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Die Einsamkeit im sechsten Stock

 

Unsere Autorin ist Schriftstellerin und arbeitet nebenher als Fußpflegerin in Marzahn. Im Frühling blühen dort die Kirschbäume, die Hasen hoppeln. Aber die Idylle trügt.

Marzahn - Die Einsamkeit im sechsten Stock
© Lena Mucha für ZEIT ONLINE

Dieser Text ist Teil unserer Miniserie „Fußpflege in Marzahn“. Alle Folgen finden Sie hier.

Das ganze Jahr über weht in der Ostberliner Plattenbausiedlung Marzahn ein kräftiges Lüftchen. Ich erkläre mir das mit der Nähe zum flachen Brandenburger Umland, über das die gefürchteten sibirischen Fallwinde hinwegsausen, um mit unzähmbarer Wucht direkt in Marzahn einzufahren, sich zwischen den Hochhausriesen in Windkanälen zu bündeln und alles, was nicht mit vollem Heimwerkereinsatz festgelötet ist, von den Balkonen zu fegen – Sitzkissen, Geranienkästen, Sonnenschirme.

Im Mai sprießt und grünt es in Marzahn und schäumt in allen Tönen zwischen den Hochhäusern hervor. Auf der Wiese vor dem Studio, in dem ich als Fußpflegerin arbeite, stehen Kirschbäume. Im April erblühten sie in üppigem Weiß, bis der Wind die Blütenblätter wie Schneeflocken über die Wiese trieb. Bald werden die Früchte reif sein und lauter Vietnamesen anlocken, Leichtgewichte, die in den Ästen herumklettern, um kostenlos zu ernten. Ein Taubenpaar wohnt hier, und abends, wenn es dunkel geworden ist, hoppeln Feldhasen durchs Gras.

Meine Chefin – ich nenne sie Tiffy – ist sechs Jahre älter als ich, eins achtundfünfzig groß und trägt einen Bob mit ausrasiertem Nacken. Alles, was Tiffy erlebt, erlebt sie hier, denn sie ist immer im Studio, Montag bis Freitag, Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr. Tiffy bietet Kosmetikbehandlungen, Massagen und Fußpflege an. Ich komme mittwochs und freitags und unterstütze sie in der Fußpflege. Tiffys Arbeitstage gehen nicht selten von acht bis zwanzig Uhr, aber reich wird sie davon nicht. Tiffys Lohn sind zufriedene Kunden und ein prall gefülltes Terminbuch.

Arme, Augen, Münder aufgerissen

Im Frühling bleiben Tiffy und ich gern für einen Moment in der geöffneten Tür stehen, wenn wir unsere Kundinnen verabschiedet haben. Wir schlürfen an unseren Kaffeepötten, halten die Nasen in die Sonne oder schauen den Passanten zu. Tiffy kennt viele von ihnen mit Namen und grüßt sie, zum Beispiel die beiden Lesben, die auf der Wiese vor unserem Studio regelmäßig mit ihren bulligen Hunden Gassi gehen. Kinder mit Schulranzen und Sportbeutel trödeln durchs Gras, Omis zuckeln an Rollatoren vorbei, Berufstätige schleppen Einkäufe nach Hause. Junge Frauen schieben Kinderwägen, und manchmal düst meine Kundin Frau Blumeier, den Fahrtwind im Haar, in ihrem schnittigen Elektrorollstuhl um die Ecke und winkt uns. Tiffy und ich amüsieren uns über den Anblick und winken fröhlich zurück. Schon empfangen wir unsere nächsten Kunden; die Tür geht zu, die Arbeit weiter und leicht von der Hand.

Es war im Mai vor drei Jahren, an einem späten Mittwochnachmittag. Ich fegte den Fußpflegeraum. Im Bad nahm ich die Instrumente aus der Desinfektionslösung und spülte sie ab. Bis mein nächster Kunde erschien, blieben mir zwanzig Minuten. Tiffy bearbeitete in ihrem Raum den Rücken von Frau Kunkel, die sich jede Woche eine Massage gönnte, und ich trug gerade die Instrumente zurück in den Fußpflegeraum, als es an die Tür donnerte. Ich eilte in den Eingangsbereich, auch Tiffy kam angelaufen, die Hände voller Massageöl. Vor der Scheibe sahen wir das lesbische Pärchen mit den bulligen Hunden. Die Lesben fuchtelten mit den Armen, Augen und Münder aufgerissen, die Hunde zerrten an den Leinen, stellten sich auf die Hinterbeine, bellten.

Tiffy öffnete. „Einen Krankenwagen!“, riefen die Lesben. Eine Frau sei aus dem Haus gesprungen, die Hunde hätten den Aufprall gehört und angeschlagen. Wir rannten aus dem Studio und um die Ecke, wo uns der Wind entgegenpeitschte. Da lag sie, die Frau, wie eine weggeworfene Puppe, an der Hinterseite des Achtzehngeschossers, vier oder fünf Meter von der Wand entfernt, neben einem Gullydeckel. Wir rannten zurück ins Studio; ich griff nach dem Telefon, drückte die drei Zahlen, reichte Tiffy den Hörer. „Hier hat sich eben eine Frau aus dem Hochhaus gestürzt“, rief Tiffy, nannte ihren Namen und die Adresse des Studios.

„Sie atmet noch!“

Frau Kunkel kam auf Socken aus dem hinteren Raum und zog sich im Laufen ihren Pulli über. Wir rannten zu dritt aus dem Studio. Wir sollten nichts anfassen, nur Passanten fernhalten und umleiten, instruierte uns Tiffy. Da standen wir an der Ecke des Punkthochhauses im Wind: zwei Lesben, zwei Hunde, Frau Kunkel, Tiffy, ich. Etwa zwanzig Meter trennten uns von der Frau. Sie lag auf dem Bauch, leicht gekrümmt, ein Bein angewinkelt. Sie trug einen Rock, keine Schuhe. Ein Fuß war seltsam verdreht. Das T-Shirt war hochgerutscht und gab den Blick auf den BH-Verschluss frei. Die Arme lagen locker neben dem Körper. Das Gesicht, begraben unter einem Wust lockiger dunkelblonder Haare, war nicht zu sehen. Man konnte meinen, sie würde schlafen. Leute, die vom Einkaufen kamen und den Trampelpfad über die Wiese nahmen, schickten wir um die Vorderseite des Hauses; hatten sie Kinder dabei, versperrten wir ihnen die Sicht. Immer wieder sahen wir zu der Frau hin, als müssten wir sie bewachen. Tiffy sagte plötzlich: „Sie atmet. Sie atmet noch!“

Ich ertrug das Herumstehen nicht länger. „Vielleicht finden sie uns nicht“, sagte ich und rannte zur Straße. Eine Minute vielleicht, die mir wie eine Stunde vorkam, hielt ich Ausschau nach einem Wagen mit Blaulicht. Endlich sah ich einen, der sich im Schritttempo näherte. Ich winkte mit ausgestreckten Armen, der Krankenwagenfahrer ließ die Scheinwerfer zweimal aufflackern. Ich lotste ihn in eine Einfahrt. Sanitäter stiegen aus. Sie fragten, ob ich Krankenschwester sei, wohl wegen meiner weißen Kleidung. Ich verneinte. Die Polizei fuhr vor. Ob ich okay sei, fragte eine junge Polizistin. Ich bejahte. Die Polizisten sperrten den Ort mit Flatterband ab. Dahinter staute sich ein Häuflein Schaulustiger. Die Sanitäter knieten sich neben die Frau und untersuchten sie behutsam. Ich wandte mich ab, wollte nicht in ihre Gesichter sehen; gleich würde darin lesbar, was Fakt war. Die junge Polizistin befragte die Lesben und machte sich Notizen. Die Frau wurde mit einer Plane abgedeckt. Alles lief mit minimalem Aufwand ab, ohne jedes Aufsehen, ruhig und routiniert. Die Polizisten baten die Schaulustigen und uns, den Platz zu verlassen. Gehorsam löste sich das Menschenhäuflein auf. „Tschüss“, sagten die Lesben und gingen zögerlich mit ihren Hunden davon.

Ich empfing Herrn Schwarz, einen dickbäuchigen Maler mit viel Hornhaut, tiefen Rhagaden und einem Goldkettchen um den Hals. Ich erzählte ihm, was eben passiert war. Herr Schwarz sagte, es gebe eben immer wieder Idioten, und sprach von seinem bevorstehenden Urlaub in der Türkei. Er wolle sich dort in der Sonne aalen und sich für wenig Geld das Gebiss sanieren lassen.

Humpelnd, ein Bein nachziehend

Am Abend, nachdem unsere letzten Kunden gegangen waren, räumten Tiffy und ich auf, putzten und machten die Abrechnung. Wir zogen uns um, schlossen die Fenster, löschten die Lichter. Wir verließen das Studio und gingen zur Hausecke. Nichts war zu sehen, kein Flatterband, kein Blutfleck. Wir verabschiedeten uns. Ich ging zur Haltestelle der Straßenbahn, wo ich mich umdrehte und am Achtzehngeschosser emporblickte. Dem Aufprallort nach zu urteilen, war sie nicht aus einer Wohnung gesprungen, sondern von einem der kleinen Balkone, für jedermann über das Treppenhaus zugänglich. Oder war sie gar nicht gesprungen? Hatte der Wind die Frau vom Balkon gerissen? Wieso hatte Tiffy gemeint, dass die Frau noch atmete? Gibt es dieses letzte Aushauchen, ein finales Erschlaffen, wenn alle Muskeln versagen, alle Spannung aus dem Körper weicht, die Organe ihre Arbeit einstellen? Wenn das Herz aufhört zu schlagen?

In den Tagen und Wochen darauf trug die Kundschaft Verschiedenes über die Tote zusammen: Sie sei eine Russin gewesen, keine vierzig Jahre alt. Habe allein in einer kleinen Wohnung im sechsten Stock gelebt, zu niemandem Kontakt gehabt, mit niemandem gesprochen. Vom Sehen hatten viele die Frau gekannt. Sie sei öfter durch das Wohngebiet gelaufen, humpelnd, ein Bein nachziehend. „Die ist schon mal gesprungen“, sagte Tiffy. „Hat nicht geklappt. Wahrscheinlich nicht hoch genug. Davon hat die das kaputte Bein behalten.“

Jetzt ist wieder Mai. Die Tauben turteln, die Hasen hoppeln, der Wind weht. Tiffy ist noch immer nicht reich. Das Terminbuch ist noch immer prall gefüllt. Bald kommen die Vietnamesen, klettern in den Bäumen herum und ernten die reifen Kirschen. Wenn ich vor dem Studio stehe und in die Sonne blinzle, bleibe ich dicht an der Hauswand. Wenn ich den Müll wegschaffe, mache ich einen Bogen um die Stelle neben dem Gullydeckel. Ich grüße, wenn sie mit den Hunden ihre Gassirunden auf der Wiese drehen, die beiden Lesben.

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