Frau Guse aus Berlin-Marzahn, 85, hat fünf Kinder und ist seit Jahrzehnten Witwe. Alle sechs Wochen erzählt sie mir ihr Leben, während ich sie pediküre.
Dieser Text ist Teil unserer Mini-Serie „Fußpflege in Marzahn“. Alle Folgen finden Sie hier.
Mit der Straßenbahnlinie 6 fahre ich vierzehn Stationen, nach Osten, an den Berliner Rand. Die Reise dauert einundzwanzig Minuten. Ich steige aus und registriere den Temperaturunterschied. Wie immer kommt mir das Wetter in Marzahn, einst die größte Plattenbausiedlung der DDR, intensiver vor als in der Innenstadt. Die Jahreszeiten riechen stärker. Unser Kosmetikstudio ist keine zwei Gehminuten von der Haltestelle entfernt. Der Erdgeschosslage verdanken wir viele Kunden mit Krücken, Rollatoren und Rollstühlen. Ich kippe den Kopf in den Nacken und zuverlässig erfasst mich das Zwergengefühl ob der achtzehn Stockwerke, die auf dem Studio lasten. Hier, am Fuße dieses gewaltigen Gebäudes, gehe ich der Fußpflege nach.
Ich ziehe die weiße Arbeitskleidung an, trage das Stullenpaket in die Küche, koche mir einen Kaffee, bereite meinen Arbeitsplatz vor, studiere im Terminbuch, ob jemand abgesagt oder sich kurzfristig angemeldet hat.
Und da klingelt es schon. Neun Uhr fünfundvierzig. Ich eile zur Tür, drehe das Schild von Geschlossen (rot) auf Geöffnet (grün), schließe auf und rufe: „Frau Guse! Hereinspaziert!“
Frau Guse parkt den Rollator, hängt die Jacke an den Garderobenständer, atmet schwer. Mit ihrer Einkaufstasche wackelt sie in den Fußpflegeraum. Sie setzt sich auf den Fußpflegestuhl; ich helfe ihr, Schuhe und Strümpfe auszuziehen, kremple die Hosenbeine hoch. Zusammen stellen wir ihre Füße ins vorbereitete Fußbad. Ich zupfe zwei Handschuhe aus der Packung und streife sie über, Frau Guse zugewandt, die erwähnt, dass sie doch Brustkrebs hatte, was sie jedes Mal an dieser Stelle tut, worauf ich nicke und sage, was ich jedes Mal an dieser Stelle sage, dass die Operation bald sieben Jahre zurückliegt und dass die Tabletten, die sie seither einnehmen muss, schreckliche Nebenwirkungen zeigen, zum Beispiel Atemnot und Durchfall.
Das Handtuch wird mitgebracht
Auf einen ahnungslosen Anfänger mag es hirnrissig wirken, dass ich Frau Guse ihre eigenen Beschwerden aufzähle, die sie natürlich kennt; der Profi hingegen weiß, dass nur ein Bruchteil jeder Kommunikation dem reinen Informationsaustausch dient, der große Rest ist etwas anderes, und in diesem großen Rest tummeln Frau Guse und ich uns in virtuoser Verquickung. Auf mein zur rechten Zeit gefallenes Stichwort Durchfall sagt sie erwartungsgemäß, dass sie sich manchmal gar nicht aus dem Haus traut, aus Angst, sich in die Hosen zu machen. Frau Guse und ich könnten sogar die Texte tauschen; ich jedenfalls beherrsche beide Parts auswendig, denn wir führen alle sechs Wochen exakt das gleiche Gespräch. Das sei aber blöd, antworte ich, und nun nickt Frau Guse und lächelt ihr selig schiefes Lächeln, das sie noch bei den schaurigsten Themen beibehält, was mich stets verwundert und beeindruckt, und sagt, als ob sie es noch nie gesagt hätte: „Allet seit de Operation, seit de Operation, erst seit de Operation, vorher hatte ick dit nich, seit de Operation erst, vorher nich, erst denn, seit de Operation.“
Wobei sie, weil sie sieht, wie ich das Peeling in den behandschuhten Händen verteile, ihr Handtuch auf dem Schoß bereitlegt, das mitgebrachte, das die wahre Stammkundin auszeichnet, die nämlich immer ein Handtuch dabei hat, wofür sie selbstverständlich ein Lob von mir bekommt, jedes Mal, auch heute, und indem ich erkläre, dass wir, also meine Kolleginnen und ich, dankbar sind für diese freundliche Mitarbeit der Kundschaft, die uns hilft, den Wäscheberg zu minimieren, wechseln wir elegant von den Krankheiten zum Haushalt und ich kauere mich vor Frau Guse und die Schüssel, muss nur die Hände öffnen, schon hebt Frau Guse den linken Fuß aus dem Wasser, hält ihn mir hin, und ich bearbeite Ferse, Sohle, Längsgewölbe, Spann, fahre mit den Fingern zwischen die Zehen, schrubbe die alten Hautschüppchen ab, wie es Magdalena einst mit den Füßen von Jesus tat, wobei biblische Motive nicht unbedingt das zentrale Thema in der Unterhaltung zwischen Frau Guse und mir bilden und ich Frau Guses Füße auch nicht mit meinen Haaren abtrockne, sondern mit dem Handtuch, dem mitgebrachten, und zwar gründlich.
Die Urne schon ausgesucht
„Ab jetzt dürfen Sie faul sein“, sage ich, damit Frau Guse wohlig seufzen kann, was sie planmäßig tut, um wiederum selig lächelnd von der Brustprothese zu sprechen, die sie zwar hat, aber nicht benutzt, womit wir wieder die Krankheiten schrammen, was ich durch ein Lob für ihre luftige Bluse galant auffange, welche so leger falle, dass man nichts von der fehlenden Brust merke. Jawohl, gesteht Frau Guse mit kokettem Augenniederschlag, sie kleide sich gern locker, leicht und farbenfroh. Das ist der Moment, in dem ich die Kundin endgültig zur Königin mache: Ich trete mit dem Fuß auf die Pedalerie, und leise surrend fährt Frau Guse samt Fußpflegestuhl (zentrales Möbelstück, imposantes Teil, pinkfarbener Thron in weißem Ambiente) in eine Höhe, die uns wie immer zu dem Scherz animiert, dass Frau Guse demnächst durch die Decke stößt. Ich fahre den Rollschrank heran, knipse die Lupenleuchte an, richte ihren schwenkbaren Arm so aus, dass das Licht gleißend auf die Füße fällt, und jetzt, nachdem Frau Guse ihre königliche Höhe erreicht hat, kriege auch ich als ihre Dienerin und eine Stufe tiefer meinen Sitzplatz, indem ich mir den weißen Rollhocker unter den Hintern ziehe. Brille uff und ran anne Buletten. Zuerst kommt der Kopfschneider fürs Grobe zum Einsatz.
„Wenn’s wehtut“, sage ich. „Denn schrei ick“, sagt Frau Guse.
Nun widme ich mich den Rollnägeln, die an den Seiten einzuwachsen drohen, und schneide kleine Dreiecke heraus, greife alsdann zur Sonde und pule Verhorntes unter den Kanten und aus den Falzen hervor. Sanft schiebe ich an der Matrix die Nagelhaut zurück, zehnmal. Ich stecke den Fräser ins Handstück, wähle eine geringe Umdrehungszahl und schalte das Fußpflegegerät ein. Zwischen Frau Guse und mir surrt es, das Motoren- und Absauggeräusch, spätestens jetzt bin ich genauso schwerhörig wie meine königliche Kundin. Wegen des Lärms schweigen wir. Ich schaue Frau Guse über den Brillenrand an, sie lächelt ihr schiefes Lächeln, mild und still.
Kinder, Küche, Kaufhalle
Geboren 1933 in Berlin-Prenzlauer Berg, Acht-Klassen-Abschluss, keine Berufsausbildung. Kurzzeitig als ungelernte Raumpflegerin tätig. 1953 Heirat. Bis 1966 fünf Kinder. 1973 Tod des Mannes mit fünfundvierzig. Sie zog die Kinder allein groß; alle haben einen Beruf gelernt: Maurer, Schlosser oder Verkäuferin. Frau Guse siedelte 1993 von Prenzlauer Berg nach Marzahn über. Ihre Beerdigung hat sie bereits bezahlt (4.000 Euro), die Urne ausgewählt („Eichenlaub“), die Trauermusik bestimmt („Nabucco“), die Grabstätte gepachtet: auf dem Friedhof neben ihrem Mann.
Frau Guse betrachtet zufrieden ihre blitzblank gefrästen Nägel. Ich schalte den Motor aus, gebe den Fräser in die Desinfektionslösung, setze die Brille ab, greife nach der Holzfeile.
Jetzt ist es wieder still im Raum.
„Hufe auskratzen“, sage ich. „Bin doch keen Pferd“, sagt Frau Guse.
Ich beginne mit der groben Seite der Feile, Frau Guse hilft mit, indem sie Feuerhakenfüße macht und mir die Fersen hinhält. Leise rieseln die Schüppchen. Bald wende ich die Feile auf die feine Seite. Frau Guse hat kaum Hornhaut, benutzt ihre Füße nicht mehr viel.
Ihr Mann, sagt sie stets, wenn ich frage, woran er so jung gestorben ist, sei am Magen operiert worden. Das ist keine Todesursache. Und ich sehe in ihren Augen, dass sie noch heute, fünfundvierzig Jahre später, nicht versteht, warum er gestorben ist, sie versteht es mit den Jahren sogar immer weniger. Sie hat auch Mühe, die Namen ihrer fünf Kinder aufzuzählen, aber letztendlich fallen sie ihr ein: Lothar, Bärbel, Joachim, Uwe, Christine. Frau Guse ist nicht dement. Sie entfernt sich nur langsam und im Rückwärtsgang von der Welt, in der sie sich auskannte: Kinder, Küche, Kaufhalle.
Unser Witz mit der herabrieselnden Hornhaut und dem geriebenen Parmesan führt in der Unterhaltung direkt zum nächsten Themenkomplex.
„Was gibt’s denn heute zu essen, Frau Guse?“
„Dit wollnse wieda wissen, wa?“
Wir kichern; Frau Guse gibt sich verschmitzt, ich gebe mich wissbegierig und ungeduldig. Mit Frau Guse kann man schäkern.
„Heute jibt et, heute mach ick, heute hol ick, nachher gleich, wenn ick hier fertig bin, hol ick … n halbet Hähnchen!“
Kess sagt sie das, richtig clever. Früher war Frau Guse bestimmt eine gute Köchin, inzwischen variiert ihr Menüplan nach meinem Eindruck zwischen Döner, halben Hähnchen und Chinapfanne. Aber am Wochenende kocht sie ordentlich wie eine Hausfrau. Und was? Kassler! Jeden Samstag gibt es bei Frau Guse Kassler. Wie macht sie den? Mit Kartoffeln und Sauerkraut. Und das Fleisch? Gleich kommt’s, meine allerliebste Stelle in der gesamten Sitzung.
Eine ganz große Bezahlerin
„Mit de Brotschneidemaschine, den Kassler koof ick im Stück, und denn schneid ick den mit de Brotschneidemaschine, mit de Brotschneidemaschine schneid ick den schön in Scheiben, den Kassler, ja, da staunse, mit de Brotschneidemaschine mach ick dit.“
„Mit der Brotschneidemaschine?“, rufe ich begeistert, bin perplex und von den Socken, absolut platt und total baff.
„Ja“, sagt sie wie eine Adlige, „mit de Brotschneidemaschine.“
Derweil wir Frau Guses Kasslerschnitttechnik gebührend abfeiern, wische ich ihr mit dem Handtuch den Staub von den Fersen, die glatt sind wie zwei Kinderpobacken. Sie dürfe sich eine Creme wünschen, Rose oder Lavendel oder lieber Propolis? Frau Guse wünscht sich gar nichts, sie vertraut mir bloß und will, dass alles so ist wie immer. Ich drücke aus dem Spender einen Klecks in die Hand und bearbeite die Füße, erst den linken, dann den rechten. Andächtig und stumm verfolgt sie mein Tun, denn ich mache etwas mit ihren Füßen, was niemand sonst je mit ihren Füßen macht. Den Spann ausstreichen, die Zehengrundgelenke einzeln bewegen, um die Knöchel kreisen, die Achillessehne dehnen, mit der Faust über die Sohle hobeln, den Vorfuß spreizen, die Fersen kneten.
„Dit hamse aba wieda schön jemacht.“
Wir betrachten mein Werk. Frau Guse ist fünfundachtzig, ihre Füße sind jetzt, nach der Behandlung, zirka fünfzig, das Jüngste an der ganzen Frau.
Ich ziehe die Handschuhe aus, fahre den Thron ins Erdgeschoss und die Beinstützen ein, klappe sie herunter, lege das Handtuch zusammen, helfe Frau Guse, die Strümpfe und die Schuhe anzuziehen.
„Langsam“, sage ich, als die Kundin sich aus dem Thron erhebt. Sie schwankt kurz, hält sich an der Armlehne fest, stabilisiert sich in der Aufrechten. Nimmt die Einkaufstasche, lässt das Handtuch hineinrutschen, wackelt betulich aus dem Raum.
„Denn zahl ick ma“, ruft Frau Guse. Ich flitze hinter den Tresen. Frau Guse ist eine ganz große Bezahlerin. Sie kann es kaum erwarten, das Bezahlen. Anders als der moderne Mensch, der sich Kredite, Raten und Rabatte, Angebote, Schnäppchen und Zahlpausen wünscht, tut Frau Guse alles, um keine Schulden zu machen, zu haben, zu hinterlassen. Sie ist glücklich, wenn das gelingt, und bezahlt, wann immer sich die erste Gelegenheit ergibt, am liebsten, bevor die Leistung erbracht ist. Ihre Beerdigung hat sie ja auch schon bezahlt. Sie zückt das Portemonnaie, stolz wie ein Kind. Ich kassiere zweiundzwanzig Euro.
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