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Es lebe die Unsicherheit

 

Jede Menge Glück? Mehr Geld? Oder wird es anstrengend? Es ist ungewiss, was das neue Jahr bringt. Vielleicht kann man schnell selbst etwas tun, um 2018 zu beeinflussen.

Allef Vinicius/Unsplash

„Zwischen den Jahren treffen wir uns.“ Genau genommen wäre das dann die Minute zwischen dem 31. Dezember um 24 Uhr und dem 1. Januar um 0.01 Uhr. Gemeint sind natürlich die Tage zwischen Weihnachten und Silvester. Genauer bis zum 6. Januar. Aber zwischen den Jahren heißt natürlich viel, viel mehr. Es ist die schwebende Zeit zwischen Ende und Neuanfang, zwischen Resignation und Hoffnung, alt und neu usw., usw.

Dieser Zustand beginnt im Grunde schon Anfang Dezember. Die Zeit der Rückblicke hält Einzug. War es ein gutes Jahr? Besser oder schlechter als gedacht? Sportereignisse werden aufgezählt, es wird der blutigen Attentate gedacht, der Toten und der Gewinner des fast vergangenen Jahres. Die Betriebe laden zu den Weihnachtsfeiern ein, Glühwein und kleine Affären. Da werden keine Kosten und Mühen gescheut, um das Personal, das sonst übers Jahr nach allen Regeln der kapitalistischen Kunst ausgebeutet wird, zu entlohnen, bei Sternanis und Zimt.

Auch ich bin schrecklich nervös. Was wird mir das neue Jahr bringen, und kann ich mich schon von dem vergangenen trennen? Wird es Glück und Geld bringen oder einfach nu­r noch anstrengender werden? Die Bundesregierung scheint in einem ähnlichen Dilemma zu stecken. Es wird verhandelt und geredet, was das Zeug hält, aber es kommt zu keiner Entscheidung. Das Alte will man auf keinen Fall mehr, aber das Neue auch nicht …

Es wird zu Spenden aufgerufen, und Bilder von gestrandeten Geflüchteten schmücken die Titelseiten der Magazine. Wie viele Tote liegen im Mittelmeer? Mehr als im Vorjahr? Wie viele Hungerstote haben die reichen Länder auf dem Gewissen? Und schmeckt dann noch die Weihnachtsgans? Wird schon in diesem Jahr die Luft dünn, das Wasser knapp und werden die Eisberge geschmolzen sein? Oder doch erst im nächsten?

Die Statistiken machen mich fertig, der Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt zwischen Betonpollern gegen erwartete Anschläge schmeckt schal. Das rote Samtkleid im KaDeWe lasse ich deprimiert hängen.

Macron ist sehr jung und hat eine sehr viel ältere Frau.

Frau Le Pen ärgert sich.

Herr Weinstein, Herr Levine und Herr Spacey und viele weitere haben ausgezockt.

In Manchester passiert ein Attentat, in Afghanistan auch.

Dieser geschmacklose Amerikaner überrascht weiterhin mit schrecklichen, profilneurotischen Entscheidungen.

Der kleine mächtige Russe hält dagegen.

Es gibt überraschenderweise noch keinen Krieg.

Da hilft nur erfrischender Aberglaube, also Bleigießen.

Das Glücksschwein schmilzt über der Kerze zusammen, im Wasser bilden sich viele kleine Spermien. Was soll das denn nun heißen? Werde ich wieder Mutter? Oder gar Großmutter von Drillingen? Werden Hunderte kleiner goldener Meteoride auf uns niederprasseln? Oder heißt es vielleicht, dass die vielen Flüchtlinge uns auf lange Sicht Glück bringen?

Das bleierne Kleeblatt lasse ich ungeschmolzen ins Wasser fallen.

Tantchen reist an. Sie hat Linsen aus Italien mitgebracht, denn nur, wenn man zum neuen Jahr Linsen isst, sagt sie, vermehrt sich im folgenden Jahr das Geld. Aus welchem Schtetl genau dieser Brauch stammt, ist ihr entfallen. Die Tüte riss noch im Flur, wir lagen alle stundenlang auf dem Bauch, um die Linsen einzusammeln, denn es dürfen nur diese italienischen Linsen sein, mit deutschen Linsen funktioniert die ganze Sache nicht.

Warum die italienische Regierung mit ihrem Schuldenberg ihr Problem nicht mit Linsen löst, erklär mir bitte mal einer.

Was man in den letzten Tagen des Jahres tut, wird sich im nächsten Jahr auszahlen. So der Volksmund.

Dementsprechend voll sind die Fitnesscenter, da wird geturnt und gelaufen, gestemmt und Gewicht gehoben. Der Körper auf Vordermann gebracht. Im neuen Jahr kann man antreten als Miss und Mister Universum. Die botox-to-go-Zentrale platzt aus allen Nähten. Das Jahr neigt sich seinem Ende zu, für die Optimierung des Selbst bleibt nur noch wenig Zeit.

Es gibt die, die sich zwischen den Jahren im trauten Heim versammeln, in der Hoffnung, die Familie könne den nötigen Halt geben.

Andere mieten sich mit Freunden eine Hütte, verbringen ausgelassene Tage im Schnee, als gäbe es kein Morgen.

Es wir gefeiert, getanzt oder gebetet, sogar eine Diät begonnen. Trotzdem will sich keine wirkliche Sicherheit einstellen. Weder im Rückblick noch in den Zukunftsvisionen.

Meine Freundin Anne ist in das Flüchtlingslager Moira auf Lesbos gefahren und vier Wochen lang versucht sie, das Chaos dort etwas zu mindern. Essen, Wasser, Kleidung, es fehlt an allem. Zwar gäbe es alles auf diesem unseren Planeten, aber nicht unbedingt dort, wo es gebraucht würde. Ein logistisches Problem?

Ich habe den Verdacht, dass der unsichere, schwebende Zustand sich auf das ganze Jahr erstrecken wird. Es ist praktisch immer zwischen den Jahren …

Aber ist das so schlimm?

Ich tue gut daran, mich mit dem Gedanken anzufreunden. Aber wenn das Alte nicht mehr zieht, hat vielleicht endlich Neues Platz. Vielleicht bewegt sich dadurch mehr, bei mir, bei unserer Regierung, ja bei dem einen oder anderen.

„Prognosen und Statistiken sind auch nicht mehr das, was sie mal waren!“, höre ich meine Nachbarn schimpfen. Na und!

Es lebe das neue, unsichere Jahr voller erstaunlicher Möglichkeiten.

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