Was soll das heißen: politikverdrossen? Bei den Temperaturen kann eben niemand mehr denken. Aber unsere Autorin hat eine Idee, wie der Sommer das Land umkrempeln könnte.
Seit vier Wochen herrscht in Berlin der Ausnahmezustand. Viel, viel zu früh viel, viel zu warm. Eben noch blühten die Pfingstrosen, schon beginnen die Wiesen auszutrocknen. Sie sind hellbraun und es riecht nach Spätsommer. Es herrschen meistens über 30 Grad, die armen geplagten Preußen seufzen schwer. Männer, puterrot und in kurzen Hosen, sitzen geschwächt unter blühenden Linden. Ihre Frauen, allergisch wegen der Pollen, niesen sich die Seele aus dem Leib. Sie haben angeschwollene Füße und die Lacksandalen graben sich ein in das geschwollene Fleisch.
Der Getränkehandel hat jetzt schon Mühe mit der Wasserlieferung. Man muss ja viel trinken.
Zustände wie in Athen, allerdings ohne Klimaanlagen. Die gibt es nur in den Kaufhäusern, aber der Berliner ist traditionell nicht gut bei Kasse, also bleibt er lieber draußen sitzen und schwitzt vor sich hin, am Paul-Lincke-Ufer oder Rosa-Luxemburg-Platz.
Vor lauter Hitze hat man den Skandal um die Volksbühne schon fast vergessen, dabei ist das Versagen der politischen Elite kaum zu toppen. Und war dazu auch noch vorhersehbar. Jetzt dümpelt dieses schöne Theater herrenlos vor sich hin und niemand weiß, wie es weitergehen soll.
Selbst bei der Gegendemo zum AfD-Aufmarsch kam es zu keinen großen Krawallen, es war einfach zu heiß.
Ich fürchte, wir werden uns an diese neuen Temperaturen gewöhnen müssen, sonst bleiben wir politisch auf der Strecke.
Neulich war ich bei unserem Bundespräsidenten eingeladen, es ging um Demokratie, was sonst?! Und um die Gleichgültigkeit gegenüber allem Politischen. Frank-Walter Steinmeier macht sich Sorgen. Und ich kann das gut verstehen. „Ohne mich!“ sei die Devise vieler Bürger geworden. Statt „mit mir“ und „mit dir“ würde sich eine verdrossene Antipolitikhaltung breitmachen, die – von Populisten ausgenutzt – die Demokratie sehr gefährde.
Vielleicht ein Kochkurs
Vielleicht ist die politische Müdigkeit auch auf die hohen Temperaturen zurückzuführen? So ließe sich manches an Italiens Desaster erklären. In Rom ist es ja schließlich auch sehr, sehr warm.
In genau diese Phase ist das jährliche Abitur gefallen. Mein Sohn ist dieses Jahr mit dabei.
Seit über zwei Monaten hat er, haben die Abiturienten keine Schule mehr, sollen sich freiwillig und selbständig auf die Prüfungen vorbereiten. Das geschieht wahlweise auf einer Rave-Party am Gleisdreieck oder auf der Liegewiese an der Krummen Lanke. Freibad Weißensee selbstverständlich auch.
Gegen 15 Uhr wecke ich meinen Sohn, frage, ob er vielleicht irgendetwas lernen müsste. Er lächelt müde. Die Hitze, die Hitze. Eigentlich ist es ein Skandal, die Jugendlichen – denn die meisten Abiturienten sind wegen der verkürzten Schulzeit noch minderjährig – so strukturlos hängen zu lassen.
Wenn man sie schon nicht beschulen will, weil sie schon alles wissen … So könnte man ihnen in dieser Zeit einen Schreib- oder Kochkurs anbieten oder sonst etwas wirklich Lebenstaugliches.
Aber nein. Man überlässt sie sich selbst in der Hoffnung, sie würden alleine üben. Von wegen. Und dann diese Temperaturen.
Natürlich wird zwischendurch auch mal kurz zu Hause gelernt. Die Lider schwer, die Fenster weit aufgerissen, kaum ein Lufthauch. Der Wunsch, sich dem südländischen Mittagsschlaf hinzugeben und erst wieder in der Dämmerung in die Bücher zu schauen, ist überwältigend.
Berlin von unten revolutionieren
Es ist dummerweise noch sehr lange hell und die Sonne spiegelt sich verführerisch auch um 22 Uhr auf den Berliner Seen. Also nichts wie raus, eine Runde baden.
Niemand versteht den Sog des Sommers besser als ich. Keine Strümpfe mehr, schöne neue Sandalen, sich bei Morgengrauen im Schlachtensee abkühlen, um Mitternacht auf dem Balkon Aperol Spritz trinken … Aber ich mache ja auch kein Abitur!
Berlin im Sommermodus.
Strandbäder, Eisdielen, Straßencafés machen einen Bombenumsatz. Mann trägt Sommerhüte und weiße Leinenhosen. Es sieht aus wie auf Zilles Zeichnungen, nur leider werden dieses Jahr nur sehr wenige durchs Abitur kommen und die, die es dennoch schaffen, werden kaum den Numerus Clausus erreichen. Wir werden also einen Jahrgang haben ohne Ärzte und Psychologen, ohne Architekten und Informatiker.
Es war in der entscheidenden Phase einfach zu warm für den Norden. Zu warm für gute Noten.
Vielleicht gar nicht so schlimm, es gibt sowieso zu viele Ärzte in Berlin und zu wenig Pflegepersonal. Und hat nicht Handwerk goldenen Boden?
Die Berliner Abiturienten werden dieses Jahr in die Betriebe gehen und arbeiten. Wie einst in der seligen DDR. Sie werden Schreiner werden, Krankenschwester und Steuerfachfrau. Sie werden Berlin von unten revolutionieren und zwar nur, weil es ein historisch warmer Mai gewesen ist.
Vielleicht werden sie auch in die Politik gehen und Frank-Walter unter die Arme greifen bei der Erhaltung der Demokratie. Sie haben schließlich hitzefrei.
Kurzum: Die Erderwärmung stellt uns und unsere Abiturienten vor neue Aufgaben, und wir werden die Ersten sein, die sie lösen werden. Sobald es anfängt zu regnen …
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