Den aktuellen Antisemitismus vor allem mit Flüchtlingen in Verbindung zu bringen, ist falsch und gefährlich. Eine Erwiderung auf einen Text von Alexandra Berlin
Angst ist keine gute Grundlage für Debatten. Auch ich habe Angst, Angst vor Katzen und davor, dass, wenn ich Neukölln die U-Bahn nehmen muss, der Aufzug schon wieder nicht funktioniert und ich einen Kinderwagen mitsamt zwei Kindern hinuntertragen muss.
Neukölln ist der Ort, an dem ich lebe – als Jüdin und mit einem syrischen Ehemann, wobei er noch viele andere Eigenschaften hat. Ein Stadtteil also, der oft als eine No-go-Area für Juden beschrieben wird und in dem dennoch viele Juden und Israelis leben, und das sogar sehr gern. Von „Flüchtlingen“ habe ich bislang noch keinen Antisemitismus erfahren. Allerdings frage ich mich oft, wie es sich für aus Syrien geflüchtete Menschen anfühlen muss, wenn ich auf der Straße Russisch spreche, denn immerhin fallen gerade russische Bomben auf ihr Land. Aber auch da gab es bisher keine Probleme.
Ich möchte nicht ausschließen, dass es unter ihnen Antisemitismus gibt. Sicherlich gibt es diesen. Vor ein paar Wochen bin ich aus Versehen in die Demonstration gegen die Entscheidung der Trump-Regierung, Jerusalem als die Hauptstadt Israels anzuerkennen, hineingelaufen und es war alles andere als schön. Die Stimmung war aufgeladen. Was mich am meisten irritierte, waren jedoch die Fahnen der Hisbollah, die ohne jede Scham oder Heimlichkeit geschwenkt wurden, was nicht mit Strafverfolgung seitens der nicht wenigen Polizisten geahndet wurde. Überhaupt wirkte der ganze Demonstrationszug wie eine einzige Drohgebärde der Hisbollah – und der Hisbollah sollten wir die Straßen ganz sicher nicht überlassen. Nur wurde das leider in der bisherigen Debatte nicht thematisiert.
Was genau heißt „Flüchtling“?
„Ich fühle mit den Menschen, frage mich aber auch, wie es gelingen kann, so viele Migranten zu integrieren. Sie haben Krieg und Elend überlebt – nun kommen sie in ein Land, in dem Asylunterkünfte brennen. Ich fürchte um die Flüchtlinge, ich fürchte um den Zusammenhalt in Deutschland. Um mich fürchte ich nicht“, schrieb vor Kurzem an dieser Stelle eine Autorin, die ihren Text unter dem Pseudonym Alexandra Berlin veröffentlicht hat, und merkt zudem an: „Ich weiß, dass die Integration von 900.000 Flüchtlingen eine Mammutaufgabe ist. Viele von ihnen sprechen kaum Deutsch, auch westliche Werte wie die Gleichstellung von Mann und Frau sind ihnen fremd.“
Ich glaube nicht, dass die Gleichstellung von Mann und Frau ein explizit westlicher Wert ist, denn wie kann man sich sonst erklären, dass das Frauenwahlrecht in Liechtenstein erst im Jahr 1984 und in dem Schweizerischen Kanton Appenzell Innerrhoden gar erst im Jahr 1990 eingeführt worden ist, und im letzten Fall nicht einmal freiwillig, sondern durch einen Beschluss des Bundesgerichts? Ich glaube, viele dieser Menschen sprachen zumindest Deutsch und andere relevante Landessprachen und waren auch sonst recht gut integriert. Ich könnte noch anführen, dass Frauen in Deutschland bis 1977 nicht ohne die Erlaubnis ihres Ehemannes arbeiten und kein eigenes Konto besitzen durften. Die Vergewaltigung in der Ehe ist in Deutschland erst seit 1997 verboten und die gegenwärtige #MeToo-Debatte zeugt davon, dass wir noch sehr weit von der Gleichstellung entfernt sind. Wissenschaftler veranschlagen, dass es bis dahin noch etwa 100 Jahre dauern wird.
Darüber hinaus finde ich die Verwendung des Begriffes „Flüchtling“ problematisch. In der Genfer Flüchtlingskonvention wird ein Flüchtling, von mir verkürzt, als Person definiert, die „aus der begründete(n) Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will; oder die sich als staatenlose infolge solcher Ereignisse außerhalb des Landes befindet, in welchem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen der erwähnten Befürchtungen nicht dorthin zurückkehren will“.
Natürlich gab es auch vor 2016 Flüchtlinge in Deutschland, das Recht auf Asyl ist eine Konsequenz des Dritten Reiches, nur leider eine, die immer mehr in Vergessenheit gerät. Mir macht es Angst, wenn jemand mit solchen Begriffen unpräzise um sich wirft.
Diskriminiert, aber nicht mit dem Tod bedroht
Ich würde gern 20 oder 25 Jahre in der Geschichte zurückgehen, hin zu dem Zeitpunkt, über den Alexandra Berlin schreibt: „Auch meine Eltern flohen aus ihrer Heimat.“ Ich nehme an, die Autorin kam genauso wie ich als „jüdischer Kontingentflüchtling“ nach Deutschland. Dass „wir“ geflohen sind, stimmt glücklicherweise so nicht, wir sind eher diejenigen, die viele in Deutschland als „Arbeitsmigranten“ bezeichnen. Wir sind – je nach Perspektive – das Schlimmste, was Deutschland passieren kann. Wenn wir uns heute, gut zwei Jahrzehnte nach unserer Migration, über den Zuzug von anderen Gruppen nach Deutschland streiten, könnte man sich fragen, ob uns nicht eher ein wenig Desintegration besser täte, um uns an unsere eigene Einwanderung zu erinnern. Aber vielleicht sind die Eltern von Alexandra Berlin tatsächlich während des Kalten Krieges aus der UdSSR geflohen. „Sie wurden in Russland als Juden diskriminiert.“
Genau, wir wurden diskriminiert, aber auf uns wurden keine Bomben geworfen, wir mussten nicht hungern, wir wurden nicht gefoltert, wir mussten keine Giftgasattacken über uns ergehen lassen. Wir sind nicht „geflohen“ und wir mussten zu keinem Zeitpunkt nachweisen, dass wir verfolgt wurden. Wir mussten auch keine Meere überqueren, kamen mit Flugzeugen, Bahnen und Bussen und waren sofort im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltsgenehmigung. Gar nicht so schlecht also.
Nicht nur wir kamen, seit 1987 kamen circa 2,4 Millionen „Spätaussiedler“, also Russlanddeutsche und noch eine Viertelmillion russischsprachiger jüdischer Migranten hinzu. Eine stolze Zahl. Die meisten sind heute bestens integriert – sofern man von Faustkämpfen in der jüdischen Gemeinde absieht.
Auch in der ehemaligen UdSSR hat man so einiges über die Juden gelernt, vielleicht nicht in der Schule, aber in Metro-Unterführungen, in denen es en masse Die Protokolle der Weisen von Zion zu kaufen gab. Trotzdem erinnere ich mich nicht, jemals von Russlanddeutschen als eine Gefahr für die Juden gehört zu haben. In russischen Schulen lernt man heute so einiges über Homosexualität, dennoch werden zum Glück nicht alle oder sagen wir mal „viele“ Russen als eine Gefahr deklariert.
Omnipräsenz syrischer Geheimdienste
In der Einleitung zu dem Text von Alexandra Berlin heißt es, bisher hätte die Autorin sich nicht vor dem Antisemitismus in Deutschland gefürchtet. Kann dieser Satz wirklich von der Autorin selbst stammen? 1996, ein halbes Jahr nachdem wir in Deutschland angekommen waren, wurde mein kleiner Bruder zum ersten Mal zu einem Schulfreund nach Hause eingeladen. Es war für uns ein kleiner Sieg der Integration. Die Eltern jenes Schulfreundes erzählten Judenwitze. Viele, sehr, sehr viele. Sie halfen bei der Integration, wie sie sich ausdrückten. Wobei das Wort damals noch nicht in Mode war und sie es mit ihren Worten umschrieben. Kürzlich wurde unser Haus an eine israelische Immobilienfirma verkauft – die Kommentare mancher Hausbewohner, alle deutsch und stolz darauf, hätten genauso gut 1941 fallen können. An Schärfe und Bestimmtheit mangelte es ihnen nicht. Es sind nicht die einzigen Beispiele für den Antisemitismus in Deutschland.
Ein wenig weiter im Text beschreibt die Autorin ihre Teilnahme an einem Gespräch mit Geflüchteten über den Antisemitismus: „Die meisten Anwesenden wollen in einem solchen Clip nicht vorkommen. ‚Dann sehen wir aus wie Judenfreunde‘, sagt einer. ‚Meine Eltern werden mich verfluchen‘, ein anderer“, heißt es in dem Text, als die Veranstalter einer Diskussion das Gespräch filmen möchten. Der Text schürt an dieser Stelle Empörung, allerdings kann diese Aussage auch ganz, ganz anders interpretiert werden. Jemandem, der wie die Autorin als Reporterin im Nahen Osten gearbeitet hat, sollte eine Sache bekannt sein: In Syrien ist es nicht nur gefährlich, sondern auch mit dem Tode strafbar, sich für Israels Belange auszusprechen. Tut man dies, wird man wegen Spionage verhaftet und nicht selten ermordet. Der Vorwurf lautet, entweder Informationen für den Mossad zu sammeln oder selbst ein ausländischer Agent zu sein. Auch Familien und selbst Freunde oder Nachbarn können sofort verhaftet werden. Die syrischen Gefängnisse sind nicht die angenehmsten, die Menschen werden dort gefoltert und umgebracht. Meistens geschieht dies bereits auf der Polizeistation oder in den Räumen eines der Geheimdienste, von denen es Dutzende gibt und von denen jeder eine eigene Zweigstelle in jedem Land und jedem noch so winzigen Dorf in Syrien hat.
Die Furcht, mit Israel in Verbindung gebracht zu werden, sitzt tief und sie bleibt auch noch in Deutschland, auch hier ist der syrische Geheimdienst aktiv. Man kann auch auf Zusammenkünften von „Flüchtlingen“ Mitarbeiter der Geheimdienste beobachten. Sie beobachten, verfassen Berichte, fotografieren, lassen die Menschen auch hier nicht in Ruhe. Natürlich würde niemand, der auch nur annähernd bei Verstand ist, sich für Israel aussprechen und seine Familie in Syrien in zusätzliche Lebensgefahr bringen. Die meisten Menschen sind froh, wenn sie dem Thema aus dem Weg gehen können.
Zu antisemitischen Aussagen provoziert
Es ist eine gefährliche und fragwürdige Strategie, Menschen, die um das Leben ihrer Familie bangen, ein Bekenntnis abtrotzen zu wollen. Dies geschah vor Kurzem auch während der Herausgabe einer Anthologie von immigrierten arabischen Schriftstellern, in der es eigentlich um ihr Schreiben hätte gehen sollen, im Vorwort der Herausgeber aber unbedingt erwähnt werden musste, dass die Idee zu dieser Anthologie ihnen in Israel gekommen sei. Es ist sehr schön für sie, und in einem Staat wie Deutschland, so wie wir ihn kennen, ist es sicherlich ein pittoreskes Detail, das Aufgeschlossenheit und Internationalität symbolisieren könnte. Nur handelte keiner der veröffentlichten Texte von Israel. Auch Palästina war kein Thema. Als die Autoren darum baten, das Wort „Israel“ zu streichen, da es ihre Familien in Lebensgefahr bringen würde, wurde ihnen dieser Wunsch verwehrt. Mehr noch, sie wurden dazu provoziert, eine antisemitische Aussage zu machen. Nur kam von ihnen keine.
Ich bin die Enkelin einer Holocaustüberlebenden und ich bin mir ziemlich sicher, dass meine Großmutter, deren Familienangehörige mit zwei Ausnahmen während des Holocausts ermordet wurden, nicht gewollt hätte, dass Familien in Syrien sterben, nur weil jemandem in Israel eine Idee zu was auch immer gekommen ist und das dann etwa in dem Vorwort zu einer Anthologie erwähnt werden muss.
Natürlich gibt es auch unter den Flüchtlingen Antisemitismus. So wie es Rassismus unter den Juden gibt, von denen viele liebend gerne auf Sawsan Chebli losgehen.
Gibt es Antisemitismus unter den „Flüchtlingen“? Natürlich. Ist es problematisch? Selbstverständlich, aber dieses Problem nur auf die Flüchtlinge auszulagern wäre falsch und gefährlich.
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