Warum haben Menschen Angst vor Migration? Wir alle sind Geflüchtete. Eine Speichelprobe hat mir die Geschichte meiner Familie erzählt. Sie wird bei allen ähnlich sein.
Es geschah im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts in einem kleinen Dorf in Westafrika, unweit der Atlantikküste, wo die Geschichte zwar längst nicht begonnen hatte, aber wo sie einen nächsten entscheidenden Wendepunkt nahm: Eine meiner Ur-Ur-Ur-Ahninnen ergriff die Flucht. An sich keine spektakuläre Sache in den Annalen meines Klans, aber diesmal sollte sie nicht nur interkontinentale Ausmaße haben, sondern derartige Konsequenzen, die die jüngsten genuinen Linien meines Geblüts im (für historische Verhältnisse) „Affentempo“ verbogen.
Sie (nennen wir sie Dalanda) stand kurz vor ihrer Volljährigkeit, eine schmale, hochgewachsene Nymphe, vielleicht die zweitschönste in ihrem Dorf, die ihrem Namen durch ihre Neugier, ihren Einfallsreichtum und Witz alle Ehre machte. Doch ihre Kindheit und Jugend waren bestimmt von der Angst der Familie und der Dorfbewohner vor Überfremdung. Über die nördliche Atlantikroute kamen mehr und mehr Schiffe mit fremdartigen, männlichen Einwanderern, meist abgemagerte, weißhäutige Franzosen oder Spanier ohne größere Bildung, die aus den kalten, ärmlichen „Scheißlöchern“ Europas kamen, um in der warmen, paradiesischen Elfenbeinküste die gesellschaftliche Freizügigkeit auszunutzen und am uneingeschränkten Zugang zu den Reichtümern der Natur teilzuhaben. Die Dorfältesten nannten sie verächtlich „Weißes Pack“. Die Frauen wurden angehalten, sich von diesen Männern fernzuhalten, denn sie fürchteten nichts mehr als den Untergang ihrer Kultur.
Als kleines Mädchen stahl Dalanda sich manchmal unter einem Vorwand aus der Lehrstunde, suchte sich ein gutes Versteck am Hafen und beobachtete von dort aus fasziniert die Ankunft der Weißen, deren Haut nie so weiß war, wenn sie ankamen, sie war eher dunkel vom Dreck der wochenlangen Überfahrt.
Vor zwei Wochen legte wieder so ein Schiff mit Weißen an, aber diesmal stieg ein Mann aus, dessen Haut so rein und so weiß war wie sein Hemd und der solch türkisfarbene Augen wie das Meer selbst hatte, dass Dalanda dachte, die Götter höchstpersönlich hätten ihn geschickt. Dieser Jüngling aus Frankreich, nennen wir ihn Elliot, war gekommen, um die Sprache und Kultur der Einwohner zu studieren und ein Buch darüber zu verfassen. Doch niemand im Dorf wollte ihm dabei behilflich sein – bis auf Dalanda. Sie traf ihn nur nachts und immer nur für drei Stunden und weihte ihn heimlich in die Welt ihrer Vorfahrinnen und Vorfahren ein. Dalanda wusste, dass das ein Verbrechen war. Und sie wusste, als Elliot sie küsste, dass von da an nichts mehr so sein würde wie vorher. Bald erfuhr ihre Familie von ihrer Liaison mit dem Franzosen, und bald bemerkte sie ihre Schwangerschaft. Und Elliot liebte sie aufrichtig. Dalanda floh mit ihm vor dem Mitleid ihrer Familie und dem Gefühl der Schande, aber sie floh in die Hoffnung auf ein glücklicheres Leben mit ihm. Monatelang zogen sie übers Festland Richtung Norden, ausgezehrt von der Hitze, von Unwegsamkeiten und unzähligen Betrügereien, aber getrieben vom Adrenalin der Neugier, bis sie endlich den Hafen von Melilla erreichten und mit einer Schaluppe nach Europa übersetzten.
Am Grab weinten nur Frauen
Und weil Elliot sich nicht mit einer (schwarzen) Frau wie Dalanda zu Hause sehen lassen konnte, versteckten sie sich im Sommerhaus bei Freunden auf Sardinien. Dort brachte Dalanda einen Jungen zur Welt, nennen wir ihn Jacopo, dessen Haut wie Honig glänzte und dessen krauses Haar rötlich-braun in der Sonne schimmerte. Elliot verdiente sich Geld als Lehrer und Dalanda versteckte sich meistens im Haus, weil sie die verächtlichen Blicke der Dorfbewohner nicht aushalten konnte. Sie kümmerte sich um ihren Sohn, unterrichtete ihn und konnte ihm keinen Wunsch abschlagen, er war der Blickfang der gesamten Insel.
Und Jacopo wuchs heran, ein Mann so schön und schlau und redegewandt, er wurde ein Dandy und Womanizer. Und als ihn eines Tages ein einflussreicher Mann aus Florenz und Vater einer seiner vielen Freundinnen, einer seiner eher mittelschönen, aufsuchte, ihn für die Schwangerschaft seiner Tochter zur Rechenschaft zog und ihn aufforderte, sie zu heiraten, da floh Jacopo vor der Verantwortung und vor dem Gerede der Leute. Etwas übereilt nahm er das lukrative Angebot eines schwedischen Orthopädieschuhmachers an, der gerade aus Nordafrika zurückgekehrt und auf der Durchreise war, und stieg in seine neu gegründete Schuhmanufaktur im schwedischen Lund ein. Er sollte überdies das Gesicht auf den Werbeschildern sein, das lachende Gesicht zum gesunden Schuh für den modernen Mann.
Er sollte, denn leider hatte sich sein Partner finanziell derart übernommen, dazu wurde ihm die staatliche Unterstützung gekürzt, hinzu kamen noch (aufgrund eines Überfalls auf das Schiff) Material-Lieferausfälle, dringend benötigtes Leder, das er in Nordafrika bestellt hatte, so dass der schwedische Unternehmer Bankrott ging und sich kurz darauf das Leben nahm.
Aber Jacopo hatte genug Charme, um zu überleben. Er wurde dem Schwedischen sehr schnell mächtig und verzauberte mit seinem italienischen Singsang die Herzen der wohlhabenden Frauen von Lund. Offiziell blieb er unverheiratet und kinderlos. Wie viele Kuckuckskinder allerdings von ihm waren, darüber lässt sich heute nichts mehr sagen. Jacopo starb zu jung an den Folgen von Syphilis. An seinem Grab weinten nur Frauen, und einige Kinder, die sie bei sich hatten, sahen ihm verdächtig ähnlich.
Illegal in Schweden untergetaucht
Hier hätte die Geschichte offiziell zu Ende sein können, aber da war noch sein uneheliches Kind, das er in Italien zurückgelassen hatte, ein Mädchen, sagen wir mit dem Namen Beatrice, die heimlich bei Dalanda und Elliot aufwuchs, um der einflussreichen mütterlichen Familie in Florenz keine Schande zu machen. Beatrice hatte die türkisfarbenen Augen ihres Großvaters, die hagere, hohe Statur und den Witz ihrer Großmutter und wildes, sehr wildes lockiges blondes Haar. Kaum war sie 16 Jahre alt, suchte sie ihr Großvater aus Florenz auf, er kreuzte gemeinsam mit einem greisenhaften Herren auf, einem reichen Kaufmann aus Mailand, und verkündete, dass Beatrice diesen Mann heiraten solle, um die Ehre der Familie wiederherzustellen. Noch in derselben Nacht ergriffen Beatrice und Dalanda gemeinsam die Flucht mit allem Geld, das Elliot für sie auftreiben konnte. Sie wollten Jacopo finden und machten sich auf die Suche nach ihm. Elliot, der gesundheitlich schwer angeschlagen war, kehrte zu seiner Familie nach Frankreich zurück.
Unweit von Lund wurde Dalanda Opfer eines rassistischen Überfalls. Beatrice war nun auf sich allein gestellt, und wie ihr Vater hatte sie Glück. Sie traf schnell auf die Frau eines schwedischen Großunternehmers, die Jacopo mehr als nur kannte, die Beatrice zu sich nahm und von seinem Schicksal berichtete. Beatrice schrieb Großvater Elliot einen langen Brief an die Adresse, die Großmutter Dalanda vor Urzeiten mal in ihr Notizbuch geschrieben hatte. Aber eine Antwort erhielt sie nicht. Sie traf bald (und eher zufällig) auf einen norwegischen Desertierten, nennen wir ihn Svein, der (überzeugter Patriot) für die dänische Krone im napoleonischen Feldzug gegen Schweden in die Schlacht ziehen sollte und sich aber bei Nacht und Nebel auf dem Weg an die Front davongeschlichen hatte. Er war daraufhin illegal in Schweden untergetaucht und hatte für einen Bauern gearbeitet, um an finanzielle Mittel zu kommen. Ein Hüne mit rotbraunem Haar und stechend blauen Augen. Er wollte weiter nach England, um dann über den Atlantik nach Amerika auszuwandern. Svein verliebte sich in Beatrice und Beatrice in ihn. Und kurz darauf brannten sie gemeinsam durch. Svein flüchtete vor dem Gesetz und Beatrice aus Liebe und vor der Alternativlosigkeit.
Nach tagelanger Überfahrt auf einem eher klapprigen Kahn erreichten sie Edinburgh. Sie zogen weiter ins Landesinnere bis an die Küste auf der anderen Seite der Insel, bis nach Ayr. Einige Monate vergingen, bis sie einen kleinen Hof übernehmen konnten, gerade noch rechtzeitig, bis Beatrice einen Sohn zur Welt brachte, Angus Thore Jacopo. Der erste Name ein schottischer, um ihn zu erden, der zweite Name kam von Sveins Vater und dahinter der von Beatrices Vater.
Die nächste Fähre nach Liverpool
Lange währte ihr Glück leider nicht. Die Dorfbewohner ächteten sie, weil sie Ausländer waren, dazu noch ein gemischtes Paar und unverheiratet. Aber auch nach ihrer Hochzeit änderte sich nichts. Svein geriet mehr und mehr in Streitigkeiten mit einem Nachbarhof, die sich zu handfesten Kleinkriegen entwickelten, bis eines Tages Svein und der Nachbar derart in Rage gerieten, dass Svein die Beherrschung verlor und ihn ermordete. Er wurde verhaftet und zu lebenslang verurteilt. Bald darauf bekam Beatrice die Nachricht, dass er sich in der Zelle erhängt hatte.
Auf dem Hof konnte und wollte sie nicht bleiben. Sie ertrug die Feindseligkeiten nicht mehr. Hals über Kopf verkaufte sie das Anwesen viel zu günstig, packte die wichtigsten Dinge, sammelte alles Geld zusammen und nahm ihren Sohn. Sie heuerte einen Bootsmann an, der sie zunächst auf die irische Insel, nach Belfast bringen sollte. Die ersten Tage wohnte sie in einer billigen Pension. Und bald fand sie eine Anstellung als Hausmädchen bei der Familie O’Brian, bei der sie ihren Sohn tagsüber mit den Kindern der Herrschaften unterbringen durfte. Dort schrieb sie ihrem Großvater Elliot erneut einen langen Brief nach Frankreich. Aber auch jetzt bekam sie wieder keine Antwort. Die Monate zogen ins Land, Angus war bereits ein Jahr alt und Mrs. O’Brian sah der Niederkunft mit ihrem achten Kind entgegen, als Beatrice plötzlich eine Rose auf ihrem Bett vorfand. Zunächst dachte sie sich nichts dabei. Beim nächsten Mal lag allerdings ein Brief mit dem Siegel der O’Brians daneben. Mr. O’Brian erwartete sie um Mitternacht am Hintereingang des Hauses. Aus diesem Treffen entwickelte sich eine Affäre, die Beatrice vom ersten Tag an bereute, die sie aber leider nicht verhindern konnte. Sie wusste, dass, wenn sie nicht mitspielte, er sie hinauswerfen lassen würde. Und sie wusste, dass, wenn seine Frau davon erfahren sollte, sie sie ebenfalls sofort entlassen würde. So gut Beatrice konnte, verheimlichte sie die Liaison, aber sie wurde alsbald schwanger. Und die Schwangerschaft schritt voran. Und sie hätte für ihren Zustand auch leicht eine wahre Lüge erfinden können, wäre ihr nicht Mr. O’Brian zuvorgekommen. Der hat die Affäre kurzerhand beendet und ihre Anstellung gekündigt.
Beatrice beschloss, zu ihrem Großvater nach Frankreich zu fahren. Mit Angus bestieg sie die nächste Fähre nach Liverpool, von wo aus sie die nächste Fähre Richtung Süden nehmen wollte. Aufgrund eines Unwetters war der Fährbetrieb allerdings lahmgelegt. Beatrice hatte kaum finanzielle Mittel zur Verfügung. Sie fand keine bezahlbare Unterkunft. Sie suchte sich einen Unterschlupf im Wartesaal eines Krankenhauses und versteckte sich so gut sie konnte. Eine Nacht hatte sie das Mitleid einer Schwester, die sie mit dem kleinen Jungen nicht auf die Straße werfen wollte. Aber die Nachtschwester am nächsten Tag verfuhr streng nach Vorschrift und setzte sie mit dem Betriebsschluss am frühen Abend vor die Tür. Sie und Angus stellten sich unter einen Vorsprung, um sich vor dem Regen zu schützen, als ein Mann auf sie zukam. Er betrachtete Beatrices wilde Locken, warf einen Blick auf den kleinen Jungen und einen auf ihren gewölbten Bauch und bot ihr einen Unterschlupf bei sich zu Hause an. Arthur, nennen wir ihn so, war kein Adonis, das kugelrunde Gesicht, das spärliche Haar, die stets benässten, wulstigen Lippen, das steife Lächeln, aber er war herzensgut. Er war angestellt bei einer englischen Privatbank. Beatrice gewöhnte sich an ihn, sagen wir es so, sie liebte ihn nicht, aber sie fühlte sich sicher und sie mochte seinen morbiden Humor. Er war zwar oft betrunken, aber wollte ihr alle Wünsche erfüllen. Arthur heiratete sie und adoptierte Angus. Und dann brachte sie das Kind O’Brians zur Welt, ein Mädchen, nennen wir sie Natalie Dalanda.
Mit einem griechischen Partisanen
Langsam schien Beatrices Leben in ruhigen Bahnen zu verlaufen. Sie verfasste einen nächsten Brief an ihren Großvater, auch um ihm ihre neue Adresse mitzuteilen, aber ein paar Jahre zogen ins Land, ohne eine Reaktion von ihm. Eines Tages kam Arthur ungewöhnlich früh nach Hause, mit einem Koffer. Er war nervös, er bat sie, das Wichtigste und die Kinder zusammenzupacken. Sie verschwanden noch in derselben Nacht, verließen England über Dänemark, nahmen dann unzählige Kutschen kreuz und quer über den europäischen Kontinent, um schließlich in Karlsbad unterzutauchen. Erst hier erfuhr Beatrice den Grund für die Flucht. Arthur, der zwanzig Jahre lang ein treuer und loyaler Angestellter bei der Bank war, wurde gekündigt, ohne Angabe von Gründen. Nur aufgrund von Rationalisierungsmaßnahmen. Er griff sich noch am selben Tag alles Geld, das er in der Bank finden konnte, verstaute es in einem Koffer und ging nach Hause. Während der Reise tauschte er Teile davon in andere Währungen. Von einem Teil dieses Geldes kaufte er ein zweistöckiges Reihenhaus unter dem Familiennamen Sacher, ein geläufiger Familienname in dieser Gegend, den Arthur und die Familie ab da an offiziell trugen.
Das erste Jahr verging fast lautlos. Arthur fürchtete jeden Engländer, der zur Erholung in die Kurstadt kam. Beatrice überredete ihn, irgendwo aufs Land zu ziehen und das Haus zu verkaufen. Das taten sie und zogen auf einen Hof in der Nähe eines kleinen böhmischen Dorfes. Hier kam bald Beatrices drittes Kind zur Welt, nennen wir es Johann Elliot.
Die Jahre vergingen. Die Kinder wuchsen heran. Natalie Dalanda, eine Pummelige mit Potenzial für eine Landpomeranze, brannte eines Tages (gegen den Willen ihrer Eltern) mit einem jungen griechischen Partisanen (sagen wir: Kassandros) nach Griechenland durch und schloss sich dort dem Unabhängigkeitskampf an. Kassandros stirbt in den Unruhen. Und sie kehrt fünfzehn Jahre später mit zwei kleinen Töchtern heim, Franziska und Barbara. Arthur und Beatrice sind bereits tot. Natalie heiratet schließlich einen böhmischen Finanzbeamten und zieht nach Pilsen. Angus hatte seinen Namen in Albert geändert und führte den Hof. Johann versuchte sich nach einer jüngsten Pleite mit der Gründung einer Porzellan-Manufaktur.
Wir stecken jetzt tief im 19. Jahrhundert. Weitere Hochzeiten über Dörfer und Kulturen hinweg, Kinder, Todesfälle, Geschäfte, Bankrotts wechseln sich ab. Reiche zerfallen, der Erste Weltkrieg und dann der Zweite. Und schließlich fliehen meine Großeltern Emma und Edmund (väterlicherseits) mit Erhard und (mütterlicherseits) meine Großmutter Frida mit ihren sieben Kindern aus den sogenannten Ostgebieten in den “Osten” weiter westlich. Und ich? – Ich fliehe dann (wie kann es anders sein) im Frühsommer 1989 aus diesem “neuerlichen Osten” und bewege mich seither ebenso rastlos über die Kontinente wie alle meine Vorfahren.
Die Kunst des Fliehens
Diese Geschichte verdanken wir zwei genealogischen Tests, die zwar nicht in allem identisch sind, aber sich in der Grundaussage decken. Den mit dem ausführlicheren Ergebnis (23andme) nutze ich hier zur Illustration. Letztes Jahr schickten wir (meine Mutter, mein Bruder, mein Mann, meine Tochter und ich) je eine Speichelprobe an zwei transatlantische Labors. Mit dem Tag, als ich die Ergebnisse sah, änderte sich mein Bewusstsein über das, woraus ich gemacht bin.
Ich kann wohl mit Fug und Recht behaupten, ausgewiesene, Jahrhunderte alte Expertise in Sachen Flucht zu haben. Ich beherrsche die Kunst des Fliehens aus dem Effeff: Fliehen vor dem Gesetz, vor Mitleid, vor der Verantwortung, vor der Enge der Provinz, vor der Ideologie und dem Staat, vor einem selbst, vor den Schulden und für die eigene Sache, für die Liebe und für die Träume. Sogar ein halbseidener Test in Facebook, der vorgibt, anhand des Fotos die ethnischen Zugehörigkeiten schätzen zu können, bescheinigt mir (wenngleich lücken- und fehlerhaft) eine ähnliche Qualifikation.
Und warum erzähle ich diese Geschichte? Weil ich als Thüringerin bezeichnet werde, und das zu Recht! Denn ich bin dort geboren und aufgewachsen. Thüringen war mein Biotop, das mich geprägt hat, jedenfalls die ersten 18 Jahre meines Heranwachsens. Und kein Mensch und keine Autorität bezweifelt das, obwohl ich die erste Generation auf diesem (deutschem) Gebiet bin. Eigentlich bin ich nicht von da oder doch? Ist es nicht unerheblich, woher jemand kommt? – Wohin jemand will, ist doch entscheidender? Ein Mensch, der sein Leben in einem Gebiet verbracht und dort mitgespielt hat, gehört auch dorthin, solange er dort sein möchte. Und wann gehört jemand wirklich dorthin, wo er sein möchte? Wenn er am großen Spieltisch mitspielen kann (natürlich nach dessen Regeln), aber auch um den Hauptgewinn.
Meine Geschichte könnte so oder anders gelaufen sein. Wichtig ist nicht, dass sie genau so gelaufen sein muss, sondern dass diese Geschichte womöglich exemplarisch für europäische Familiengeschichten ist. Die Geschichte meiner Ahninnen (und somit auch meine Geschichte) hat aber nicht nur die Dramaturgie der interkulturellen Kopulation, sondern auch der zwischenartlichen.
Meine Geschichte ist keine besondere. Fluchtbewegungen sind uns sogar ins Gesicht geschrieben, aber niemand kann oder will sie heute aus den Gesichtern lesen. Doch wer die Menschen auf den Straßen aufmerksam betrachtet und einmal seinen national-kulturell eingeklemmten Blickwinkel vergisst, der wird vielleicht erkennen und erahnen, dass sich kaum einer von uns hier schon sehr lange aufhält. Wir sind alle irgendwann hier gelandet, von irgendwoher gekommen, aus irgendeinem Grund.
Angst für Überfremdung als Illusion
Die Balkanroute ist seit Jahrtausenden eine der Hauptschlagadern des europäischen Organismus, und Fluchtbewegungen sind seit jeher die Kraftwerke im europäischen (und weltweiten) Genpool. Sie erschaffen und stabilisieren erst die Diversität, auf die Europa so stolz ist.
Und trotzdem kursiert die Angst vor Überfremdung seit jeher beim Auftauchen größerer Migrationswellen. Und diese Angst ist nicht rechtsradikal, sondern vorinstalliert. Denken wir zurück an die 1930er-/40er-Jahre des 20. Jahrhunderts. Endlose Flüchtlingsströme von Deutschen, die in Marseille ein Schiff bestiegen, um in die USA auswandern zu können. Ja, Deutschland war damals eines der größten „Scheißlöcher“ Europas (wenn ich noch einmal diesen peinlichen Trumpismus bemühen darf).
Denken wir an eine Situation, in der jetzt drei Millionen Deutsche nach Laos auswandern, um dort ein neues Leben zu beginnen. Denken wir noch einmal an die Ankunft unzähliger Schiffe mit weißen Männern an den Küsten Afrikas.
Aber Angst vor Überfremdung ist eigentlich eine Illusion. Das kann man an meiner Ahnengeschichte ablesen. Meine Familie war vor 300 Jahren noch rein afrikanisch und schwarzhäutig. Heute habe ich einen deutschen Pass, habe eine doppelte deutsche Vertreibungsgeschichte am Hals und reichlich europäisches Genmaterial gesammelt (in verdammt kurzer Zeit). Mein Mann ist Israeli, ein Ashkenasi-Jude aus alter deutscher und alter russischer Familie mit ebenfalls noch Anteilen von in der übrigen Welt gesammeltem Genmaterial, und meine Tochter (über ihren Cocktail wollen wir lieber nicht reden) hat eine so weiße Haut wie Elfenbein, glattes, blondes Haar wie eine Semmel, blaue Augen wie das Meer und ist in guter deutscher Tradition des 19. Jahrhunderts musisch hoch begabt. Heute sind wir in dieser jüngsten Familiengeschichte nicht mehr wiederzuerkennen. Reicht das als erster Beweis?
Europa als aufgeklärtes Biotop
Warum ist eine Angst in Europa dennoch gerechtfertigt? Weil es eine andere Angst ist, die wir eigentlich haben und die nur verschüttet ist von ideologisiertem oder religiöshaftem Rassendünkel oder auch kontaminiert mit ideologisiertem Moralpredigerdünkel, der wie ein weißes, sauberes Spannbettlaken über die Angst vor eigenem Rassendünkel gespannt ist. Beide Ansätze verstellen uns die Sicht. Die Sicht auf unsere eigentliche Angst – vor Radikalisierung, denn die europäische Geschichte ist voll davon. Das Mittelalter hatte mit der eigentlichen Absicht der biblischen Texte so wenig zu tun wie der Islamismus mit der ursprünglichen Absicht des Koran und des Wortes Islam, nämlich Frieden zu finden. Eine Pegida oder Legida oder auch irgendwie politisch motivierte pseudochristliche Gegenwehr des sogenannten weißen Europäers ist der erste Schritt in ein erneutes dunkles Zeitalter. Davor sollten wir uns wirklich fürchten.
Erinnern wir uns eigentlich daran, dass noch vor einhundert Jahren die Christen die schlimmsten Radikalen, Fundamentalisten und Terroristen auf der Welt waren? Sie schlachteten gleichermaßen Muslime, Buddhisten oder Ungläubige noch bis ins 20. Jahrhundert hinein. Ist das die heroische europäische Kultur, die wir verteidigen? Nein!
Das Europa, das jedenfalls ich und viele, die ich kenne, verteidigen wollen, ist ein multikulturelles aufgeklärtes Biotop, in dem es nicht wichtig ist, wie wir aussehen oder woher wir kommen, sondern wie wir leben, was wir fühlen und wie wir miteinander umgehen. Wir verteidigen doch unseren Lebensstil und um ihn fürchten wir. Niemand, der nach Europa kommt, ist wirklich eine Fremde oder ein Fremder, sondern nur neu hier. Wir können leicht mit einem groß angelegten (europaweiten) genealogischen Gentest beweisen: Kaum einer von uns hier hat mehr die Gene der alten germanischen (oder indoeuropäischen) Völker. Und trotzdem existiert europäische Kultur noch und entwickelt sich stetig weiter.
Menschenrecht und Adrenalin
Dass ich eine Europäerin bin, spürte ich 1994 zum ersten Mal, als ich ein Praktikum bei einem Verlag in New York absolvierte. Nicht in Asien, Afrika oder Sibirien fühlte ich diese Identität so stark. Warum? Weil die Amerikaner so aussehen wie wir, weil sie natürlich alte Europäer sind, aber weil sie sich ein eigenes kulturelles Biotop geschaffen haben, mit anderen Selbstverständlichkeiten, die feine aber spürbare Unterschiede zu unserem Leben aufweisen. Und jede, die in die USA auswandert, wird, wenn sie bleiben und nicht untergehen will, Teil dieses Biotops, trotz Chinatown oder Little Italy. Es ist eine Haltung, die alle Parallelwelten verbindet. Die Matrix eines echten Einwanderungslandes.
Was läuft bei uns schief? Wir glauben, es gäbe hier Leute ohne Migrationshintergrund. Das ist eine Illusion. Wenn jemand nach Deutschland kommt, wird er an den Migrantentisch gesetzt. Oder an den Flüchtlingstisch. An den Vertriebenentisch. Menschen fliehen nicht nur vor dem Krieg, sondern auch für ihre Träume und Hoffnungen. Woandershin zu gehen, ist ein Menschenrecht und mit Adrenalin verbunden. Ich selbst habe schon an verschiedenen Orten der Welt gelebt und gearbeitet. Und wenn ich auswandere, dann will ich mitspielen – am großen Tisch: um den Hauptgewinn. Ich will kein Mitleid, keine Migrantin spielen am Migrantentisch und Migrantenspielregeln bekommen. Ich will alles, wie jeder andere auch. So komme ich am schnellsten an und lerne am schnellsten die Regeln. Ich erkämpfe mir meinen Platz. Das ist ein Menschenrecht. Ich will auch nicht an den verfickten Frauentisch! Eine befreundete amerikanische Autorin sagte mir neulich: „Ich will weltbester Autor sein und nicht weltbeste Autorin.“ Migrantentische, Vertriebenentische, Frauentische etc. führen zu Regelverletzungen, das sind Parallelspiele, die das große Spiel unterwandern, die den Hauptgewinn verweigern und zu Ausgrenzungen, Radikalisierungen und Stigmatisierungen führen. Und sie sind eine Illusion, eine falsche, altbackene und biedere dazu. Geben wir sie auf.
Und geben wir noch etwas auf. Die dumme Angst davor, dass Menschen sich nicht verändern könnten. Ich ziehe wieder die genuine Geschichte meiner aus Hochstaplern, Dandys, Romantikerinnen, Kleinkriminellen, Gelegenheitsmördern, Patrioten, Kreativen und noch mehr zwielichtigen Gestalten bestehenden Sippe heran. Eine der großen Technologien der Natur lautet: Anpassung. Das bedeutet in keinem Fall Selbstaufgabe, aber erneute Selbstdefinition unter anderen Bedingungen.
Die Souveränität einer Kultur wird durch ihre lässige und überzeugte Ausübung täglich gestärkt. Die Souveränität der europäischen Kultur basiert auf der Idee der Diversität, Freiheit und Demokratie. Hier sollte sich niemand wundern, wenn der Nachbar eines Tages mit einem rosafarbenen Plüsch-Kaninchen auf dem Kopf auf die Straße geht, weil er auf einer Webseite gelesen hat, dass er auf diese Weise ständig mit der großen kosmischen Quelle der Vitalenergie verbunden und nicht nur ein gesünderer, sondern auch ein besserer Mensch sei. Dafür wird er nicht mehr auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Ein Ergebnis eines Jahrhunderte andauernden blutigen Kampfes gegen radikales Denken von radikalen Arschlöchern. Okay wäre für uns auch, wenn er noch ein paar Leute um sich herum scharen würde, die es ihm gleichtäten und die sich durch lärmende Rituale dieser heiligen kosmischen Quelle erkenntlich zeigen würden. Das zöge sicherlich einige Schaulustige an, wir könnten das genießen. Blöd wäre es jedoch, wenn diese Gruppe beginnen würde, unsere neutralen Institutionen zu unterwandern und über unsere Finanzämter Gelder für ihren Kostümverein einzutreiben. Hier sähe ich die Souveränität der europäischen Kultur in ihrem Grundsatz der Glaubensfreiheit und der freien Konkurrenz unter den Bewusstseinsindustrien unterwandert und am meisten gefährdet, die selbst gesetzten Spielregeln verletzt und korrumpiert, weil Strukturen und Instrumente geschaffen würden, die eine einseitige Bevorteilung beförderten und damit ein Tor zur Radikalisierung installierten. Also die vollständige Trennung von Glaubensinstitution und Staat ist für eine erfolgreiche pluralistische Gesellschaft Voraussetzung.
Zurück zur Angst
2012 hielt ich mich einen Monat in Sarajevo auf Einladung des Goethe-Instituts auf. So hätte auch jede Stadt am Mittelmeer aussehen können, mediterraner Lebensstil, viel Espresso, fröhliches, geschwätziges Gemüt. Hätte ich nicht vorher darüber gelesen, ich hätte es nicht vermutet. Der Großteil der Bevölkerung ist muslimisch. Kopftücher waren kaum zu sehen. Und ein Journalist von Al Jazeera (der Sohn eines ehemaligen Imams) erzählte mir, dass gerade die Saudis versuchen, durch Bestechungsgelder in der Höhe eines Monatsgehalts, die Frauen dazu zu bringen, Kopftücher zu tragen. Aber die EU hat sich vom Balkan abgewandt. Ihre Politik dort ist gescheitert, dabei ist der Islam auf dem Balkan sehr, sehr alt und sehr, sehr europäisch verwurzelt. Über neuerliche Rekrutierungen von Seiten des ISIS brauchen wir uns nicht zu wundern. Wir haben sie im Stich gelassen und sie als Mitspieler stigmatisiert und aus dem Spiel geworfen.
Es gibt keine Lebenshaltung oder Glaubensrichtung, die wir hier auf diesem Kontinent nicht ausüben könnten und nicht schon ausgeübt hätten. Und das muss mindestens jeder Abgeordnete und Diplomat (und eigentlich auch jeder Europäer) aus der europäischen Geschichte wissen, wenn er nicht als korrupter Radikaler oder (schlimmer noch) geistiger Tiefflieger enttarnt werden möchte. Der Balkan ist zudem die Wiege und die Schleuse der europäischen Kulturen. Also bitte aufhören, diesen Unsinn zu verbreiten und politisches Kapital daraus zu schlagen.
Zurück zur Angst. Diese Angst vor Überfremdung, die viele spüren angesichts größerer Einwanderungswellen, ist ein Gefühl, das wir nicht einfach vom Tisch wischen und stigmatisieren können. Wir müssen uns damit beschäftigen, gerade weil diese Angst unserer europäischen Kultur und unserem Lebensstil widerspricht, die und den wir so vehement verteidigen. Jeder ist anfällig für eine radikale Haltung, aber diese Haltung verstellt den Blick auf das ganze Bild und führt zu Fehl- und Kurzschlüssen. Wie wäre es, wenn wir (zunächst deutschlandweit) den genealogischen Gentest zum Usus machten, finanziert von der Krankenkasse oder einem einzurichtenden Bewusstseins-, Deradikalisierungs- oder meinetwegen Antirassismusfonds? Und von da an bekommt jedes Neugeborene sein genuines Cluster. Wir würden wahrscheinlich schnell verstehen, was wir wirklich als Nächstes tun müssen, um hier in Europa alle miteinander weiter Spaß zu haben. Aus meiner Erfahrung kann ich nur sagen: Einwanderung ist keine Bedrohung für die europäische Kultur. Es ist nur unsere Angst. Und die Radikalisierung dieser Angst hat in der europäischen Geschichte die dunkelsten Kapitel hervorgebracht.
Die höfliche Bitte um Verständnis
Wir wissen heute, dass Wanderbewegungen von Afrika weg und auch wieder zurück verliefen. Und von dort wieder weg und so weiter. Der Begriff Flüchtling ist politisch motiviert, ein ideologisches, entmenschlichendes Monster, das von den persönlichen Geschichten der Menschen ablenken will, die uns vielleicht interessieren und berühren würden. Schlimmer ist noch der Begriff Wirtschaftsflüchtling, der dem Geflüchteten das Recht aberkennen will, sein Glück an einem anderen Spieltisch zu versuchen. Meine väterliche Linie reicht 680 Generationen zu einem Mann zurück, der vor ungefähr 17.000 Jahren gelebt hat, als er Afrika gerade verlassen hatte und zum ersten Mal den europäischen Kontinent betrat. Wenn er mich jetzt fragen würde, wie die Welt dort heute aussehe, was soll ich ihm sagen? Hat sich seine Reise dahin gelohnt?
Diese Schrift hier ist ein kleines humanistisches Manifest am Anfang des 21. Jahrhunderts, das keine radikalen Stürme entfesseln möchte. Im Gegenteil. Es bittet sehr höflich um Verständnis für unser Vergessen und Verdrängen angesichts der schmerzhaften Geschichte unseres Kontinents, es empfiehlt aber ein Wiederbewusstwerden für die, die wir alle einmal waren und hier geworden sind, woher wir alle kamen und was wir alle durchgemacht haben. Es bittet um Rücksicht auf unsere uralten Ängste und Vorbehalte voreinander und unsere Lage, es spricht sich aus für Contenance und Optimismus, und angesichts der nächsten Herausforderungen – wie dem baldigen Auftauchen einer weiteren Art in unserem Leben in Form von menschenähnlichen Hubots, einem Newbie ohne afrikanische Wurzeln, ohne Wurzeln überhaupt, der aber von uns lernen soll, menschlich zu sein und mit uns umzugehen – rät es bloß eines: Entspannt euch, bitte. Auch ganz links. Und auch ganz rechts.
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