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Nach der Hölle kommt nichts mehr

 

Ja, die Pubertät in Österreich, was für eine Naturgewalt! Voller Todessehnsucht, Übermut und Sinnlosigkeit. Davor gab es leider nur eine Rettung.

© Photofusion / Getty Images

Als Heranwachsender suchte ich wie jeder andere Sicherheit und Orientierung, etwas, an dem man sich festhalten kann. Zumal diese Zeit meines Lebens gepflastert war mit Toten, fast wie bei Django: Der Bauer nördlich unseres Hauses erhängte sich, als ich sechs war. Der Sohn des Bauern westlich unseres Hauses erschoss sich wenig später. Die Mutter eines Freundes sprang in die Güllegrube und tauchte nicht mehr auf. Der Sohn eines Freundes meines Vaters, eines Gendarms, erschoss sich mit dessen Waffe. Es war ganz schön was los!

Das stellte das Leben als solches für uns Heranwachsende gewissermaßen unter Generalverdacht. Die hohen Berge ringsherum, das tiefe Elend inmitten? Oder doch etwas ganz anderes?

Von den Großen kam dazu nicht viel als Antwort. Niemand aß glutenfrei damals, um besonders lange zu leben, das war einfach kein Ziel; auch war niemand durch das Betrachten von Kunst im Museum so verstört, dass er sich deswegen gleich umbringen musste. Von den Großen kam dazu also nur Schulterzucken und irgendetwas mit „der Herrgott“. Und dann: „Geht’s wieder spielen!“

Sie rauchten dabei ihre Zigaretten, denn Zigaretten gaben Sicherheit, und die brauchten sie selbst. Die Zigaretten hießen Hobby, Smart oder Milde Sorte und kamen noch aus der staatseigenen Austria Tabak. Staatseigentum gab auch Sicherheit. Wir rauchten sie bald selbst und wollten dabei so cool aussehen wie die Erwachsenen.

Irgendeinen Sinn musste das Leben ja haben

Dann kamen die ersten deutschen Gäste ins Tal und brachten Stuyvesant und Ernte 23 mit, den Duft der großen, weiten Welt! Hamburger Hafen und Osnabrück, das sollte man sich mal anschauen, später. Sie kamen in ihren Audis 100 C1 in schönem Rostbraun oder sattem, dunklem Grün, und setzten dem Trend zum Selbstmord für uns Heranwachsende etwas bis dahin Ungekanntes entgegen: Schönheit und Stil. Was für herrliche Autos die Deutschen damals bauten! Solche wollten wir irgendwann haben.

Allerdings kamen viele dieser Audis und BMWs erst gar nicht bei uns an, das war ein kleiner Rückschlag für einen Pubertierenden. Sie landeten zerknüllt im Straßengraben oder wickelten sich um einen Brückenpfeiler. Die Deutschen näherten sich unserem engen Tal nämlich über die sogenannte Gastarbeiterroute, die an unserem Ort vorbeiführte, von Norden nach Süden und umgekehrt.

Die Straßen waren damals ein Schlachtfeld, Todesursache: Rasen in Kombination mit Selbstüberschätzung. Airbag und Sicherheitsgurt gab es nicht, denn – siehe oben – ein übertrieben langes Leben war niemandem ein großes Anliegen. Es herrschten einfach andere Götter damals, wie der Philosoph Robert Pfaller nie vergisst zu erwähnen: kleine, feine Götter der Sorglosigkeit und des Übermutes, wie sie die Antike kannte; Götter, die auch mal besoffen waren oder zu schnell unterwegs, und die das Risiko nicht scheuten. In der Rockmusik, die damals auch in unser Leben schwappte, ging die dazu passende Zeile so: Born to be wild. Irgendeinen Sinn musste das Leben ja haben.

Wir suchten weiter nach einem Sinn und wurden zwanzig Meter von dieser Gastarbeiterroute entfernt fündig, diesmal wirklich: In einer Art wildem Altpapierdepot, das dort in einem alten Schuppen untergebracht war. Kaputte Kühlschränke und Waschmaschinen verschwanden im Moor, aussortierte Printprodukte in diesem Schuppen. Dort fuhren wir nun immer mit dem Fahrrad hin, denn dort lag verdammt viel Content herum, wie man heute sagen würde. Und Content zieht Kinder an. Wir fanden dort, während wir rauchten, Schätze mit Namen Quick, Schlüsselloch, Wochenende, Praline oder – wenn wir ganz großes Glück hatten –: den Playboy mit Centerfold in der Mitte. Wir sahen Brüste! Angefeuchtete Lippen! Popos! Schenkel! Angehende Fetischisten sahen sogar Füße!

Dazu brauchte ich nicht mal meine Hand!

Die Pubertät ist eine Naturgewalt. Sie trifft einen wie eine Keule mit unglaublicher Wucht, und das Hirn wird noch einmal völlig neu zusammengebaut, so heißt es. Was Sex und Frauen anging, hatten wir bis dahin ja nur die Pfarrer, die uns die Kräfte der Natur austreiben wollten, und zwar mit dem Rohrstab. Ewiges Höllenfeuer dem, der auch nur daran denkt, sich „zu berühren“ (wie sie sagten)! Und noch ein paar Jahre länger für alle, die es auch tun!

Ich war 13, das weiß ich noch genau, und es muss ein Samstag gewesen sein, denn am Samstag wurde immer gebadet. Ich lag da also in der Wanne und hatte dieses Gottesgeschenk vor mir. (Jeder Mann denkt später, er hätte ein „Gottesgeschenk“ zwischen den Beinen. Aber hier meint Gottesgeschenk nur: Danke, lieber Gott, dass du es uns geschenkt hast, das Zumpferl!) Ich musste gar nicht viel tun, schon explodierte es. „Samenerguss“ sagten die Pfarrer dazu, aber das Wort beschrieb nur ungenügend, was passierte. Ich glaube mich zu erinnern, dass ich sogar weinte: wegen der ewigen Hölle, die nun vor mir lag (oder weinte ich doch vor Glück?).

Der österreichische Dramatiker Felix Mitterer hat gerade seine Autobiografie veröffentlicht, und eine der schönsten Szenen darin ist die, in der er von seiner ersten „Selbstberührung“ erzählt, in Tirol, wo sie so katholisch sind wie in Afghanistan muslimisch. Auch für ihn war es ein überwältigendes Erlebnis. Wir beide machten in der Folge einfach weiter, da es ja irgendwie auch schon egal war. Es gibt keine Steigerung von Hölle, das war uns bald klar.

Die Autorin Katja Lewina hat im vergangenen Dezember für das Magazin jetzt.de versucht, es sich 496-mal zu „besorgen“. Ich darf sagen: Das schaffte ich in einer Woche. Ach was, am Tag! Masturbation war unsere Rettung, entschieden ein Grund, sich nicht umzubringen. Ich musste nur irgendwo am Bauch herumliegen: Den Teppich, das Bett, die Decke, den Polster, die Schultasche. Dazu brauchte ich nicht mal meine Hand! Ich brauchte nur nach der Schule das Kinoprogramm der Tageszeitung zu lesen. Sobald ich zu den damals noch existierenden Sexkinos kam und zu den Filmen, die sie zeigten, ging es wieder los. Was für ein erfülltes Sexleben ich damals hatte: Katja Bienert (!), Bo Derek (!!) Brooke Shields (!!!). Und ja, ich war gut. Sie waren alle sehr zufrieden mit mir (und ich mit ihnen).

Wer masturbiert, kann niemandem wehtun

Gott weiß, wer das alles immer sauber machte (okay, ich weiß es auch: meine wunderbar verständnisvolle Mutter). Ich hätte damals neue Universen erschaffen können, Uranos war ein kleiner Schlaffi gegen mich. Erst recht, sobald das SW-Fernsehen mit der Formel 1 in unsere Wohnzimmer kam. Diese erlaubte uns eine grobe Einordnung der Dreifaltigkeit Zigaretten-Autos-Frauen. Bildungsfernsehen gewissermaßen. Denn wir sahen Außergewöhnliches: Sonnenbrillen, Koteletten, offene Hemden, Gold auf den Brusthaaren und ausgestellte Hosen bei den Männer. Und Frauen, wie wir sie bis dahin nur aus den Zeitschriften kannten. Es schien sie also wirklich zu geben! Man musste nur aussehen wie James Hunt, dann konnte man sie sogar „haben“. Eine Fluppe im Mund und ein schnelles Auto unter dem Arsch, mehr schien es nicht zu brauchen.

Die Hippies lagen vielleicht nicht ganz falsch mit ihrer Idee, die Welt durch ständigen ungeschützten und unbedachten („Wer bist du noch mal?“) Geschlechtsverkehr zu retten. Aber ausgereift war das nicht. Begegnungen mit anderen Menschen führen schließlich immer irgendwann zu Konflikten. Wer hingegen masturbiert, der kann niemandem wehtun, der kann nichts anstellen, der muss keinen Atomknopf drücken (dass man den Größten hat, das kann man sich ja immer noch vorstellen).

Masturbation gilt also zu Unrecht als nicht gesellschaftsfähig, jedenfalls in Kreisen, wo man gerne Jogginghose trägt: „Ey, du Wichser!“ kann man sich von solchen oft anhören. Die machen auf dicke Hose wie Trump, Putin, Erdoğan oder andere stets angespannte Prachtkerle dieser Güteklasse. Würden die sich öfter mal gemütlich um sich selbst kümmern und sich dabei entspannen, hätten wir ein paar Probleme weniger.

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