es einen kolossalen Kampf und Pfeile und Ashitakas Arm zittert, als wäre er voller Würmer, und dann schießt er diesem Typen die Arme ab und Mononoke schaut ihn an und spuckt das Blut ihrer Mutter in den Fluss und es macht KLING, weil so machen ihre Ohrringe … Ehrlich gesagt hat meine Begeisterung bis heute nicht nachgelassen. 2001 von 2001 Sternen.

Währenddessen im Jahr 1942: In Europa und an seinen Rändern wütet der Weltkrieg und in die US-amerikanischen Kinos kommt David Hands Meisterwerk Bambi. Diese Buchadaption war und ist – trotz seiner diffus süßlichen Rezeption – sowohl ästhetisch wie erzählerisch absolut krass. Im Zentrum steht ein tollpatschiger Weißwedelhirsch, dem wir 62 Minuten lang beim Erwachsenwerden zuschauen (und der übrigens kein Reh ist – mit Grüßen an die Deutsche Wildtier Stiftung). Er ist der eigentümlichste mir bekannte Disney-Held. Den Großteil des Films ist er unsicher, schwach, mutterfixiert und ein tapsiger Mitläufer – jedoch absolut sympathisch. Dann stirbt seine Ma und sein Vater nimmt sich seiner an. Die mütterliche Welt kippt in die väterliche Welt. Verantwortung, Balz und Kampf beginnen. Bambi wachsen Hörner. Menschen machen alles kaputt, Menschen verschwinden wieder. Er wie alle seine Freunde von früher verliebt sich und bekommt Kinder. Doch er wie alle Väter all seiner Freunde kümmert sich nicht um den Nachwuchs, sondern um anderen Überlebenskram. Es ist Frühling, der ewige Kreislauf der (sogenannten) Natur (schwieriger Begriff) beginnt von vorne.

Ein märchenhafter Monokausalforst

Bambi ist weniger eine Geschichte als eine Meditation über das Leben im Freien, die Gezeiten und ersten Konfrontationen mit den Beschaffenheiten der Welt. Der Mensch fungiert hier als Faktor, den es zu überwinden gilt, lediglich als Ursache von Schrecken. Er ist der nie gezeigte Antagonist aller Bewohner des Waldes. „It is men„, sagt Bambis Vater an einer Stelle (wobei die spezifische Gefahr von Jägern ausgeht). Auf der Suche nach so etwas wie einer Moral oder einer Botschaft findet man in diesem märchenhaften Monokausalforst eher blanke Antimenschenpropaganda als seichte Beschützt-die-Wälder-Romantik. Denn als Zuschauender will man ja, dass Bambi und seine Freunde weiter ihre zärtlichen Leben fortführen können, und man will nicht, dass ihre Mütter erschossen werden, und man will nicht, dass alles in Flammen steht. Aber so ist es halt, wenn im Zeltlager der Jäger die Feuerstelle vergessen wird. So ist das Leben mit der verfluchten Menschheit halt. Wie entsetzlich beispielsweise die Angst des Fasans vor den Schüssen ist, die über die Weide hallen, hat Otto-Dix’sche Ausmaße. Und die anderen Fasane flehen ihn an, dass er um Gottes willen nicht fliegen soll, doch die Panik übermannt ihn völlig und er fliegt los und wird erschossen. Doch woher die Schüsse stammen, wissen wir nicht, es ist kein grober Jäger Elmer Fudd wie bei Bugs Bunny (oder zumindest wird er oder sie nicht gezeigt). Es gibt keine Erlösung durch Abscheu. Wer da mordet, könnte jeder sein.

Der stumme, aber herzige, bambi-große-Augen-treue Begleiter des Prinzen Ashitaka ist ein Rothirsch und es ist bekannt, dass David Hands Film einen nennbaren Einfluss auf die japanische Manga-Kunst hatte. Nur ist die Welt, in der sich das Tier beweisen muss, ungleich komplizierter. In der ersten Szene lernen wir Yakul kennen, wie er im Anblick des zum wabbeligen Dämon gewordenen Waldgotts vor Angst erstarrt. „Yakul, lauf!“, ruft Ashitaka seinem Begleiter zu, doch erst nachdem er ihm einen Warnpfeil vor den Muffel jagt, kann der sich aus dem Schock lösen. Der Feind des Tieres ist hier nicht der Mensch, sondern das, was aus ihm wird, wenn er mit dem Menschen in Kontakt kommt, sagen wir: eine radikalisierte Wildnis.

Ashitaka wird der Tod prophezeit. „Mit ungetrübten Blick“, gibt man ihm mit auf den Weg, soll er herausbekommen, was diesen Gott in ein Monster verwandelte. Und genau diese Weisung ist es, die den Film besonders macht, denn mit der Zeit weist sich, dass wir uns in keiner gemütlich aufzulösenden Erzählung aus Protagonismen und Antagonismen befinden, sondern in einer hochkomplexen Struktur aus Interessen und Stolz. Die Kugel des Gewehrs, die den Waldgott radikalisierte, stammte aus einem utopisch feministischen, Ausgeschlossene inkludierenden Eisenwerk, deren Bewohner versuchen, sich gegen die Herrschaft der Shogune zu behaupten. Alle Figuren haben nachvollziehbare, sich widersprechende und nicht miteinander vereinbare Probleme. Man wünscht sich bisweilen die alles verstehenden Stimmen von Alexander Kluge, Adam Curtis oder Werner Herzog, um die verschiedenen Positionen zu erläutern.

Es ist heilsam, naiv zu sein

Doch der Film bietet etwas vielleicht viel Schöneres als grauhaarige Schlaumeisterei, denn wer uns hilft, das Geschehen zu entschlüsseln, ist der grenzenlos empathische (wenn auch ab und an mordende) Ashitaka. Jemand, der versucht, für jeden Verständnis aufzubringen und seine eigenen Gelüste (eine Liebesbeziehung zur Wolfsprinzessin Mononoke aufzubauen) und Probleme (der nahende Tod) dafür zurückstellt. Sein Blick soll ungetrübt sein und diese Weisung versagt ihm jegliche Form der Agenda oder Voreingenommenheit. Seine naive Frage, ob die Bewohner des Eisenwerks und des Waldes nicht in Frieden zusammenleben können, wird regelrecht ignoriert, denn allen Beteiligten ist klar, dass dem nicht der Fall ist. Industrie, Monarchie und Natur kämpfen gegeneinander und ohne Gnade. „Die Welt ist verflucht und trotzdem will man leben“, sagt ihm einer der Entstellten, der im Eisenwerk arbeitet. An diesem Widerspruch verzweifeln die Figuren. Denn das Leben der einen bedroht das Leben der anderen. Und Empathie macht Entscheidungen unmöglich. Den Hasenjäger Elmer Fudd zu verachten, ist einfach, und selbst bei Bambi können wir unseren Widerwillen noch auf einen unbestimmten Feind projizieren. Doch konfrontiert uns Prinzessin Mononoke mit einer viel schlimmeren Realität: Was, wenn alle irgendwie recht haben? Es ist heilsam, naiv zu sein, aber es gehört auch einiges Glück dazu. Und Glück ist ungleich verteilt.

In der frustrierendsten Szene des Films sehen wir Ashitaka und Yakul irgendwo im finalen Kampfgeschehen und dann folgt eine Einstellung, die einen Soldaten des Shoguns zeigt, der einen Pfeil in die Luft schießt. Und – Tschechow-ick-hör-dir-trapsen – was passiert mit einem Pfeil, der die gesamte Aufmerksamkeit einer Szene genießt und in die Luft geschossen wird? Er trifft. Und es ist ganz egal, wie sehr Yakul und Ashitaka sich drehen und wenden und wie weit sie reiten, ja, es ist beinahe zynisch, denn kaum eine Minute später saust der Pfeil vom Himmel gen Erde und bohrt sich in Yakuls Hüfte. Hier endet das Glück des Gefährten, denn neben allem anderen ist er auch Teil einer Erzählung, die auf ein dramatisches Ende zuläuft, und dieser größten aller Gefahren ist er schutzlos ausgesetzt. Was Tiere immer sind.

Es wäre zwar schön, wenn es ein paar Filme oder Kurzgeschichten nicht über, sondern von Hirschen gäbe, die versuchen, das Leben der Menschen zu beschreiben, aber leider gibt es sie nicht. Vielleicht wäre das eine Art von Kunst, auf die sich die gesamte Menschheit einigen könnte, und dann würden die Vertreter der Vereinten Nationen auf der Weltklimakonferenz oder im Comics am Raschplatz abhängen und sich über das neue Album von dieser Band aus Birken und Erlen unterhalten, die gerade Popmusik neu erfindet. Da wäre es plötzlich undenkbar, die Bäume halbherzig zu zerflexen. Der Schutz der Umwelt als Hobby (nicht als Pflicht) aller in ihr Lebenden, das wäre doch eine Idee.

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