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„Der Krieg hat einen Sklaven aus mir gemacht“

 

Um dem Massaker von Srebrenica zu entkommen, floh der damals 18-jährige Emin ins Gebirge. Auch 22 Jahre später kann er die Angst, die Schreie, die Toten nicht vergessen.

Srebrenica: "Der Krieg hat einen Sklaven aus mir gemacht" | Freitext
Freiwillige tragen im Juli 2015 Särge mit identifizierten Opfern des zwanzig Jahre zurückliegenden Massakers von Srebrenica © Matej Divizna/Getty Images

Der Irrweg Emins begann am frühen Morgen des 12. Juli 1995. Tags zuvor war Srebrenica von der bosnisch-serbischen Armee eingenommen worden. Ihr Befehlshaber Ratko Mladić hatte am Stadtrand auf den Stufen eines Cafés angekündigt, als Revanche für 500 Jahre osmanische Besatzung die Enklave zu erobern, durchzumarschieren bis Bratunac. Zwischen diesem Dorf nahe der Drina und den Steinstufen, auf denen sich Mladić für die Kameras in Pose warf, lag in Potočari der Stützpunkt des niederländischen UN-Bataillons. Die von Blauhelmen errichtete Safe Zone, in der Abertausend großteils muslimische Menschen Schutz vor den anrückenden Truppen erhofften, würde in den folgenden Tagen und Nächten zum Mittelpunkt eines Kriegsverbrechens werden, das aufgrund seiner Ausmaße in der jüngeren Geschichte Europas eine unvergleichlich grausame Position einnimmt.

Zweiundzwanzig Jahre später sitzen wir in der bosnischen Stadt Ilijaš vor einer Tankstelle. An den Tischen neben uns Einheimische bei Kaffee oder Bier, regelmäßig heulen Motoren auf, brettert die hiesige Jugend in hochfrisierten Autos über die Hauptstraße, um der kleinstädtischen Ereignislosigkeit ein wenig Angeberei entgegenzuhalten. Emin erzählt, dass ihn die Meldung vom Fall Srebrenicas an der Front erreichte. Er stopfte das Nötigste in seinen Rucksack, nahm Gewehr und Munitionsgürtel und ging in den Wald. Wie eine Vielzahl seiner Kameraden hatte er Tuzla als Ziel, eine nordwestlich gelegene Stadt. Dorthin, ins Gebiet der eigenen Armee, wollten jene, die Srebrenica verteidigt hatten. In einer losen, Hinterhalten und Artillerieangriffen ausgesetzten und schnell zersplitterten, mehrere Tausend zählenden Kolonne versuchten sie, den waffenmäßig überlegenen Serben zu entkommen. Tuzla erreichten nur ein paar Hundert. Der Großteil wurde im Sommer 1995 in den Wäldern Ostbosniens gestellt und wie auch die in Potočari ausgesiebten männlichen Zivilisten – umgebracht.

 

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Srebrenica / Potočari, 10. Juli 2017 © Robert Prosser

Am ersten Tag seiner Flucht hörte Emin in der Ferne Schüsse, Schreie. Er kauerte sich hinter einen Baum, wartete, bis die Stille zurückkehrte. Er schlich voran, erreichte eine von Toten übersäte Lichtung. Zwischen leblosen, übereinandergeworfenen Körpern umhertappend, die von MG-Salven niedergestreckt worden waren, dachte Emin nicht ans Umkehren oder daran, dass die Mörder noch in der Nähe sein mochten. Dieser Anblick konnte nicht wahr sein, er musste im Wald einen falschen Schritt in eine albtraumhafte Parallelwelt getan haben, und er stolperte über die Toten auf den gegenüberliegenden Waldsaum zu, dem Versprechen der eigenen Rettung hinterher. Er gelangte in eine Schlucht, und auch dort Erschossene und Verletzte, aus dem Gebüsch und zwischen den Bäumen hervorrief oder flüsterte man ihm zu: „Hilf mir. Rette mich.“

Als Übersetzer begleitet mich Boris, den ich während der Recherche zu meinem Roman Phantome kennenlernte. Einer der Hauptcharaktere der Geschichte, die von Österreich bis nach Bosnien und von 1992 bis 2015 reicht, ist ihm und seinen auf bosnisch-serbischer Seite durchgestandenen Kriegserfahrungen nachempfunden. Gegen Ende des Abends werden sie ihre jeweiligen Erlebnisse teilen: Emin, der Muslim im Talkessel von Srebrenica, Boris, der im Vlašić-Gebirge stationierte Serbe, und es wird zu meiner Überraschung ein von beidseitigem Lachen unterbrochenes Darbieten von Anekdoten sein.

Anfangs verwundert es, wie anders Emin im Gegensatz zu unserem Kennenlernen wirkt. In Ilijaš, seinem Wohnort, begegnet uns ein gewöhnlicher Mittvierziger, von untersetzter, kräftiger Statur, mit kurz geschorenen Haaren und einem auffällig schüchternen Lächeln. Bei unserem Kennenlernen in der Woche zuvor, während der Trauerfeier zum 22. Jahrestag Srebrenicas, war er betrunken und aufgekratzt, selbstbewusst in einer unterschwellig aggressiven Art, nicht sonderlich verschiedenen von den restlichen Veteranen, die alljährlich anreisen, um vormalige Kameraden zu treffen und Gefallener zu gedenken. Gemeinsam mit den Frauen, die in Srebrenica ihre Väter, Brüder, Söhne und Gatten verloren haben, kehren sie zurück an einen Ort, der für sie aufgrund des Massakers und ihres eigenen Überlebens eine große Niederlage und einen kleinen Sieg verkörpert; sie tragen ihre alten Uniformen oder T-Shirts mit dem Emblem der einstigen Kampfeinheit, schwenken die Fahnen vergessener Kompanien und betrinken sich in den Ruinen zerstörter Häuser.

Mit Florian, einem an der Universität von Sarajevo lehrenden Germanisten, war ich am Abend des 10. Juli 2017 in Srebrenica eingetroffen. Am nächsten Tag würden 71 Tote beerdigt werden. Die schmalen, grünen Särge reihten sich nahe des Haupteinganges am Zaun der Gedenkstätte. 71 Gräber waren ausgehoben, daneben Erdhaufen und bereitgelegte Schaufeln. Vor einem der Marmorpfeiler kniete ein junger Mann und weinte laut. Ich erkannte ihn wieder, bereits zwei Jahre zuvor, als ich erstmals in Srebrenica gewesen war, kauerte er abends an diesem Grab. Seine Verzweiflung war mir in Erinnerung geblieben, das von Schluchzen unterbrochene Beten und die wütende Trauer durchschnitten erneut die über Boxen übertragenen Gebete der Hodjas. Der einzige Unterschied lag in seiner Kleidung: Damals trug er Militäruniform, nun war er in zivil. Wieder stand ich auf dem Friedhof, der Fabrik gegenüber, in der das niederländische UN-Bataillon stationiert gewesen war. Erst diesmal aber verstand ich, was die freien Stellen bedeuteten, die etliche der nach Familien geordneten Gräberreihen unterbrachen: Diese Lücken waren für jene bestimmt, die noch nicht gefunden oder identifiziert waren. Jede der gräsernen Leerstellen ein Mensch, auf dessen Entdeckung die Anverwandten weiterhin warteten.

 

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Srebrenica / Potočari, 10. Juli 2015 © Robert Prosser

Der etwa 50-jährige Betreiber einer in einem Garten improvisierten Bar servierte Jelen, serbisches Bier. Er erzählte, Teil der Kolonne gewesen zu sein und sieben Tage bis Tuzla gebraucht zu haben. Mit der gewissen Abgeklärtheit, die den Veteranen eigen war, zog er gemeinsam mit einem Trinkkumpan eine einfache Rechnung: neunzig Prozent der Serben waren in Ordnung, zehn Prozent dagegen waren Dreck. Diese schlichen nachts über die Front und entführten Frauen und Kinder, um sie im Wald zu töten und ihre Leichen morgens in Sichtweite zu platzieren. Ein Kollege der beiden kam hinzu. Der hier, sagte der Wirt, habe 45 Tage bis nach Tuzla benötigt. Auf Florian und mich wirkte es wie eine besondere Zeitrechnung: Jede Erzählung, jede Erinnerung richtete sich danach, wie lange man im Sommer ’95 in der Wildnis gewesen war. Es gibt Männer, winkte der Neuankömmling ab, die sich sechs Monate in den Bergen versteckt gehalten hatten. Er stellte sich als Emin vor. 18 war er zu Beginn des Krieges, 22 bei dessen Ende. Gestern war er angereist, hatte tagsüber dem Bruder, der unweit von hier in seinem Heimatdorf lebe, bei der Heumahd geholfen. Ein, zwei Stunden später erklärten wir uns rauschbedingt innige Freundschaft, zugleich lag ein Deal in der Luft: Emin war gewillt, mir seine offenbar einzigartige Geschichte zu erzählen, ich als Autor könne damit was anfangen, darin waren sich Wirt und Gäste einig. 200 Euro für die ersten 20 Tage, stellte Emin seine Konditionen klar, 300 für alles zusammen, den ganzen Wahnsinn seiner Flucht zum Pauschalpreis, und er schlug mit der Faust auf den Tisch. Wir tranken weiter, verhandelten, kamen schließlich überein, uns bald in Ilijaš, seinem Wohnort, zu treffen. Erst, soviel Sinn besaß ich im Suff immerhin, wollte ich mir ein bisschen was anhören, um selbst rauszufinden, ob seine Vergangenheit derart einzigartig war, wie in der provisorischen Kneipe behauptet wurde.

Mit etlichen anderen fand Emin in der Nacht des 12. Juli 1995 Unterschlupf in den Ruinen eines niedergebrannten Dorfes. 13 Tage wartete er vergeblich auf eine Möglichkeit, über Novo Kasaba hinaus zu gelangen. Dieser Ort bildete die Grenze: darüber hinweg, die Hauptstraße querend, und die Rettung wäre in Greifweite. Er sah, wie feindliche Soldaten Barrikaden errichteten und die Straße bewachten, er hörte, wie per Megaphon Sicherheit versprochen wurde. Er sah, wie sich manche davon aus dem Unterholz locken ließen. Wie sie durchsucht wurden und sich ein jeder, der ein Abzeichen der Armee besaß, egal ob der muslimischen oder der vormaligen jugoslawischen, hinknien musste und mit einem Kopfschuss getötet wurde. Nach 13 Tagen schloss Emin sich fünf Männern an, die nach Žepa wollten, einer weiteren von Bosniaken gehaltenen Enklave. Žepa versprach mehr Schutz als die Dorfruinen, die, so das wahrscheinlichste Szenario, bald von ihren Jägern entdeckt werden würden. Wieder gelangte Emin auf die Lichtung, die er zwei Wochen zuvor gequert hatte. Immer noch lagen die Toten dort, aufgrund der Sommerhitze bis zur Unkenntlichkeit gebläht. Seine Weggefährten suchten zwischen den Leichen umher, vergeblich darauf hoffend, in den verfallenen Körpern einen Hinweis auf einen Freund, einen Verwandten zu entdecken, während Emin auf eine junge Frau starrte, die an dem hohen Ast eines Baumes erhängt worden war. An sie, sagt er uns, kann er sich sehr gut erinnern, an ihre Kleidung, ihre Haare, das entstellte Gesicht. Sie war nicht hier gewesen, als Emin dieses Feld erstmals erreicht hatte, und er rief seine Kameraden zur Eile, wollte so schnell als möglich fort.

Wann hörte er auf, die Tage und Nächte zu zählen? 14, 15, 16. Er schloss sich der Verteidigung Žepas an. Am Ende einer schwer zugänglichen Schlucht gelegen, war Žepa im Verlauf des Krieges nie eingenommen worden, nach dem Fall Srebrenicas aber verstärkten sich die Angriffe von Mladić. Žepas Kommandant Avdo Palić brach auf zu Verhandlungen, die unter Aufsicht der UN geführt wurden, und verschwand nach deren Ende spurlos. (Es sollte 14 Jahre dauern, bis in einem Massengrab entdeckte Überreste eindeutig Palić zugewiesen werden konnten.) Die feindliche Übermacht rückte an und weil ein ähnliches Massaker wie in Srebrenica befürchtet wurde, schlug man sich erneut in die Wälder.

20, 21, 22. Emin glaubte den kursierenden Versprechungen nicht, den geteilten Hoffnungen: Ich habe einen Freund unter den Serben, er hilft mir, sagte einer. Und ein anderer: Sie werden uns nur einsperren, nichts sonst, sie werden uns gegen Gefangene eintauschen. Er erinnerte sich an den Brief seines Vaters, der mit der zweiten Ehefrau in Kroatien lebte und ihm schon vor Monaten geschrieben hatte: Wenn Srebrenica fällt, dann ergib dich nicht, sie werden dich foltern, töten, erschieß dich besser selbst. Einmal wurde Emin schwarz vor Augen, ein Schatten weitete sich zu grauem Nebel, innerhalb von Minuten war er blind. Ein Unbekannter nahm ihn bei der Hand und leitete ihn durch den Wald. Das Augenlicht kehrte zurück, der Mann, der ihn geführt hatte, verschwand im Chaos eines Hinterhalts. Die Schüsse aus dem Wald, die Schreie der Verwundeten und jener, die zum Angriff ansetzten. Die zurückgelassenen Verletzten und der Hunger, der sich nicht abschütteln ließ, nie reichten die unterwegs gefundenen Pilze und Beeren aus. Tagsüber stieg die Temperatur auf 40 Grad, man lag im Gebüsch und sehnte die kühlere Nacht herbei, verdrängte, dass es in der Dunkelheit kaum möglich war, im Gelände voranzukommen. Mal waren sie zu zweit, zu dritt, zu fünft, man verlor oder fand sich, alle vom Verlangen getrieben, ins eigene Territorium zu finden. Eine versprengte Armee verhungernder Männer, die durchs Gebirge irrte und jeden Tag, jede Nacht mit neuen Albträumen konfrontiert wurde, hinter sich Verfolger, die ihr diese Alpträume mit militärischem Kalkül bescherten, die Wildnis strategisch absuchten und eingebunden waren in einen rigiden Ablauf, mit Essenspausen, Wachablösen, Befehlsausgaben. Manchmal regnete es für Stunden, man kauerte unter einem Baum oder einem Steinbrocken, und wie die Nässe bis auf die Knochen sickerte, erschien die zuvor verfluchte Hitze als das weitaus angenehmere Übel.

23 Tage, 24, 25. An einem Berghang stößt Emin auf mehrere hundert Männer. Sie hatten Kühe und Schafe, aus serbischen Dörfern gestohlen. Jeden Tag wurden Tiere geschlachtet und das Fleisch gegrillt, niemanden kümmerte es, dass der Rauch sie verraten könnte. Endlich bekam Emin zu essen, bei der Erinnerung an den unerwarteten Fleisch-Segen lacht er auf, es war mehr, als er in sich zu stopfen vermochte. Dann das Unvermeidliche, die Serben kamen mit Maschinengewehren und Artillerie, Soldaten mit roten Bandanas, präzisiert er. Vor Angst irr gewordene Tiere hetzten über den Hang, ihnen nach die Männer, die sich vorm Beschuss in den Wald retten wollten oder hinter Steinbrocken gekauert, das Gesicht am Boden, um ein schnelles Ende beteten. Mit 16 anderen floh Emin in die Ruine einer Schule. Bereits zu Kriegsbeginn zerstört, war das Gebäude nach mehreren Jahren zugewachsen, verborgen hinter einem Wall aus Dornen und Sträuchern. Erneut verstecken und warten. Hungern und zusehen, wie Laster über die Straße rumpeln, auf den Ladeflächen die Gefangenen.

 

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Srebrenica / Potočari, 11. Juli 2017 © Robert Prosser

26, 27, 28. Unterwegs mit einem, der verrückt geworden war und einen Granatwerfer mitschleppte, ohne Munition dafür zu haben. Später erfuhr Emin, eine Mine habe den Jungen samt nutzloser Waffe zerfetzt, nichts sei mehr von ihm gefunden worden. Aber ich glaube, setzt Emin nach, es hat auch niemand nach ihm gesucht. Sie erreichten eine Lichtung, die von Papier übersät war, von weit weg war zwischen den Zweigen das helle Flackern zu erkennen. Auf den Briefen prangte das Emblem des Roten Kreuzes, adressiert waren sie an die Bewohner Žepas. Sie lagen als Hinweis verstreut, glaubte Emin: Aus Žepa Geflohene hatten die Rot-Kreuz-Nachrichten, die sie während der Belagerung von Verwandten oder Freunden erhalten hatten, hier für Nachfolgende hinterlassen, als Beleg, auf dem richtigen Weg zu sein. Oder man hatte sich ihrer entledigt, da alles, das nicht zum Überleben notwendig war, ausgemustert wurde. Emin etwa warf ein T-Shirt aus dem Rucksack, im Wald wog bereits dieses Kleidungsstück zu viel, jedes Gramm zählte auf der Flucht. Bald ließ er den Rucksack an einem Baum zurück, behielt nur das Gewehr und den Munitionsgürtel. Im Kopf der eine Gedanke, wiederholt er uns: Wenn die Serben mich entdecken, steck ich mir die Mündung in den Mund und drücke ab.

Einmal trank Emin aus einem Bach und als er am nächsten Tag wieder zur selben Stelle kam, da er versehentlich im Kreis gegangen war, lag in der Furt ein Toter. Ein anderes Mal kauerte er reglos im Gebüsch, spürte vor Müdigkeit die Mücken und Insekten nicht, die ihn umschwirrten und auf ihm krabbelten. Erschreckend nah hörte er die Stimme eines Verfolgers: Wieso müssen wir unseren Kopf riskieren, warum haben wir keine Hunde? Ein zweiter fragte zurück: Glaubst du nicht, man würde uns anklagen, wenn wir sie von Hunden töten lassen?

32, 33, 34. Mit mehreren anderen versuchte er, durch eine Schlucht zu gelangen, drüben, hieß es, wären sie sicher. Die Rettung, immer auf eine andere Hügelseite oder an den entfernten Rand eines Waldes verlegt, dort hinten, dort oben… Als sie die Schlucht erreichten, hörten sie lautes Hacken, Sägen. Heranschleichend erkannten sie serbische Soldaten, die einen Stützpunkt ausbauten. Zu viert krochen sie nachts am Posten vorbei, gelangten auf einen Hügel und von dort zu einer weiteren Schlucht. An deren Flanken standen zwei Bunker, getrennt von einem Steinfeld, das sie in der folgenden Nacht so leise als möglich durchquerten. Langsam, in die Dunkelheit geduckt, bereit, beim ersten Anzeichen von Alarm loszulaufen, um wider aller Wahrscheinlichkeit den aus den Bunkern zielenden MGs zu entrinnen. Kein Wachtposten bemerkte die Vier, in den frühen Morgenstunden kletterten sie einen Berg hoch, rasteten auf einer verwilderten Weide. In die umliegenden Baumstämme waren Namen geschnitzt, helle Zeichen in der dunklen Rinde. Unsere Namen, sagt er. Fahir, Salko, Mensur, Alija. Muslimische Namen, eingeritzt von jenen, die es vor ihnen an diesen Ort geschafft hatten, und die bezeugten, was Emin zu finden hoffte: Hier lag das Gebiet der bosniakischen Armee. 25. August 1995, sagt er, das war der Tag, an dem ich wusste, überlebt zu haben.

 

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Blick auf Srebrenica, 12. Juli 2015 © Robert Prosser

Es ist keine Rede mehr von den 300 Euro, die er für seine Geschichte wollte. Emin erzählt von der Zeit im Wald und Boris übersetzt. Auf der Busfahrt zurück nach Sarajevo wird dieser mir gegenüber anmerken, wie erschütternd er das Aufeinandertreffen empfunden hat; was er im Krieg erfahren musste sei nichts im Vergleich zu den Erlebnissen von Emin, der das Pech gehabt hatte, in einer der ostbosnischen, umkämpften Enklaven festzusitzen. Im Verlauf des Gesprächs wird deutlich, weshalb Emin in der Lage war, den 45 Tage währenden Irrweg durchzustehen. In den Jahren vor dem Fall Srebrenicas, erklärt er, war eine seiner Aufgaben, nachts über die Frontlinie zu schleichen, um serbische Dörfer zu attackieren. Wir haben die Drecksarbeit gemacht, sagt Emin. Wie die Typen, die im Müll stochern. Nichts Reguläres, eher Sonderaufgaben, wenn die normalen Jungs nicht fähig waren, taktische Ziele zu erreichen. Eine Elite-Hitmen-Group, sagt er und lacht. Manchmal waren sie für Tage im Hinterland unterwegs, um feindliche Stellungen auszuschalten, die Drina im Rücken auf den richtigen Moment zum Angriff wartend.

Es lässt sich auf eine einfache Aussage runterbrechen: Er war jung und drückte ab, wenn es hieß, man solle schießen. Er führte die Befehle aus, hinterfragte nichts, hatte höchstens im Sinn, sich vor den Kameraden als Mann zu beweisen. Ähnlich einfach ist die Bilanz, die er mehr als 20 Jahre später ziehen kann: Der Krieg hat ihm ein ärmliches Leben beschert, manchmal scheint es ihm ein gänzlich vergeudetes. Er hat eine schlechtbezahlte Arbeit im Sägewerk, kommt abends auf ein Bier zur Tankstelle, besucht einmal jährlich Mutter und Bruder, die den zerstörten Hof wieder aufgebaut haben. Er selbst will nicht mehr zurück in das Dorf, das zur Hälfte aus Ruinen besteht, niemand kümmert sich um die Häuser jener Familien, die in Massengräber oder ins Ausland verschwunden sind.

Kurz nach dem Krieg errichtete die niederländische Regierung in Ilijaš Notunterkünfte für Vertriebene – für Emin damals eine willkommene Möglichkeit, Abstand zu Srebrenica zu gewinnen. Mit seiner Familie lebt er immer noch im billig erbauten Provisorium, die temporäre Wohnlösung wurde ungewollt eine dauerhafte. Der Krieg hat einen Sklaven aus mir gemacht, sagt er. Gelegentlich spricht er mit seiner Frau darüber, nie jedoch mit seinen zwei jugendlichen Kindern. Neugierig wären sie, ja, aber er schafft es nicht, ihnen zu erzählen, was er gesehen und getan hat. Lange verschwendete er keinen Gedanken daran, hakte es ab als unabänderliche Erfahrung. Vielleicht, weil er damals jung und unbekümmert gewesen war, mutmaßt Emin, vielleicht war das der nötige Schutz, um selbst den Krieg zu überstehen. Je älter er aber wird, umso häufiger quälen ihn Albträume, vergessen geglaubte Episoden, zu wiederkehrenden Schreckbildern verzerrt. Ich hab einen Schaden, sagt er und tippt sich an die Schläfe.

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