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Es geht nicht ums Hinterntätscheln

 

Immerhin: Über den Sexismus im Kulturbetrieb wird jetzt gesprochen. Aber es bleibt schwierig, strukturelle Veränderungen zu erreichen. Fünf Plädoyers zu einer Debatte.

© rawpixel.com / unsplash.com (https://unsplash.com/@rawpixel)

Künstlerinnen verdienen deutlich weniger als Künstler, Führungsfunktionen sind vor allem von Männern besetzt, Frauen partizipieren weniger an der individuellen Künstlerinnen- und Künstlerförderung als Männer, obwohl mehr Studentinnen als Studenten künstlerische Disziplinen studieren: Das sind die ernüchternden Ergebnisse der Studie zu Frauen in Kultur und Medien, auf Basis derer die Kulturstaatsministerin Monika Grütters einen Runden Tisch einberuft, der Forderungen an Politik, Verbände und Wirtschaft erarbeitet. Unterdessen eröffnet auf dem Blog des Merkur-Magazins ein Dossier, das sich mit Sexismus an Hochschulen auseinandersetzt. Binnen weniger Wochen erscheinen 29 Texte, die das, was Grütters Studie in Zahlen beschreibt, mit Berichten aus der eigenen Erfahrungswelt bebildern.

Es ist Sommer 2017, und an den Küchentischen des Kulturbetriebs ist in Geschlechterfragen der Teufel los, auch an meinem. Der Sexismus der Gegenwart, über den wir sprechen, äußert sich weniger in Hintern tätschelnder Altherrenmanier als vielmehr in strukturellen Ungleichheiten, und entsprechend würden wir gerne über strukturell wirksame Maßnahmen nachdenken. Zunächst haben wir am Küchentisch allerdings ganz andere Schwierigkeiten. Zwischenstand einer Debatte in fünf problematischen Denkfiguren und ebensovielen Plädoyers.

1. Während wir am Küchentisch versuchen, unsere feministischen Positionen in Worte zu fassen, sagt der Nachrichtensprecher im Radio, dass in der Antarktis ein Eisberg in der siebenfachen Größe Berlins abgebrochen sei. Er treibe Richtung Norden und werde in zwei bis drei Jahren abgeschmolzen sein. Wir sagen: Oh, und führen unser Gespräch weiter. Bis jemand sagt: Wen interessieren hier drinnen Geschlechterfragen, wenn da draußen die Welt schmilzt?

Diese rhetorische Figur nennt sich Whataboutism und besteht in dem Versuch, durch den Hinweis auf vermeintlich Wichtigeres einem Thema die Relevanz abzusprechen. Mich hat der Eisberg auch tagelang beschäftigt, besonders der Größenvergleich: Ist es nicht merkwürdig, etwas strukturell so vertikales wie einen Berg mit etwas strukturell so horizontalem wie Berlin zu vergleichen? Aber der Eisberg tut in der Sexismusdebatte nichts zur Sache. Ich wünschte, es wäre anders, aber die Welt hält mehr als ein Problem bereit, das es zu diskutieren gilt.

Erstes Plädoyer: Spielen wir kein Problem gegen ein anderes aus. Halten wir die Gleichzeitigkeit aus.

2. Aus der Beobachtung von ausschließlich weißen Schwänen schließen wir, dass es nur weiße Schwäne gibt. An meinem Küchentisch kennt jemand eine Frau, die viel erfolgreicher ist als ihre männlichen Kollegen. Wir machen uns eine Vorstellung von der Welt anhand der Einfachheit, mit der uns Beispiele einfallen. Aber natürlich kommt etwas nicht deshalb häufiger oder seltener vor, weil unsere spezifische Erfahrungswelt das suggeriert. Die Kognitionspsychologie nennt dieses Phänomen den Verfügbarkeitsfehler.

Zweites Plädoyer: Nur weil wir eine Erfahrung nicht gemacht haben und auch niemanden kennen, der diese Erfahrung gemacht hat, und nur weil wir eine gegenteilige Erfahrung gemacht haben oder jemanden kennen, der eine gegenteilige Erfahrung gemacht hat, heißt das niemals, dass diese Erfahrung nicht zu Hauf gemacht wird.

3. Es gibt zwei Möglichkeiten, mit dem Verfügbarkeitsfehler umzugehen. Entweder denkt man gesellschaftliche Phänomene nicht mehr in Beispielen, sondern in soziologisch sauber erarbeiteten Fakten und Zahlen, oder man eignet sich andere Beispiele an als die, die man schon zur Verfügung hat, beispielsweise in Form von unterschiedlichen Erfahrungsberichten. An dieser Stelle bilden sich am Küchentisch zwei Fraktionen: Den Schwächen der einen Methode (Unvorstellbarkeit, fehlende Anknüpfungsmöglichkeit an die eigene Gegenwart) werden die Schwächen der anderen Methode (Subjektivität, fehlende Aussagekraft) entgegengehalten. Das Gespräch darüber, wie die Debatte geführt wird, ersetzt die Debatte. Als müssten wir entscheiden, ob ein Berg eher etwas vertikales oder eher etwas horizontales ist – er ist sehr offensichtlich beides.

Drittes Plädoyer: Wir dürfen und wir sollen uns ein Bild zusammensetzen, in dem Statistik und Beispiel zwei Dimensionen desselben Gegenstands sind.

4. Jemand sagt, die Sexismusdebatte diene den Beteiligten auch dazu, sich eine Identität als Opfer der herrschenden Verhältnisse zu konstruieren, was eine bequeme Position sei, aus der heraus man jemand oder etwas anderem als sich selbst Schuld zusprechen könne. Es ist, in diesem Fall, ein Mann. Jemand entgegnet, die Sexismusdebatte diene im Gegenteil dazu, sich eine Identität als Täter zu verschaffen, indem eigenes sexistisches Denken und Handeln offengelegt würde, ein Akt, der gleichzeitig Entschuldigung und Ermächtigung sei, weil es sich viel bequemer auf Seite der Täter, auf Seite der Mächtigen lebe. Es ist, in diesem Fall, eine Frau.

Ich würde an dieser Stelle doch ganz gerne über den Eisberg reden, denn ich weiß wirklich nicht, wem ich zustimmen soll. Ich bin allen Dualitäten gegenüber skeptisch, und auch gegenüber dieser Skepsis bin ich skeptisch, denn es liegt im Bereich des Möglichen, dass sie mir als Vorwand dient, um keine eindeutige Position beziehen zu müssen. Ich tröste mich mit einem Satz von Virginia Woolf: „Eine Art Hochzeit der Gegensätze muß vollzogen werden.“ Und darum sage ich: Die Täter-Opfer-Dualität aufrechtzuerhalten, reproduziert genau jenes Missverhältnis, das die einen als Agierende und die anderen als Reagierende begreift.

Viertes Plädoyer: Betrachten wir uns nicht als Angegriffene und nicht als Anklagende, sondern als Angegriffene und Anklagende zugleich. Betrachten wir uns als Teil von sozialen, ökonomischen und sprachlichen Strukturen, die von allen Beteiligten hergestellt wurden und von allen Beteiligten gleichermaßen verändert werden können.

5. Am Küchentisch wird eine kleine Umfrage gemacht, das Ergebnis ist erstaunlich: Alle Frauen haben sich schon mal gefragt, ob dieser Erfolg oder jener Misserfolg etwas mit ihrem Frausein zu tun haben könnte, aber keiner der Männer hat sich schon mal gefragt, ob dieser Erfolg oder jener Misserfolg etwas mit seinem Mannsein zu tun haben könnte. Mich wundert das, schließlich schreien die strukturellen Gegebenheiten (beispielsweise ein Gender Pay Gap von 24 Prozent im Kulturbetrieb) danach, sich als Mann zu fragen: Ist tatsächlich meine Arbeit gut oder habe ich den Penisvorteil? Aber die Selbstzweifel bleiben auf Seiten der Frauen. Die Umfrage geht weiter: Hat sich jemand schon mal gefragt, ob dieser Erfolg oder jener Misserfolg etwas mit der eigenen sozioökonomischen Herkunft zu tun haben könnte? Das Ergebnis ist dasselbe: Denjenigen am Küchentisch, die aus finanziell prekären oder migrantischen oder sogenannten „bildungsarmen“ Verhältnissen kommen, ist die Frage vertraut, allen anderen nicht.

Es mag hier durchaus das am Werk sein, was die Sozialpsychologie eine selbstwertdienliche Verzerrung nennt. Sie beschreibt die menschliche Neigung, Erfolge den eigenen Fähigkeiten, Misserfolge hingegen dem Zufall oder den Verhältnissen zuzuschreiben. Manche am Küchentisch können aus ihrem Geschlecht oder ihrer sozioökonomischen Herkunft eine plausible Erklärung für Misserfolge ziehen, andere nicht. Das entkräftet nicht die Tatsache struktureller Benachteiligungen, es zeigt nur, dass wir die Gründe für unsere Erfolge nicht gerne infrage stellen. Diesem Erklärungsmuster widerspricht allerdings, dass sich für diejenigen, die eine Benachteiligungsnarration entwickeln können, auch ein quälendes Fragezeichen hinter ihre Erfolge setzt: Habe ich diesen Auftrag oder jene Einladung nur bekommen, weil noch eine Frau für die Quote gebraucht wurde? Weil jemand mit Migrationshintergrund nicht auf dem Podium fehlen durfte?

Noch mal: Die Zweifel bleiben auf Seiten derer, die strukturell benachteiligt sind. Und ich fürchte, dass wir am Küchentisch allesamt nichts von der Tragweite dieser Debatten verstehen werden, solange wir kein Interesse an den Funktionsweisen unserer Bevorteilungen entwickeln. Denn sie sind erschütternd innerhalb einer Leistungsgesellschaft, die behauptet, durch harte Arbeit könne es jede und jeder weit bringen. Wenn wir ernsthaft die gläsernen Decken erkennen, müssen wir eine Sinnkrise bekommen, denn sie entwerten mit einem Schlag all unsere bisherigen Leistungen, indem sie sagen: Das ist uns zugefallen aufgrund unseres Geschlechts, unserer Hautfarbe, unseres wohlhabenden Elternhauses, unserer Erziehung. Wir mögen dafür gearbeitet haben, vielleicht auch sehr hart, aber ohne bestimmte Voraussetzungen hätten wir es mit einem Höchstmaß an Wahrscheinlichkeit nicht bis hierhin geschafft.

Fünftes Plädoyer: Interessieren wir uns für unsere Bevorteilungen. Fassen wir Mut zur Sinnkrise. Begreifen wir uns als Teil eines Ganzen, als Kinder unserer Zeit, als Rädchen im Getriebe. Begreifen wir das Ganze, die Zeit und das Getriebe aber unbedingt als veränderbar, oder zumindest als in Veränderung begriffen.

Ach und der Eisberg, den muss man sich wohl eher als Eisscholle vorstellen, deren horizontale Ausdehnung einfach empörender, und damit berichtenswerter ist als die vertikale. Wenn er geschmolzen ist, sprechen wir am Küchentisch hoffentlich längst über Maßnahmen.

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