Je radikaler Diäten sich geben, desto beliebter sind sie. Tatsächlich steckt hinter Heilsversprechen durch Ernährung nur eines: unser Selbsthass.
Früher waren Diäten aufrichtiger. Nein wirklich: Bis in die Neunzigerjahre ging es bei ihnen vor allem darum, den Körper ohne jegliche Heilsversprechen zu verarschen, damit er schlanker wird. Man wusste, dass das Unterfangen ungesund war, aber es herrschte Kalter Krieg, und man wollte die Tage vor der allgemeinen nuklearen Auslöschung wenigstens in der Lieblingsjeans verbringen.
„Scheiß drauf!“, sagte man sich und hieß Bodo.
Beispiele?
Der beliebteste Appetitzügler der englischsprachigen Welt der Siebziger hieß „AYDS“ und tarnte in Pralinenform (es gab sogar Erdnussbuttergeschmack) das Lokalanästhetikum Benzocain, welches die Zunge und den Rachen und damit auch die Lust auf leckere Sachen betäubte; außerdem beinhaltete „AYDS“ das inzwischen weitgehend aus dem Arzneimittelverkehr gezogene Amphetamin PPA. Wahrscheinlich ging es Menschen richtig gut, wenn sie „AYDS“ nahmen! Bis zur Aids-Epidemie der Achtzigerjahre jedenfalls, welche, nachdem das Rebranding zu „Diet Ayds“ keine Erholung der Marke bewirkte, zum Ende dieses noblen Anorektikums führte. Tja!
Aber man musste nicht unbedingt zu Anorektika greifen, um abzunehmen – in den Siebzigern gab es bereits Diäten. Und was für welche. Die Scarsdale-Diät etwa, welche vorsah, dass man seine tägliche Energiezufuhr zwei Wochen lang auf 700 bis 1.000 Kalorien beschränkte. Die Mahlzeiten waren dabei rigide vorgeschrieben – jeder Tag fing mit einer Tasse Kaffee oder Tee (die mit kalorienfreiem Zuckerersatz gesüßt werden durften), einer Scheibe Toast und einer Grapefruit an. Die Scarsdale-Diät war ausgesprochen populär und bleibt bis heute eine beliebte Crashdiät Verzweifelter. Ihr Erfinder, der amerikanische Kardiologe Herman Tarnower, konnte den großen Erfolg seines Schaffens nicht lange genießen: Er wurde 1980 von seiner Freundin niedergeschossen. Die Witze sind naheliegend, doch sie tat es nicht, weil sie hungrig und darum grantig war oder weil sie täglich scheußliche Grapefruits essen musste; es war eine Eifersuchtstat.
Mindestmaß an Sättigung
Das Stereotype Bild von Grapefruitdiätierenden, das man aus Filmen und Serien der Achtzigerjahre kennt, stammt wahrscheinlich nicht alleine von der Scarsdale-Diät – bereits in den 1930ern stellte die Hollywood-Diät diese unerbittliche Zitrusfrucht (Grapefruits sind Orangen, die niemals Liebe erfahren und darum ihre Jugend in Straßenbanden verbracht haben, Privatschulclementinen auflauernd) in den Mittelpunkt. Es war dem Wunschdenken geschuldet, dass Grapefruits fettverbrennende Enzyme beinhalten würden, darum mussten sie vor jeder Mahlzeit verspeist werden. Ferner wurden ähnliche Einschränkungen der täglichen Kalorieneinnahme gefordert wie bei der Scarsdale-Diät, und aus irgendeinem Grund durfte man keine weißen Zwiebeln essen. In den frühen Zweitausendern, kurz nach ihrem Comeback mit dem Fever-Album, bezeichnete Kylie Minogue die Hollywood-Diät als ihre „geheime Waffe“!
Sowohl bei der Scarsdale-Diät wie auch bei der Hollywood-Diät kommt Grapefruits unter unterschiedlichen Vorwänden die gleiche Rolle zu: Ihre Flüssigkeit soll den Hungernden ein Mindestmaß an Sättigung ermöglichen, damit sie die Qualen ihres Zustands überstehen. Dies ist ein beliebter Trick altmodischer Diäten, doch keine perfektionierte ihn so wie die Kohlsuppendiät. Ihre Wurzeln sind unbekannt – vielleicht stammt sie bereits aus der Zeit des Ersten Weltkriegs, vielleicht ist sie aber nur ein irrtümlich ernstgenommener Faxlore-Witz der Achtzigerjahre –, was die Vielzahl ihrer Aliase erklärt: „Miracle Soup Diet„, „The Skinny„, „Army Cabbage Soup„, „Stewardess Diet“ oder „The Dolly Parton Diet„. Dolly hat sie übrigens wirklich gemacht, allerdings erst nachdem sie in einer Zeitschrift gelesen hatte, dass es eine Diät gibt, die nach ihr benannt ist. Hielt sie es für ein gutes Zeichen?
Wo wir schon bei Sängerinnen sind: Beyoncé hat sich für ihre Rolle in Showgirls der Master Cleanse Diet unterzogen, einer aus den Vierzigern stammenden Saftdiät, die ursprünglich an Magengeschwüren Leidenden helfen sollte und heute als „entgiftende“ Gesundheitskur vermarktet wird, obwohl sie vielmehr ein furchterregendes Abfuhrmittelinferno ist: Der zu trinkende Saft besteht aus ausgepressten Zitronen, Ahornsirup und Pfeffer.
Dem Einwand, dass alle Diäten, die ich soweit beschrieben habe, nur ungesunde, kurzfristige Lösungen anbieten, möchte ich entgegnen: Diäten, die langfristige und vermeintlich gesunde Umstellungen der Ernährungsgewohnheiten fordern, sind keineswegs besser. Das Heilsversprechen der Paleo-Diät ist an die Forderung geknüpft, dass man sich wie ein Steinzeitmensch ernähren solle. Es bedarf doch an einigem Aufwand, das weniger töricht zu finden, als die Vorstellung, dass Grapefruits magische Eigenschaften besitzen. Selbst die makrobiotische Diät, die einem Elektroherde und Tupperdosen verbietet, besitzt einen besseren Verkaufspitch: Iggy Pop.
Ausbeutung der Umwelt
Die vermeintliche Radikalität dieser lebensbegleitenden Diäten ist ihr hauptsächliches Vermarktungsmerkmal. Auf Homepages, die werbend über die Paleo-Diät informieren, wird mit den hohen Kosten kokettiert, welche jene erwarten, die sich zu ihr entscheiden: Man solle sich eben überlegen, wie wichtig die eigene Gesundheit einem sei. Die Ansprüche der makrobiotischen Diät sind ähnlich dekadent: Wie viele Familien in Deutschland können sich täglich auf die Suche nach lokalem Gemüse und Miso-Paste machen, und wie erklärt man ihnen, dass sie aus Yin-Yang-Gründen auf Spargel, Auberginen oder Spinat verzichten müssen? Ketogene „low carb„-Diäten – ursprünglich medizinische Diäten für Epileptiker – setzen langfristige Bereitschaft zur quälenden Selbstkasteiung voraus (nein, ich überdramatisiere nicht: Das ist die ganz und gar treffende Bezeichnung für ein Leben, in dem Nudeln, Kartoffeln oder Reis den Luxus von seltenen „Mogeltagen“ darstellen).
Etwas Weiteres macht diese langfristigen Diäten noch finsterer als die Freakshow der Crashdiäten: Während diese zweiten einem missbilligenden Reflex vor dem eigenen Spiegelbild folgen, sind langfristige Diäten die Folge eines Blicks auf die Welt. Sie alle propagieren, dass die Menschen der Ersten Welt – denn ausschließlich an diese wenden sie sich – durch die Industrialisierung ihrer Ernährung vergiftet würden. Im Gegensatz zur „Lebensreform“-Bewegungen der Moderne wenden sie sich jedoch nicht radikal von der vermeintlich toxischen Welt ab – ganz im Gegenteil, sie setzen das Nutznießen ihres Wohlstands voraus. Ich habe auf keiner einzigen Homepage und in keinem einzigen Buch, das für eine der langfristigen Diätformen wirbt, auch nur einen kritischen Satz über die monströse Ausbeutung von Umwelt, Mensch und Tier gelesen, auf der unsere verfressene Existenz gegründet ist. Stattdessen wird einem bloß vorgefaselt, Zucker und Fertiggerichte seien ungesund – eine stärker verkürzte Reaktion auf die eigentlichen Schrecken, die unsere Ernährung begleiten, kann ich mir nicht vorstellen. Der ganze Askese- und Willenskraft-Krach dieser Diäten ist letztendlich nur ein Symptom sehr gewöhnlicher Überforderung durch den enteilenden Kapitalismus.
Oscar Wilde sagte, sich selbst zu lieben, sei der Anfang einer lebenslangen Romanze – Diäten stellen das Unglück ihres Scheiterns dar. Sie sind der Sieg des Unbehagens, die Kapitulation vor dem Widerspruch, dass das, was man begehrt (nämlich Pommes), einem nicht gut tut (wegen Transfetten); Diäten sind der alberne neue Haarschnitt nach der Trennung, der Umzug nach Berlin. Sie sind das überstürzte Hochloben einer neuen Beziehung (nämlich zu Tofu), das in Enttäuschung endet (wegen Sodbrennen und hallenden Blähungen) – und in schamerfüllter Beklemmung, wenn man vor Freunden irgendwann eingestehen muss, zu vorlaut gewesen zu sein. Diäten: ein Spektakel der menschlichen Fähigkeit zum Selbsthass; der Versuch, grundlegende Spannungen durch magische Grapefruits oder Steinzeitvitalismus abzubauen.
Niemand braucht eine Diät. Fast allen wurde von Eltern und Freunden hundertfach gesagt, man solle sich mehr bewegen, man solle schwimmen, Rad fahren, laufen, pumpen, Basketball und Fußball spielen; man solle in Maßen, mehr Gemüse und weniger Fleisch essen, mehr Wasser trinken und weniger Zuckerhaltiges; man solle langsam kauen statt wie ein hysterischer Pacman. Alle wissen Bescheid – und empfinden die Krise doch als zu groß für Common Sense. Es muss schon der Befreiungsschlag durch Kohlensuppe her.
Ich kann den nächsten Trend kaum erwarten. Vielleicht irgendwas mit Schimmelkäse?
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