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Der Winter ist doch eh nur Bluff

 

Wenn es draußen ungemütlich wird, sind Herbst- und Winterdepression nicht weit. Dabei könnte alles so schön sein. Man muss nur lernen, sich richtig zu erinnern.

Winterzeit: Winter ist doch eh nur Bluff
© Kinga Cichewicz / – (https://unsplash.com/@lets_run_away)

Tagsüber ist alles noch okay. Machmal scheint die Sonne. Und man könnte denken: Vielleicht klappt es ja diesmal. Es ist alles fake und der Winter fällt aus. (Dank Klimawandel und globaler Erwärmung.) Wir haben es schon mal im Sommer versucht, in den Ferien. Wir haben mit Jimmy gesprochen. Wir haben ihm erklärt: „Der Herbst ist eine durch und durch deutsche Jahreszeit. Das gibt es sonst nirgendwo.“ (Das müssen nur wir ertragen.) „Ihr in Südfrankreich habt es echt leicht.“ Aber Jimmy hat nur den Kopf geschüttelt. Müde und ein bisschen traurig. Es fällt leichter, Abschied vom Sommer zu nehmen, wenn man an Jimmy denkt. An seine Karriere und dass sie jetzt langsam zu Ende geht.

In der Rue de la Baleine, in Saint-Jean-de-Luz, stand er auf einmal vor uns, mit zwei Gips-Putten in den Händen und sagte: „It’s a bluff job“, und dann strahlte er uns mit seinem gold glänzenden Modelgesicht an. Wir waren auf dem Weg zum Strand, es war ja noch Sommer, gleich würde eine hilfreiche Hand den Sonnenschirm in den Sandboden rammen und weiter ging’s mit Henry James The Aspern Papers und fettigen Fritten nach dem Schwimmen. Jimmy war unser Animateur, der Geschichtenerzähler, der mit seinem Liebhaber, einem französischen Mode-Stylisten, einen winzigen Antiquitätenladen im Stadtzentrum betrieb. An dem kamen wir immer vorbei, wenn wir zum Strand gingen. Später, und es ist eine besonders süße Erinnerung, hätte er uns beinahe verführt, eine goldene Wandlampe mit Palmenüberdachung zu kaufen. (Die würde jetzt während der Herbsttage spätsommerlich goldenes Licht in unsere karge Behausung zaubern.)

Jimmy unterteilte sein Leben nach Jahreszeiten. Er liebte es, den Touristen, zu erzählen, dass er als Model der Marlboro Man gewesen war, für Lucky Strike posiert hatte und in Israel am Strand auf dem Pferderücken vor dem Sechstagekrieg geflohen war. Nur ins Wasser, erzählte er, wollten die Pferde nicht, und er musste seine Kollegin anschreien, wie sie zu posieren hatte, weil sie noch so neu im Geschäft war. (Das war der Bluff. Es ging irgendwie um Badehosen.) „Aber sie liebte den Art Director, nicht mich“, sagte er und lachte. Wir sahen ihn im rotbraunen Westbury-Schottenpullover in der Herbstkollektion auf einem Foto aus den 70ern, das er aus einem der Kataloge herausgerissen hatte und jetzt in einer alten schwarzen Mappe aufbewahrte. Wir blätterten sie zusammen mit ihm durch. Manchmal sah er aus wie James Bond, dann wieder wie der Bruder von Jude Law.

© Rainer Merkel

In seinen Augen glühte die Erinnerung an den Sommer, als Nixon ihn in einem Pierre-Cardin-Anzug auf dem Laufsteg in New York bewundert hatte. Ein paar Tage zuvor hatte man ihm Infusionen gelegt und seine Handrücken waren mit Hämatomen übersät. Er sei einer der ersten gewesen, der es geschafft hatte, so zu posieren, dass das eigentliche Bild ihn in seiner ganz natürlichen Bewegung und einer entspannten Körperhaltung zeigte. (Eine Schönheit, die er sich als junger Mann in Maine beim Zementanrühren antrainiert hatte.) Er hatte Angst vor der Kälte, der Einsamkeit und der Leere, die Saint-Jean-de-Luz, wenn die Touristen weg waren, in eine Geisterstadt verwandeln würden. Im Herbst und Winter seiner Karriere war er Double für Belmondo und Hopkins. Und in Blow up hatte er auch einen kleinen Auftritt gehabt. Aber dann sah er auf einmal, wie Jugendliche in der Métro in Paris sein Gesicht übermalten auf den Plakaten, und man sagte ihm, er sei zu bekannt und man könne ihm keine Aufträge mehr geben. „No more jobs. My face was too famous„, erklärte er und hustete, während er die beiden Putten abstellte und uns zur Lampe mit der Palmenüberdachung führte. Er verliebte sich in den Stylisten aus Saint-Jean-de-Luz und wurde Antiquitätenhändler, so wie er das immer geplant hatte. Sie hatten sich auf der Straße kennengelernt.

Jimmy vor seinem Laden © Rainer Merkel

„1.500“, sagte er, als wir ihn nach dem Preis der goldenen Palmenlampe fragten. Die Strandtaschen hatten wir schon auf den Boden gestellt, um unsere Geldbeutel hervorzuziehen. Wild entschlossen, jeden Preis zu bezahlen. Er strahlte etwas bemüht, leicht verkrampft, als wir ihn am Ende draußen vor seinem Geschäft fotografierten. Hinter ihm jagte das überschwängliche Licht über den Himmel, die nackten Körper hielten für einen Moment die Luft an. (Die Hitze war glamourös und schier endlos.) „Jimmy“, riefen wir. „Super. Jimmy. So, genau so.“ Er handelte jetzt mit Erinnerungen, die Erinnerungen an die Schönheiten des Lebens und die Erinnerungen an sein Gesicht. Wir blätterten mit ihm eine Weile in seinem Lebensbuch, dann zogen wir zu dem vergänglichen Glück des Strandlebens weiter. „Kannst du den Kopf etwas anheben, Jimmy? So bitte. Smile. Smile, Jimmy.“ Nächstes Jahr kommen wir zurück, dann haben wir das Geld zusammen, um die goldene Lampe mit der Palmenüberdachung zu kaufen. Jetzt heißt es durchhalten. Der Winter, das ist nur ein bluff job. Weiter nichts.

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