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Der letzte Hort der Utopie

 

Auf Spielplätzen können auch Erwachsene lernen: Verlorenes wiederzufinden und den Blick auf die Gegenwart zu verändern. Eine Reise zu übersehenen Orten

© Jochen Schmidt

Spielplätze sind utopische Orte, hier soll alles wieder gutgemacht werden, was die Welt der Erwachsenen den Kindern antut. Die Gestalter bleiben meist unbekannt, aber an ihren Schöpfungen kann man viel über die Gesellschaft ablesen, weil sie einem davon erzählen, wie die Bedürfnisse der Kinder eingeschätzt werden. Bei den Recherchen zu meinem Buch Gebrauchsanweisung für Ostdeutschland habe ich einige wenige Exemplare von Klettergerüsten und sogar Kletterpilzen gefunden, wie ich sie selbst als Kind noch gekannt habe. Erst dadurch ist mir aufgefallen, dass die Spielgeräte meiner Kindheit, von mir völlig unbemerkt, fast vollständig verschwunden sind. Durch diese Verlusterfahrung habe ich begonnen, mich für Spielplatzgestaltung zu interessieren und dokumentiere auf Reisen diese speziellen Orte, die man normalerweise übersieht.

Zuletzt auf einer Reise nach Kasachstan, wo ich mir die Architektur der neuen Hauptstadt Astana ansehen wollte. In der „Altstadt“ von Astana, die ab den Fünfzigern des letzten Jahrhunderts gebaut worden ist, also vorwiegend aus Plattenbauten besteht, findet sich im Innenhof fast jedes Neubaublocks noch der klassische Spielplatz vom sowjetischen Typ, mit Stahlrohrgerüsten zum Klettern, Wippen und Schaukeln.

© Jochen Schmidt

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Eine Besonderheit, und angesichts des Klimas sinnvoll, sind in Kasachstan Buddelkästen mit Sonnendach.

© Jochen Schmidt

Ein überraschender Ort für einen Spielplatz war das Parkdeck des Hochhauskomplexes im neuen Teil Astanas, wo ich untergebracht war. Dieses Parkdeck habe ich durch Zufall entdeckt, man gelangte von der Straße über eine Feuerleiter hinauf, ich hatte einen guten Aussichtspunkt zum Fotografieren gesucht.

© Jochen Schmidt

Der Hochhauskomplex verfügte auf Straßenebene nur über zwei sehr unscheinbare Eingangstüren, wobei eine davon eigentlich als Ausgang gedacht war. Es war durchaus ungewöhnlich, dass bei einem so dominanten Gebäude, das aus drei Hochhaustürmen bestand, die Eingangssituation so vernachlässigt worden war, auch zum Nachteil der Geschäfte, die sich im Innenbereich auf zwei Etagen befanden, Blumenläden, kleinen Buffets, Schönheitssalons, Souvenirgeschäften und Änderungsschneidereien, deren Kunden wohl vor allem die Bewohner des Gebäudes sind. Der Spielplatz auf dem Parkdeck bildete einen reizvollen Kontrast zur kühl wirkenden, blauen Glasfassade des Gebäudes. Die Farben der Gerüste, die kindliche Bemalung, die Gebrauchsspuren und nicht zuletzt die Abwesenheit von Kindern und die Verlorenheit der Anlage in diesem Ambiente sorgten für eine gewisse elegische Poesie.

© Jochen Schmidt

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Ganz ähnliche Geräte fand ich tausend Kilometer weiter in der alten Hauptstadt Almaty, hier noch mit zwei Pionierfiguren, die, gut im Gebüsch versteckt, überlebt hatten.

© Jochen Schmidt

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Die Spielplätze des alten Typs sind meist ziemlich ungepflegt und überwuchert, was aber wieder zu den Tierfiguren, Löwen oder Kamelen passt, die hier aufgestellt werden.

© Jochen Schmidt

Beliebter scheinen inzwischen die Spiellandschaften in den zahllosen, riesigen Shoppingmalls, die „Happyland“ oder „Funky Town“ heißen. Dass die Malls so gut besucht sind, liegt sicher am noch relativ frischen Reiz einer westlich geprägten Konsumkultur, aber auch an den extremen klimatischen Bedingungen in Kasachstan, die es im Winter und im Sommer attraktiv machen, sich hier aufzuhalten. Die Spielbereiche im obersten Geschoss haben allerdings den Charme eines Casinos, es gibt alles, was blinkt, wackelt und Krach macht, Kinder begeistert, Erwachsene aber, wenn sie sich mit neueren Erkenntnissen über kindliche Entwicklung auseinandersetzen, eher alarmiert.

© Jochen Schmidt

Besser gefielen mir diese mit Glassteinen besetzten Echsen vor einer anderen Mall in Astana. Im Maul hatten sie Sitzbänke und unter dem Schwanz war eine Schaukel angebracht.

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Auf dem nagelneuen Fußgängerboulevard von Astana, der auf der „Achse der Macht“ liegt (mit Präsidentenpalast und verschiedenen Ministerien) und, trotz seiner aseptischen Ausstrahlung, vor allem nachts, wenn alles mit Lichterketten beleuchtet wird, durchaus beliebt und bevölkert ist, wandelt man zwischen Hochhaustürmen von kasachischen und westlichen Architekten und orientiert sich auf der einen Seite am vom Präsidenten persönlich mit einer im Nationalmuseum einzusehenden Skizze entworfenen Bayterek-Turm (er hatte den Einfall angeblich im Traum).

© Jochen Schmidt

Mit seiner goldenen Kugel hat er jetzt schon eine ähnlich ikonische Qualität wie der Berliner Fernsehturm und wird in den Souvenirshops in Hunderten Variationen angeboten.

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In der entgegengesetzten Richtung blickt man auf eines der ersten Gebäude, die in dieser seit eineinhalb Jahrzehnten aus Steppe und Schlamm errichteten Stadterweiterung gebaut worden sind, der brachial-eklektisch gestalteten Firmenzentrale von KasMunaiGas, einem Bau von 2003, der wie ein gigantischer Festungswall wirkt.

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Durch einen Torbogen gibt das Gebäude den Blick auf das Zeltdach der von Norman Foster stammenden Chan-Shatyr-Mall frei.

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Foster zitiert mit der Form seines Gebäudes natürlich die traditionelle nomadische Lebensweise der Kasachen. Sein Bau leidet aber unter dem häufig zu beklagenden Außen-Innen-Problem von „Star-Architektur“, als Ikone funktioniert er wegen seiner auffälligen Form, aber innen findet man sich in einer banalen Mall wieder, die überall stehen könnte. Immerhin hat man als zusätzliches Feature die Möglichkeit, im obersten Geschoss in kleinen Fahrzeugen am Geländer entlangzufahren.

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Auf dem Fußgänger-Boulevard von Astana gibt es anlässlich der in diesem Jahr in Astana stattfindenden Expo eine Kunstausstellung, Nomad Energy, die wie ein Gegenentwurf zur heilen Welt der Expo wirkt, weil sich hier lokale Künstler Gedanken über den Identitätsverlust der urbanen Kasachen machen. In relativ kurzer Zeit ist man in diesem Land von der traditionellen, ressourcenschonenden Lebensweise in der Jurte zum material- und energieintensiven Turbokapitalismus gewechselt. Ein Objekt ist z. B. eine aus Kleidungsstücken alter Frauen genähte Jurte.

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Die Frau hat bei den Nomaden dafür gesorgt, dass die Familie beim Weiterziehen zusammenblieb. Die Jurte war der Mittelpunkt des Lebens. Heute geht die Frau in der jurtenförmigen Mall von Sir Norman Foster shoppen.

Viele der Kunstwerke sind interaktiv, können beklettert werden oder sind direkt als Spielgeräte gedacht. Aus Europaletten, die ja nomadisierende Objekte sind, haben Kinder unter Anleitung ein Fort zusammengebaut.

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Interessanterweise braucht man schon Künstler, um sich über den Zusammenhang von Kindheit, Poesie, Freiheit und Spiel Gedanken zu machen. Ein anderer Künstler hat einfach ein Gerüst mit einem Netz als Hängematte aufgestellt. Sich hinzulegen und in die Wolken zu gucken, eine Weile keine Verpflichtungen zu haben, das ist eine Rückkehr in die Kindheit und eine Quelle für neue Energie.

Mit einer Gruppe junger Architekten konnte ich einen Busausflug in ein Dorf außerhalb Astanas unternehmen. Sofort fühlte ich mich wieder wie in Osteuropa. Aus Materialien, die eben zur Verfügung gestanden hatten, waren im Lauf der Jahre Häuser und Anbauten errichtet worden. Vor vielen Häusern standen Bänke, auf denen man abends saß und schwatzte. Eine Herde von Schafen, Kühen, Ziegen und Pferden kreuzte die flussbreite, sandige Dorfstraße, die zu beiden Seiten in Unkraut überging. Hier hätte man jedes Haus fotografieren wollen, weil jedes ein Unikat war. Das Dorf hatte ungefähr 1.500 Einwohner, es gab einen Lebensmittelladen aus sowjetischer Zeit, ein Kulturhaus, eine Schule und im Dorfzentrum einen Kindergarten. Dessen Freigelände war reichlich mit Spielgeräten bestückt, die, wie sich bei näherer Betrachtung herausstellte, alle selbst hergestellt waren.

© Jochen Schmidt

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Als Materialien hatten Autoreifen, Plastikflaschen oder Sperrholz gedient. Es gab Tiere, Schiffe, Fahrzeuge und Blumen aus bemalten und zerschnittenen Plastikflaschen (während in Astana Bänke aufgestellt worden sind, auf denen man unter Weinlaub aus Plastik sitzt). Für mich war das einer der originellsten Spielplätze, die ich je gesehen habe, zwar aus dem Mangel geboren, aber mit Fantasie gestaltet.

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Ich nehme an, wenn die Dorfbewohner das Geld hätten, würden sie ganz andere Spielgeräte für ihre Kinder kaufen, und dass sie einen Gast aus einem reichen, entwickelten Industrieland, der diese dem Mangel abgerungenen, improvisierten Geräte schön findet und den Attraktionen von „Happyland“ und „Funky Town“ jederzeit vorziehen würde, für verrückt erklären würden.

Dabei würde ich sogar so weit gehen, den Besuchern der Expo einen Abstecher zu diesem Dorfspielplatz ans Herz zu legen. Denn für die diesjährige Expo hat man als Thema „Energie der Zukunft: Maßnahmen für weltweite Nachhaltigkeit“ gewählt. Über 100 Länder (auch in diesem Zusammenhang eher überraschende Kandidaten wie Belarus oder Katar) stellen sich in ihren Pavillons als äußerst interessiert an dieser Problematik dar. (Beliebtestes Fotomotiv, zumindest bei jungen Männern, sind allerdings die futuristischen Autoprototypen mit Elektromotor.) Kasachstan präsentiert sich in seinem spektakulären, kugelförmigen Expo-Pavillon, der das Zentrum der Anlage bildet, als Land, das aus einer uralten, nomadisch geprägten Kultur kommend, heute in die Moderne strebt, in Wissenschaft und Technik investiert und stolz auf seine neue Hauptstadt ist. Das ist verständlich, aber so eine Hochglanz-Selbstdarstellung beeindruckt mich viel weniger als der Dorfspielplatz, der beweist, dass für Poesie und Schönheit nicht unbedingt reiche Ressourcen notwendig sind.

© Jochen Schmidt

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